Geschichten der Re 6/6

 

 Ein Lokführer erzählt:

 Rückblick auf 67'000 Kilometer mit der Re 6/6

[Franz Eberhard]

 Es war im Herbst 1972, als ich im Lokomotivdepot in Winterthur meine erste Begegnung mit einer Re 6/6 hatte, in einem offen stehenden Remisentor erweckte eine, einer „Bo’Bo“ ähnlichen Maschine, meine Aufmerksamkeit. Was mich aber stutzig machte – war die hohe Stirn dieser Lokomotive. Dazu wollten die rechteckigen Puffer ebenfalls schlecht zu einer Re 4/4 passen. Beim Näherkommen stellte ich fest, dass es sich um die neue Re 6/6 11602 handelte. Sie zog einem mit ihrer beeindruckenden Grösse sofort in ihren Bann. Leider blieb mir aber ein näherer Augenschein verwehrt. Zu viele Herren in dunklen Anzügen und Krawatten oder Berufsschürzen umschwärmten die Lokomotive. Trotzdem versuchte ich mir bereits vorzustellen, was wohl für eine Kraft in dieser mächtigen Maschine stecken müsste und wie sie wohl zu fahren sei. Doch bis es soweit war, sollte in der Folge noch einiges Wasser den Rhein hinunterfliessen.

 Im Jahre 1975 war es dann endlich soweit. In einer lediglich zweistündigen Instruktion wurden wir über die wesentlichen Aenderungen der Re 6/6 gegenüber einer Re 4/4 II instruiert. Ein kurzer Rundgang durch die Lokomotive bildete den Abschluss, ohne dass wir dabei die Lokomotive auch nur einen Meter bewegt hatten.

 Nach weiteren zwei Monaten kam dann der grosse Tag. Der in unserem Dienstplan an einem Samstag eingeteilte Güterzug 41046 von Erstfeld nach Basel sollte planmässig mit einer Re 6/6 bespannt sein. Deshalb begleitete mich schon auf der Hinfahrt die Frage: Kommt sie oder kommt sie nicht? Aber bereits während der Einnahme des Nachtessens in der Milchküche (Personalrestaurant) wurde ich ans Telefon gerufen. „Sind sie auf dieser Lok instruiert und kundig, ansonsten hätte ich einen Erstfelder-Lokführer“, fragte mich der Fahrdienstbeamte. Als ich kurze Zeit später auf den Führerstand der Re 6/6 11635 „Muttenz“ empor stieg, befiel mich zwar schon ein kleines Kribbeln – genauso wie eben Jahre zuvor in Winterthur. Es war ein langer schwerer Lebensmittelzug den ich zu fördern hatte. Sehr faszinierend empfand ich die Zugkraft und angenehm die Zugskontrolle durch die beidseitigen Rückspiegel. Um so gewohnheitsbedürftiger dafür das Ablesen der Geschwindigkeit vom Bandanzeigegerät. Die Fahrt verlief aber ohne jegliche Probleme, wäre da nicht besonders im unteren Geschwindigkeitsbereich immer wieder ein Geräusch gewesen, das durch den Führerstandsboden zu mir hoch drang. Ein kurze Unsicherheit befiel mich, „du hast doch die Lok nicht etwa verschliffen“, fragte ich mich? Denn von der Polygonbildung an den Rädern der Re 6/6 war uns damals noch nichts bekannt. Und die Lok stand schliesslich erst wenige Monate im Einsatz. So schwang in meiner ersten positiven Stimmung diese neue imposante Lok nun endlich gefahren zu haben, ein fast schlechtes Gewissen mit, obwohl ich mich unschuldig fühlte.

 Mit jeder kleineren oder grösseren Fahrleistung stieg aber das Vertrauen und die Sicherheit in diese Lokomotive. Denn trotz vielen Neuerungen war die Technik durchaus überschaubar. Weitere unvergessliche Momente waren dann die erste Fahrt mit der Re 6/6 11641 „Moutier“ des Kreises I (Depot Lausanne) mit Zug 204 von Thun nach Basel – mit einer Laufruhe, dass man zu schweben glaubte. Ebenso die erste Fahrt in Vielfachsteuerung – als Herr über 21'200 PS! Bezüglich der Störanfälligkeit konnten die Re 6/6 allerdings mit der Ae 6/6 oder der Re 4/4 II nie mithalten. Trotzdem musste ich in der langen Zeit nur gerade ein einziges Mal einen „ausserordentlichen Halt“ vollziehen.

 So unerwartet die erste Begegnung damals in Winterthur gewesen war, so vollzog sich auch der Abschied. Im Sommer 1999 musste ich, aus gesundheitlichen Gründen, unerwartet rasch meinen Beruf aufgeben und in Pension gehen. So stieg ich nach der Führung des EN „Roma“ von Bern nach Genf, am 5.Juli 1999 von der Lokomotive 11645 herunter, ohne die geringste Ahnung zu haben, dass dies bereits meine letzte Fahrt auf einer Re 6/6 gewesen war..