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Der Heiler mit den magischen Händen

Die Landschaft ist aufgewühlt. Staubwinde fegen in Wellen über die sanft gewölbten Hügelrücken und wehen feine Staubkörner in die Augen. Die Dorfbewohner bedecken ihre Gesichter mit Tüchern. Doch viele sind an diesem trockenheissen Tag nicht unterwegs. Höchstens ein paar wacklige Ochsenkarren mühen sich über die Rumpelstrasse. Im Hof des Heilers jedoch warten bereits 53 Leute, denn die nächste Nummer ist die Zahl 54. Die Leute sitzen schweigend auf einem Mäuerchen vor dem niederen Backsteingebäude. Einen Wartesaal mit Stühlen und Sesseln kennt der Heiler Rainily nicht. Die Leute kommen trotzdem und dies von weither: mit dem öffentlichen Bus und dann noch 15 km zu Fuss. Viele sind sogar durch die Nacht marschiert, um bei Sonnenaufgang im Hof des Heilers zu sein.

Rainily hat, wie viele Madagassen, nur einen Namen. Sein Alter zu schätzen ist schwierig, er mag 50 sein oder auch zehn Jahre älter. Buddhaartig und rundlich strahlt er eine spontane Sympathie aus. Er sagt nicht viel. Seine Hände sprechen. Mpanotra wird er auch genannt, Masseur. Er ertastet die Krankheit in seinem kleinen Raum, in dem nur gerade eine schmale Pritsche Platz hat. Für Rainily ist der kranke Körper eigentlich nur das Medium, die eigentliche Krankheit liegt anderswo. Das alles interessiert ihn kaum, er habe seine Heilkräfte von seinem Grossvater übertragen erhalten und sie seien ein Geschenk, sagt er. Wie seine Methode funktioniert, weiss er nicht mal selber. Doch sie wirkt und Rainily arbeitet zum Wohle der Menschen von sechs bis vierzehn Uhr, jeden Tag ausser Donnerstag. Eigentlich ist Rainily Bauer. Er hat ein paar Reisfelder unten im Tal und er besitzt drei Kühe und ein Kalb. Doch seit Jahren hat er kaum mehr Zeit für die Landwirtschaft. Zu viele Kranke kommen in diesen abgelegenen Weiler auf der Suche nach Linderung.

Während draussen  Windfahnen über die dürren Felder rollen, drückt der Heiler seine Finger in den Körper der Patienten. Fast alle schreien auf. Rainily massiert mit kräftigen Fingern den Schmerzpunkt weg. Die Heilerfolge sind phänomenal. Da wohnt diese alte Frau im gleichen Dorf. Sie komme aus einem Ort fünfzig Kilometer entfernt. Vor einem Monat sei sie buchstäblich hergekrochen - nun kann sie wieder gehen, dank der täglichen Behandlung. In zwei Wochen soll die Behandlung abgeschlossen sein, dann will sie in ihr Dorf zurück und zwar zu Fuss. Ein Manager der lokalen Bierbrauerei litt unter einer berufsbedingten Krankheit, er habe an Krücken gehen müssen. Jetzt geht er wieder ohne Hilfsmittel. Der Heiler ist eigentlich spezialisiert auf Nieren- und Leberleiden, auf Gallenprobleme und generell auf Bauchkrankheiten. Doch da er eine Krankheit immer im Gesamtzusammenhang sieht, behandelt er auch andere Leiden. Er fragt nicht mal nach den Symptomen. Es dauert keine fünf Minuten, und seine Hände haben die Krankheit ertastet. Manche brauchen nur wenige Sessionen, andere müssen über Monate einmal pro Woche kommen. Dies ist nicht etwa purer Kommerz, denn der Heiler verlangt kein Honorar. Jeder kann geben, was er will.

Wochentags sind es meist einfache Leute aus der ländlichen Umgebung, die ihn besuchen. Am Wochenende kommen aber auch betuchte Städter, mit Allradfahrzeug und Mobiltelefon. Der Zulauf ist inzwischen so gross, dass die Reihenfolge der Heilsuchenden per Nummern festgelegt wird. So beginnt der Heiler um sechs Uhr früh mit der Nummer eins und um zwei Uhr nachmittags hat er oftmals hundert und mehr Leute behandelt. Er macht keine Werbung, kein Schild weist den Weg, sein Wohnort ist ein kleiner Bauernweiler in der Nähe der Hauptstadt Madagaskars. Doch die Leute kommen in Scharen. Sie haben von den Heilerfolgen gehört und oft haben sie bereits erfolglose medikamentöse Behandlungen hinter sich. Der Heiler gibt keine Medikamente ab und schreibt auch keine Rezepte. Seine Medizin ist die Druckmassage mit Kokosöl, schmerzhaft zwar, aber heilsam. So überhören die Wartenden im Hof die Schreie und beobachten die Hühner und die Truthähne, die sich aufplustern, als ob die Leute ihretwegen hier seien.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 15. November 2001