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Der Supermarkt im Dorf Anjomakley

Morgens um halbsieben verlasse ich das Haus. Ich komme mir vor wie Kant in Königsberg, nach dessen Spaziergang die Leute ihre Uhren richteten. So punktgenau bin ich zwar nicht, aber immerhin nicht zwei oder mehr Stunden später, wie das sonst so üblich ist in Madagaskar. Entlang der Naturpiste warten bereits Leute auf mich, um eine Mitfahrgelegenheit zu ergattern. Gratis natürlich. Denn mit dem Bus, sofern er fährt, bezahlen sie 500 madagassische Franken und das sind immerhin elf Rappen. Kürzlich wartet aber einzig der Dorfkrämer auf mich. Nur begleitet von seinem Sohn und einem weiteren Kind, das ich nicht kenne. So sind wir quasi unter uns. Daher befrage ich ihn nach dem Geschäftsgang in seinem Laden. Denn vor etwa zwei Jahren hatte ich den Start dieses Verkaufsladens finanziert. Damals kam Charles zu mir mit der Bitte um einen Kredit. Eigentlich ist er Dorfschullehrer. Dieser Job finanziert ihm sein Überleben, aber eben nicht mehr. Er wolle nun in den Kleinhandel einsteigen, denn er habe gesehen, wie im Dorfladen gegenüber Ware und Geld hin und her gingen wie fliegende Wolken. Und schliesslich heisse der Ort Anjomakely, was kleiner Markt bedeutet und grundsätzlich ein gutes Omen ist für die Gründung eines Ladengeschäfts. Ich selber glaube zu meinen, dass ich im Verlauf all der Jahre in Afrika meinen persönlichen Beitrag an Hilfsprojekten aller Art geleistet habe. Ich wage nicht nachzurechnen, wieviel Geld mich das bereits gekostet hat. Und vor allem: wieviele Enttäuschungen es eingebracht hat. So bin ich vorsichtig geworden. Charles bot mir als Garantie sein Motorrad an. Nur läuft das nicht. Er hatte es vor einem Jahr gegen sein Fahrrad eingetauscht und ich hatte ihm von diesem Deal abgeraten. Denn das Motorrad lief damals schon nicht und Charles hat es nie zum marschieren gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls wollte ich nicht sein Motorrad, sondern einen Vertrag. Mit klaren Klauseln, wann und in welcher Höhe die Rückzahlung zu geschehen hat. In solchen Fällen lasse ich den Vertrag immer vom Kreditnehmer aufsetzen, somit kann ich später immer sagen, die Bedingungen seien von ihm formuliert worden und nicht von mir diktiert worden. So überbrachte mir Charles an einem Samstag – sehr früh am Morgen - den Vertrag, von Hand geschrieben und vier Zeilen lang, untermalt mit einer kleinen Rede und vielen Wünschen und Segnungen. Ein paar Tage später gab ich ihm das Geld. Natürlich verlange ich keinen Zins, der landesübliche Zinssatz für Kredite unter Freunden beträgt übrigens 100 %. Fortan sah ich eine Mauer entstehen, ein paar Wochen später ein Dach. Kein Strohdach, sondern ein Wellblechdach: Charles liess sich nicht lumpen. Danach geschah lange nichts mehr. Dann kam eine neue Kreditforderung. Ich ging diesmal nicht darauf ein. Ein paar Monate später aber wurde der neue Dorfladen eröffnet: eine Baracke aus roten Lehmbacksteinen, in der nicht mal ein Smart geparkt werden könnte. Die zur Strasse hin offene Ladentheke ist etwas mehr als einen Meter lang. Und nun frage ich Charles, wie es denn so laufe mit seinem Geschäft. Es geht, sagt er, denn nie würde ein Madagasse sagen, es läuft glänzend. Weil dies ja auch selten der Fall ist. Er hat für rund 1,5 Millionen madagassische Franken Ware am Lager, in Schweizer Währung sind dies 350 Franken. Rund 10% setzt er pro Tag um. Petrol für die Lampen läuft gut. Seife weniger. Öl und Zigaretten, Kerzen und Streichhölzer sind Renner. Der Lehrer und Geschäftsführer Charles kann nicht genau sagen, wieviele Produkte er führt. Es müssen um die fünfzig sein. Er versucht, etwas billiger zu sein als seine Konkurrenten. Im Dorf von 1000 Seelen gibt es 7 Epicerien, wie diese kioskartigen Krämerläden genannt werden. Er möchte gern Reis verkaufen, aber dazu reicht sein Geld im Moment nicht. Ich überhöre die versteckte Anspielung auf einen neuen Kredit. Aber es sei hart, morgens bis abends im Laden zu stehen. Seine Frau, sein Sohn und er wechseln sich ab. Samstag und Sonntag läufts besser. Letzte Weihnachten machte er einen Rekordumsatz von 120 Franken, normalerweise liegt der Tagesumsatz bei 30 Franken. Sein Krämerladen hat auch ganz persönlich in sein Leben eingegriffen: Charles verbringt nun die Nächte mit seiner Frau unter dem Ladentisch, um Diebstähle zu vermeiden.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 9. September 1999