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Ferne Lande

Afrika gibt es nicht, schrieb vor einiger Zeit ein langjähriger Kenner des Kontinents. Er sträubte sich damit gegen Verallgemeinerungen und Vorurteile. Und damit hat er natürlich Recht. Afrika ist zehnmal grösser als Europa, dreihundertmal grösser als die Schweiz. Genauso wie Geuensee anders ist als Nottwil, genauso unterscheiden sich die Siedlungen auf dieser enormen Fläche. Afrika ist ja nicht einfach nur ein grosser Sandhaufen. Es gibt Berge wie im Wallis, es gibt schiffbare Flüsse, Zeitungen und Universitäten. Natürlich ziehen auch heute noch zeitlose Kamelkarawanen von Oase zu Oase. In den Dschungelgebieten leben die kleinwüchsigen Pygmäen als Jäger und Sammler. Es finden sich, wieder zunehmend, Afrikaner, die noch nie einen Weissen gesehen haben.

Afrika gibt es doch. Und zwar immer anders. Denn Afrika ist nicht einfach ein riesiger Kontinent mit täglichen Katastrophen und voll von schwarzen Gesichtern. Das natürlich auch. Aber ebenso ist Afrika eine unendliche Landmasse mit tausend Variationen, gefüllt mit schillerndem Leben, das immer anders und immer voller Überraschungen ist. Ein Teil Afrikas hat sich geöffnet gegenüber Neuerungen und saugt von aussen kommende Ideen auf: manchmal werden sie integriert, oft einfach kopiert. Ein wichtiger Teil jedoch bleibt verschlossen. In den Herzen vieler Menschen kämpfen diese Strömungen gegeneinander, schlagen manchmal abrupt um. Afrika ist kein leicht zu verstehender Kontinent.

Zuweilen bin ich auf Besuch in der Schweiz. Natürlich werde ich immer gefragt, wie es sich weit südlich des Äquators denn so lebt. Und darüber will ich fortan berichten. Über Madagaskar, das Leben auf dieser Insel, über meine Beobachtungen, Erfahrungen und auch meine Enttäuschungen.

Madagaskar schwimmt als Insel vor Südostafrika. Die ersten Menschen stammten aus Indonesien. Vor fünfzig Generationen suchten sie sich ihren Weg über den Indischen Ozean und brachten ihre Kultur und Sprache mit. Noch heute sind diese Einflüsse sehr dominant erkennbar. Später kamen auch Leute aus Schwarzafrika, aus dem Nahen Osten, aus Indien, China und Europa. Daher ist das Gemisch der Gesichter ziemlich gross. Das Land ist eines der ärmsten der Welt. Trotzdem gibt es Autos, Handys und Internet. Natürlich nicht für alle und nur an wenigen Orten. Ich arbeite in der Hauptstadt Antananarivo und wohne in einem Haus mit Strom, Fensterscheiben und Wasser aus einem acht Meter tiefen Brunnen. Dass ein Haus diese Annehmlichkeiten hat, ist keineswegs selbstverständlich. Keine zwei Prozent der Häuser Madagaskars haben sie. Mit der PRIORI habe ich eine Firma gegründet, die als Managementunternehmen bezeichnet werden kann. Wir versuchen in einem Land, das permanent am Abgrund zum Chaos steht, Vorhaben zu planen und durchzuführen. Und das ist schwierig in einer Umgebung, in der jederzeit alles passieren kann. Buchstäblich zu jeder Sekunde kann alles Vorherige über den Haufen geworfen werden. Man kann also kaum je auf stabile Elemente zählen. In diesem Umfeld war ich erst jahrelang als Entwicklungshelfer tätig. Und dort habe ich gelernt, dass alle Abmachungen lange und intensiv besprochen werden müssen, dass alle Beteiligten einverstanden sein müssen, dass Störfaktoren möglichst lange vorher identifiziert werden müssen. Vor allem habe ich gelernt, dass nichts je ein technisches Problem ist, sondern immer nur ein menschliches. Denn auch in Afrika spielen Eifersucht und Missgunst, Misstrauen und Betrug eine wesentliche Rolle im täglichen Leben. Als Gegengewicht erstaunt mich immer wieder die Gastfreundschaft, das Lachen, die Flexibilität und die Unbesorgtheit der Leute. Wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wo es viel Licht gibt, hat es auch viel Schatten. Und Afrika hat sehr viel Sonne.

Meine folgenden Beiträge sollen aber nicht philosophischer Art sein. Ich werde möglichst nahe ans tägliche Leben herangehen, beschreiben, wie sich ‘das Leben‘ konkret abspielt. Im nächsten Beitrag werde ich einen typischen Tagesablauf schildern.

 

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 24. September 1998