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Die rote Weihnachtsblume

Weihnachten wird in den moslemischen Regionen Afrikas nicht gefeiert und auch nicht in jenen Gegenden, die durch Krieg und jahrzehntelangen Terror den Kontakt zu christlichem Gedankengut verloren haben. In Flüchtlingslagern mag sich vielleicht jemand dieses Tages erinnern, sofern er das aktuelle Datum kennt. Draussen in Regionen, in denen sich zerschossene Ruinen über das graubleiche Trockengras erheben wie faule Zähne, ist dieser Tag wie jeder andere: die Sonne erhebt sich, es wird heiss und die Suche nach Wasser und Nahrung nimmt die Energie des Tages. Abends fallen die Moskitos ein.

Ich war um die Weihnachtszeit in einem Camp der Minensucher. Das sind ehemalige Militärs unterschiedlicher Nationalität, die in Kriegsregionen Minenfelder räumen. Ich teilte das Militärzelt mit einem Südafrikaner, der kettenrauchend auf seiner Matratze lag. Da waren zwei Moskitonetze über simple Holzgestelle montiert, in der Mitte brannte eine Kerze und an der Wand hing ein zersplitterter Spiegel und ein Wassersack. Es war stickend heiss. Wir redeten und im Spiegel war ich nie sicher, ob ich sein Gesicht sah oder meines. Wahrscheinlich gab das Spiegelmosaik beide Gesichter wider und letztlich war das auch egal, denn die erzählende Stimme wurde zunehmend brüchiger.

Ich kam zu diesen Ruinen. Die drei Betongebäude waren zerbombt, kein Dach, kein Fenster, kein Leben. Dies musste eine Schule gewesen sein, die sind ja immer etwas ausserhalb der Dörfer gebaut. Während des Krieges wurden die Schulen ausnahmslos zu Militärlagern umfunktioniert. Ich stellte mich unter einen Baum in den Schatten. Es war flirrend heiss, Mittagszeit. Niemand war da. Ein paar Vögel kreisten hoch oben auf der Suche nach Aas. Dann bemerkte ich einen Kinderkopf, der schüchtern hinter einer Mauer hervorguckte. Ich lächelte dem Gesicht zu und nur zögerlich kam die dürre Figur näher. Es war ein Mädchen von vielleicht acht Jahren. Es war schmutzig und von seinen knochigen Schultern hing ein zerschlissenes Hemdchen. Ich hatte Biskuits mit dabei und streckte ihm welche hin. Das magere Mädchen kam zwar aus seinem Versteck hervor, wagte sich aber nicht heran. Also legte ich ein paar Biskuits und meine Wasserflasche ein paar Meter vor mir auf den Boden und lehnte mich wieder an den Baum. Zögerlich kam das Mädchen heran, umfasste mit beiden Händchen die Biskuits und führte sie zum Mund. Erst knabberte es daran, es kannte wohl den Geschmack von Biskuits nicht. Doch dann schob es die Biskuits in den Mund und kaute, bis es hustete. Es sprach kein Wort. Ich gab alle mir bekannten Wörter in der Lokalsprache von mir, aber es reagierte nicht. Schliesslich sang ich ein Lied, so falsch es tönte, aber das Mädchen lächelte nun. Es setzte sich drei Meter vor mir in den Sand und blickte mich einfach an. An den Beinen hatte es schlecht verheilte Brandnarben und eine Schramme zog sich von der Stirn über seine Wange. Das rechte Augenlid öffnete sich nur halb. Es gibt viele solcher Kinder. Kriegswaisen, Vertriebene, ohne Familie, ohne Heimat. Sie wandern herum auf der Suche nach Essen und Schutz, manchmal wie im Trauma und viele driften ab in die Irre. Was solche Augen gesehen haben, können wir uns nicht vorstellen. Wahrscheinlich folgte dieses Mädchen der Sandpiste in der Hoffnung, irgendwo jemanden zu finden, der es aufnehmen würde. Oder es suchte seine Mutter, die aber wahrscheinlich schon lange tot war.

Das Mädchen regte sich nicht mehr, nachdem es die Biskuits verschlungen und Wasser getrunken hatte. Es sass einfach nur im Staub und beobachtete mich. Wahrscheinlich hatte es hinter den zerschossenen Mauern Schutz gesucht und wer weiss, was es in den letzten Tagen erlebt hatte. Ich erhob mich langsam, wobei ich lächelte und darauf bedacht war, das Kind nicht zu erschrecken. Im Auto zog ich ein T-Shirt aus meinem Kleidersack. Ich streckte es ihm entgegen, es kam langsam auf mich zu, zögerlich und doch entschlossen, diese Beute zu holen. Im letzten Moment schnappte es das T-Shirt und rannte gleich weg. Aber ein paar Meter weiter blieb es stehen und drehte sich um. Ich werde nie vergessen, wie es das T-Shirt an seine Brust drückte und ängstlich beobachtete, was ich tat. Doch ich setzte mich wieder unter den Baum und lächelte. Das Mädchen kauerte sich nieder und begann, sein neues Eigentum zu begutachten. Dann zog es das Shirt an, doch das Köpfchen schob es durch ein Ärmelloch. Das sah so ulkig aus, dass ich lachen musste. Nun lachte es ebenfalls. Ich winkte es heran, um das Shirt richtig anzuziehen, doch es kam nicht. Schliesslich zog ich mein Hemd aus und deutete ihm, es ebenfalls zu tun. Dann legte ich mein Hemd vor mich hin, es tat dies ebenso. Und endlich hatte ich mein Hemd wieder an und das Mädel sein T-Shirt, das ihm viel zu gross war. Ich schlug mir auf die Brust und lachte. Es lächelte auch und schlug sich auf die Brust.

Ich musste weiter, bis zur Dämmerung wollte ich im Basecamp sein. Langsam ging ich zum Auto und nahm meine Provision heraus und ebenfalls den 20 Liter Plastikcontainer mit Wasser. Ich stellte alles auf den Boden und deutete dem Mädchen, dass dies nun ihm gehöre. Es kam heran, aber diesmal schnappte es nicht danach. Fast ungläubig und mit grossen Augen begutachtete es die vier Packungen Biskuits, die paar Bananen und Orangen und den kleinen Sack voll Trockendatteln und Erdnüsse. Dosen gab ich ihm keine, wie sollte es sie öffnen? Es schüttelte den Plastikcontainer und lachte, weil das Wasser schwuppelte. Dann sah es mich an: freudig und frech, ungläubig und staunend. Ich lächelte zurück, aber schon hatte es sich umgedreht und rannte der Schule entlang und hinaus in die Ebene mit dem trockenen Gras. Es hinkte beim Rennen. Ich lehnte mich ans Auto und wartete.

Die Detonation zerschlug die Stille. Mine. Ich rannte der Explosion entgegen. Das Mädchen lag auf dem Boden, sein Körper war nicht mehr. Aber es lebte noch. Ich nahm es in meinen Schoss und strich ihm das Blut vom Gesicht. Seine Augen öffneten sich und schauten mich an. Dann sagte es so etwas wie Kekan und starb. Sein rechtes Händchen umfasste noch immer eine rote Blume. Ich begrub, was von ihm übrig war und steckte die rote Blume auf das Grab. Seinen Namen habe ich nie gewusst. Aber nun besorge ich mir jede Weihnachten eine rote Blume und stecke sie in die Erde.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche