Eine Weihnachtsgeschichte

Liebe Muttenzerinnen und Muttenzer

Ich weiss Sie erwarten von mir jetzt ein weiteres Schreiben zu den Wahlen. Ich kann Sie aber beruhigen, dem ist nicht so. Wie Sie vielleicht von mir wissen, ist das Surfen im Internet eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. So habe ich vor etwa 3 Wochen eine ältere Dame - sie heisst Mary - aus den USA im Netz getroffen, welche mir folgende Geschichte von Ihrer Familie und Ihrem verstorbenen Mann Mike erzählte. Da mich diese Erzählung ziemlich nachdenklich stimmte und auch innerlich bewegte, möchte ich sie Ihnen nicht vorenthalten.

Nur ein weisser Umschlag

Es ist nur ein kleiner, weisser Umschlag, der zwischen den grünen Zweigen des Weihnachtsbaumes steckt. Kein Name darauf, kein Absender und kein Hinweis, von wem er stammt. Und dieser Umschlag steckt seit etwa 10 Jahren immer wieder in unserem Tannenbaum.

Alles begann, weil mein Mann Mike Weihnachten hasste - oh, nicht den wahren Sinn von Weihnachten, nur den kommerziellen Aspekt davon. Das wahnwitzige Gerenne in letzter Minute, um eine Kravatte für Onkel Harry zu ergattern, eine neue Wärmeflasche für Grossmutter oder einen Seidenschal für Tante Trudi. Alles Verlegenheitsgeschenke, weil einem nichts besseres einfiel. Ich wusste, dass Mike dies nicht mochte und so beschloss ich, die üblichen Pullover, Kravatten und Socken zu vergessen. Ich suchte nach etwas Speziellem nur für meinen Mann Mike. Und auf einmal hatte ich eine Eingebung besonderer Art.

Unser Sohn Kevin, der in diesem Jahr 12 wurde, war Mitglied des Ringerclubs. Kurz vor Weihnachten veranstaltete dieser Club einen Wettkampf gegen ein Team unserer Kirche, welches zum grössten Teil aus schwarzen Jugendlichen bestand. Diese Jungen, welche in ausgelatschten Schuhen und zerrissenen Kleider erschienen, bildeten einen scharfen Kontrast zu unseren Kindern in ihren blau-goldenen Uniformen und neuen Ringerstiefeln.  Als der Match begann, erschrak ich, als ich sah, dass das fremde Team ohne Kopfschutz spielte, ein Schutz, der hilft, Ohrenverletzungen zu vermeiden. Das war ein Luxus für das Gastteam. Sie hatten schlicht kein Geld, um sich so etwas zu leisten. Unser Team bezwang die fremden Jungs klar und deutlich. In allen Gewichtsklassen holten unsere Ringer den Sieg. Und den Jugendlichen von der gegnerischen Mannschaft blieb nichts anderes übrig, als mit dem Stolz des Unterlegenen den Gewinnern zu gratulieren. Mike sass neben mir und schüttelte traurig seinen Kopf. Er sagte, er wünschte, dass wenigsten einer von ihnen gewonnen hätte. Sie hätten ja so viel Potential und guten Willen, aber diese klare und deutliche Niederlage könnte ihnen das Herz brechen.

Ja, Mike liebte Kinder und er kannte sie in seiner Eigenschaft als Lehrer sehr gut. Es war dieser Moment, als mir die richtige Idee für sein Weihnachtsgeschenk kam. Noch diesen Nachmittag ging ich in ein Sportgeschäft und kaufte diverse Ringerhelme und Ringertenues und schickte sie anonym an das fremde Team. Am Weihnachtsabend steckte ich einen Briefumschlag in unseren Weihnachtsbaum, in dem ich Mike erklärte, was ich getan habe und dass dies mein Geschenk an ihn wäre. Als er es öffnete, erhellte ein strahlendes Lächeln sein Gesicht, dieses Weihnachten wie auch die folgenden. Ich fuhr fort, mit der sozusagen von mir ins Leben gerufenen Tradition und unterstützte jedes Jahr eine Gruppe von Mitmenschen, welchen es nicht so gut ging wie uns.

Der Briefumschlag wurde so zu dem Höhepunkt unseres Weihnachtsfestes. Es war immer der letzte Akt unserer Weihnachtsfeier, als wir den Umschlag öffneten. Unsere Kinder standen um den Baum, ignorierten ihre geschenkten Spielsachen und standen erwartungsvoll da, als ihr Vater den Umschlag öffnete und den Inhalt vorlas. Unsere Kinder wurden älter und die Geschenke warden immer mehr praktischer Natur. Aber der Briefumschlag verlor in all den Jahren nie seine Bedeutung.

Die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Mein Mann Mike starb vorletztes Jahr an Krebs. Ich war so in Trauer und depressiv, sodass ich an Weihnachten kaum den Weihnachtsbaum schmücken konnte. Aber trotzdem steckte ich an Heilig Abend einen Briefumschlag in die Zweige. Und an Weihnachten waren da plötzlich noch drei weitere. Jedes unserer Kinder, ohne dass sie sich abgesprochen hatten, hat einen eigenen Umschlag in den Baum gesteckt. Die Tradition ist gewachsen und wird sicher auch weiterwachsen mit meinen Enkelkindern, welche auch voller Erwartung darauf warten werden, wie ihr Vater den Umschlag öffnet. Der Geist meines Mannes wird dann stets mit uns sein, wie der Geist von Weihnachten.

Diese Geschichte hat mich gerührt und sehr nachdenklich gestimmt. Ich habe mir gedacht, dass diese, ein wenig andere Weihnachtsgeschichte Sie interessieren könnte.

Ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.

Andreas Meyer