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Bildung ist Leben

Manchmal bin ich wütend. Zum Beispiel letzte Woche. Ich war in Südafrika und strolchte in Johannesburg in einer Buchhandlung herum. Tausend Bücher über alle Aspekte dieser Welt und des ganzen Universums waren in den Regalen. Einen Tag später war ich in Maputo, der Hauptstadt von Mozambique. In einer stillen Stunde besuchte ich eine der beiden Buchhandlungen, die ich im Telefonbuch ausfindig gemacht hatte. Da waren ein paar verstaubte Werke, ein Geographiebuch aus der portugiesischen Kolonialzeit, ein paar Zeitschriften aus den 90er Jahren. Da war auch ein Wörterbuch im Wert eines Monatsgehalts eines Polizisten. Wer kann sich das leisten? Wie kann die Jugend sich bilden, wenn kein Lehrmaterial vorhanden ist? Ein paar Tage später fuhr ich die tausend Kilometer nach Chimoio. Dort starte ich in den kommenden Wochen für Caritas Hilfsprojekte. In Chimoio kam ich mit einer Klasse Abendschülern ins Gespräch: Männer und Frauen, meist zwischen zwanzig und dreissig Jahre alt. Sie besuchten die Stufe Grado 10 und träumten von einem Universitätsstudium. Das Schulwesen ist in Mozambique so organisiert, dass man Grado 12 haben muss, eine Art Matura, um später studieren zu können. Infolge Krieg und Wiederaufbau, Armut und Vertreibung war es vielen Leuten nicht möglich, eine Schulbildung zu erhalten. So versuchen sie, dies als Erwachsene nachzuholen. Oft in Abendschulen: von sechs Uhr bis um elf Uhr abends, montags bis freitags. (Zu sagen ist, dass die Abendunterhaltung in der Stadt Chimoio sehr dürftig ist.) Die Schulhefte dieser Erwachsenen sehen aus wie jene von Schülern vor der Pubertät. Bücher haben sie nicht. In Chimoio, immerhin Hauptstadt einer der zehn Provinzen der Republik und fünftgrösste Stadt des Landes, gibt es keine Buchhandlung. Die Schülerinnen und Schüler kopieren einfach, was der Lehrer an die Wandtafel schreibt. Oft sind Fehler drin. Schlimmer ist, wenn die Leute abends in die Schule gehen – gehen, weil niemand ein Auto hat und es keine Busse gibt – und dann kommen die Lehrer nicht. Sind einfach nicht da. So fällt pro Woche ein Fünftel des Unterrichts aus. Und doch möchten alle eine Klasse weiterkommen, denn Jobs werden nach dem Grado vergeben. Eine Sekretärin muss mindestens Grado 11 haben. Das heisst elf Schuljahre besucht haben, konkret jedoch sind es meist mehr, weil vorankommen nicht allein von den Kenntnissen abhängt, sondern auch von der Sympathie des Lehrers und die ist auf verschiedene Art käuflich. Oft haben die Mädchen natürlich auch Kinder und lassen dann den Unterricht zeitweilig oder für immer ausfallen. Als ich vor vielen Jahren Schüler war – in der damals neuerbauten Surseer Kanti – wusste ich das Privileg nicht zu schätzen, Bildung zu erlangen. Es ist zwar schon so, dass ich nach der Matura nie mehr Algebra brauchte und auch nicht Chemie. Trotzdem haben auch diese Fächer mir geholfen, Systeme zu verstehen und Anwendungen zu finden. Hier in Chimoio haben die Schülerinnen und Schüler diese Lernmöglichkeiten nicht. Und in den Dörfern schon gar nicht. Dort sind die Lehrer oft abgehalfterte Guerillakämpfer oder Schulabgänger ohne pädagogische Ausbildung, oft gar nicht mal älter als ihre Schüler. Doch der Hunger nach Bildung ist da. Die Leute wissen, dass Arbeitsstellen ohne Ausbildung nicht zu haben sind -  ausser man kennt jemanden, der den Weg zu einem Job kennt, wie es so schön blumig heisst. Ich bin erst wenige Tage hier in Chimoio, aber wie viele Leute haben mich schon um einen Job gefragt. Viele. Es ist keinesfalls so, das Afrikaner nur rumhängen wollen, wie flüchtige Besucher das zuweilen meinen mögen. Aber wie einen Job ergattern? Und erst mal: wo Bildung erhalten? Und wie, wenn keine Bücher vorhanden sind? In Mozambique können 60% der Leute weder lesen noch schreiben. Und das ist trotz allem die Basis der heutigen Welt. Bildung im techno-modernen Sinn hat natürlich auch ihre Schattenseiten und es ist ebenso klar, dass jeder Afrikaner ein Wissen hat, nur ist eine andere Art von Bildung in seinem Kopf. Und die kollidiert natürlich mit den Anforderungen der westlich geprägten Welt. So findet sich jeder Buschbewohner in seiner Umgebung zurecht, in der ich allein keinesfalls überleben könnte. Eine Wegbeschreibung zu machen, ist er hingegen nicht fähig. Aber auch ich bin natürlich gespalten. Ich reise an mit einem portablen Computer samt Drucker. Ich habe ein Sprachlernprogramm, zwei, drei Wörterbücher und zwei Lexika. Alles als Software im Computer drin. So kann ich jederzeit abfragen, wenn ich nicht weiss, was Pyrethrum ist oder auch mal einen portugiesischen Text ins Englische übersetzen, weil ich auch ein Übersetzungsprogramm habe. Und so sitze ich hier in Chimoio am mittleren Ende der Welt und bin ziemlich autonom in Sachen Wissenszugang. Doch wie soll der Schüler in der Hütte nebenan bei Kerzenlicht in seinem Suddelheft irgendwas lernen? Und doch gibt es sie, diese cleveren Leute, die es trotz Mühsal geschafft haben, sich in der westlichen Logik kundig zu machen. Trotzdem gibt es weit mehr, die gern lernen möchten, aber den Zugang zu Bildung nicht finden, die anderswo so einfach erhältlich ist – aber kaum geschätzt wird. Und das macht mich wütend.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 14. September 2000