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Ein Dorf und seine Geschichten

Erst am späten Nachmittag erreichte ich das Dorf nach einer langen Wanderung über die baumlosen Hügel. Der Dorfchef wies mir eine Hütte für die Übernachtung zu. Seine Frau kochte Reis und brachte ihn mir in einer zerbeulten Emailschüssel. Es war kein reiches Dorf, hier in den östlichen Abhängen des kargen Hochplateaus Madagaskars. Ich war hergekommen, um eine Route für eine Trekkingtour zu explorieren. Nach dem Essen versammelten sich ein paar Leute vor meiner schilfbedeckten Hütte. Sie hatten Streit und suchten einen Richter. Das passiert mir ab und zu. Ich bin weder Jurist, noch habe ich viel Ahnung von Gesetzestexten. Doch ich bin in Madagaskar oft in Regionen unterwegs, in die kaum jemand von aussen hereinkommt. In solchen Situationen wird man gern als externer Berater beigezogen. Zu sagen ist, dass die staatlichen Richter kaum das Vertrauen der Bevölkerung geniessen. Der Streitfall ging um Wasser. Ein Bauer hatte einen Bach umgeleitet, um seine Reisfelder zu bewässern. Nun hatte aber der Schullehrer weiter unten eine Parzelle gekauft und wollte das Wasser des Baches für seine Felder nutzen. Der Bauer war der reichste Mann des Dorfes: er besass zehn Zeburinder, einen Ochsenkarren und ein Transistorradio. Der Lehrer hingegen stammte nicht aus der Region, als Staatsbeamter war er zum Schuldienst in diese Gemeinde hinbeordert worden. Der Bach war ein dünnes Rinnsal, das nicht für beide Parzellen ausreichte. Bei Sonnenuntergang versammelten sich die Leute also vor der Tür meiner windschiefen Hütte. Ich setzte mich auf die Schwelle, die beiden Parteien liessen sich auf dem Boden nieder. Jemand brachte eine Laterne. Ich suche eine solche Aufgabe keineswegs, aber es war zu spät, um sich ihr galant zu entziehen. Der Dorfchef sass unentschlossen zwischen den Gruppen, denn die Wahlen standen bevor. Es waren rund fünfzig Leute. Hundert Augen, die auf mir ruhten. Erwartungsvoll. Ich liess sie reden, die eine Partei nach der anderen. Dann fragte ich ein paar Details nach. So erfuhr ich, dass der Lehrer eine Cousine des reichen Bauern geheiratet hatte. Und dass das Dorf eingewilligt hatte, als der Bach umgeleitet wurde. Ich blieb drei Tage im Dorf. Danach wusste ich auch, dass der Lehrer versucht hatte, sich politisch zu betätigen. Der reiche Bauer war gleichzeitig Geldverleiher, bei dem das ganze Dorf verschuldet war. Der Lehrer hatte eine Geschichte mit der Tochter des Politikers gehabt. Das Reisfeld gehörte dem reichen Bauern gar nicht. Die Quelle des Baches war jahrelang versiegt gewesen. Der Lehrer war oft abwesend, um sein Gehalt in der nächsten Provinzstadt abzuholen: zwei Tagesmärsche entfernt. Der reiche Bauer war dagegen, eine Eröffnungsstrasse zur Aussenwelt zu bauen, der Dorfchef war dafür. Der kleine Dorfladen mit den überhöhten Preisen gehörte dem reichen Bauern. Der Lehrer verlangte seit langer Zeit die Reparatur des Schulhausdaches. Der Dorfchef hatte das Geld dazu unterschlagen. Und so weiter. Ehrlich gesagt blickte ich nicht mehr so genau durch. Man hätte nun ein Beziehungsrelief zeichnen und die  Problemstruktur analysieren können. Doch soviel Zeit hatte ich nicht und doch begannen mich die Leute zu fragen, was ich von der Wassergeschichte halte. Denn am ersten Abend hatte ich gesagt, ich wolle mich noch weiter informieren. Wer blickt schon durch in alten Dorfgeschichten? Man tut das bestimmt nicht nach ein paar Tagen. Ich wurde immer mehr gedrängt, meine Meinung abzugeben. Doch wer hat recht und wer ist im Unrecht? Dazu gibt es oftmals keine eindeutigen Antworten. Geschichten, die sich vor Generationen abgespielt hatten, drängen sich plötzlich in den Vordergrund. Und nie ausgesprochene Hintergründe tauchen unerwartet als dominante Faktoren auf. Wer weiss, ob der Kern des Streits eigentlich beim Wasser lag? Ich kam zu keinem Schluss und das sagte ich auch: Jemand muss nachgeben, eigentlich ist es egal, welcher es ist. Am besten ist es sogar, ihr würfelt das aus und akzeptiert das Ergebnis. Das fand sogar Zustimmung. Und da die Leute einander nicht trauten, wurde ich gebeten, das Würfeln zu übernehmen. Vorher hielt ich eine längere Ansprache darüber, dass das Ergebnis, wie auch immer es sein möge, von allen verpflichtend angenommen werden müsse. Wir machten sogar einen Dina, eine Art madagassischen Gemeinschaftsschwur. Dann nahm ich eine Münze: bei Zahl erhält der reiche Bauer das Wasser, bei Bild gehört das Wasser dem Lehrer. Zahl gewann. Der Lehrer zog grusslos und schmollend weg. Ich verliess das Dorf mit einem unguten Gefühl. Auf der Rückreise traf ich den Chef der Provinz, zufällig eines Abends. Wir kamen ins Gespräch und ein Bier folgte dem nächsten. Wir besprachen das Wasserproblem. Am Ende des Schuljahres wurde dann der Lehrer versetzt. Es wäre langfristig eine zu grosse Qual für ihn gewesen, weiterhin in diesem Dorf zu bleiben. Der Provinzchef hatte sein Wort gehalten.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 10. Februar 2000