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Ein paar Jahre danach  

Ich schlenderte über den Markt von Brickaville. Diese Kleinstadt liegt unweit der madagassischen Ostküste an einem Fluss, der ein paar Kilometer weiter ins Meer mündet. Der Markt findet jede Woche statt und ist der Attraktionspunkt der Regionalbevölkerung. Hunderte von Menschen drängten sich den Verkaufsständen entlang. Verkauft wurden Lokalprodukte wie Hühner und Bananen, Berge von Orangen und Säcke voll Reis. Andere Stände boten alles feil, was ein ländlicher Haushalt braucht: Mäusefallen, Nägel, Kleider und Kerzen. Plötzlich zupfte mich eine Frau am Ärmel. Sie schien sehr aufgewühlt und offenbar kannte sie mich. Erregt zeigte sie auf einen schlaksigen Jungen. Er lächelte verlegen. Ich erkannte ihn nicht. Und dann kam ein langer Wortschwall: dies sei Lova, Spital Brickaville, Géralda. Ihre Worte liessen sofort einen Film in mir ablaufen. Die Geschichte ereignete sich vor ein paar Jahren. Ein Zyklon raste im Februar 1994 quer durch Madagaskar und zerstörte Häuser, Dörfer und Nahrungsvorräte. Der Name dieses Wirbelwindes war Géralda, ein Frauenname. Seltsamerweise werden die Zyklone im Indischen Ozean nur mit Frauennamen belegt, jeweils zu Beginn der Regenzeit, also im November, beginnt die Namensliste mit dem Buchstaben A. Somit war Géralda der siebte Zyklon der Saison, doch seit Menschengedenken war kein anderer Zyklon so verheerend gewesen. Géralda formierte sich im Indischen Ozean und trat mitten in der Hafenstadt Tamatave an Land. Noch heute ist eine Schneise von mindestens dreihundert Metern zu sehen, eine Einbuchtung, als ob ein riesiger Walfisch ein Stück Land weggebissen hätte. Dann fegte Géralda der Gürtelline entlang quer über die Insel, begleitet von tobenden Winden und peitschenden Regenfällen. Es gab Tote, Überschwemmungen und Zerstörung, bald darauf Seuchen und Hunger. Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF fragte mich an, ob ich an der Ostküste eine Nothilfeaktion aufbauen und leiten könne. Ziel war, den unterernährten Kindern Mahlzeiten zu ermöglichen. Ich sagte zu und ging nach Tamatave. Dort rekrutierte ich Ärzte, Fahrer, Köchinnen, suchte Lagerhallen, organisierte Transporte, besorgte Material. Wir wollten die Nahrungsmittel nicht einfach verteilen, sondern bauten eine Art Volksküchen auf. Insgesamt entstanden 24 Ernährungszentren, in die tausend Kinder zweimal pro Tag kamen, um zu essen. Dadurch waren wir sicher, dass die Nahrungsmittel in den Bäuchen der bedürftigen Kinder landeten und nicht auf dem Markt weiterverkauft wurden. So strömten die Kinder jeden Tag zweimal in diese Zentren, erhielten einen Teller Reis und Bohnen, manchmal Mais und Erbsen. Es war ein erbärmlicher Anblick: die Kinder standen artig Schlange, ihre Blechteller vor die hervorquellenden Hungerbäuche gedrückt. Dann wurde jedes Kind schnell von einem Arzt begutachtet und danach erhielt es von den Köchinnen eine Kelle voll heissen Brei, geschöpft aus fassgrossen Kochtöpfen.

Natürlich gibt es diese grässlichen Nächte, wo du nur noch aufgequollene Bäuche und eingefallene Augen siehst. Und am Morgen gerädert aufwachst, aus dem Delirium gerissen vom Wecker, während draussen die Tropenpalmen im frühen Morgenwind flattern. Natürlich gibt es das, nicht nur damals sondern heute noch. Doch ich war da, um einen Job zu tun. Ich habe zu vermeiden gesucht, genauer hinzusehen. Meine Aufgabe war, diese Hilfeaktion zu organisieren. Punkt. Aber trotzdem erinnerte ich mich nun auf diesem Markt in Brickaville an Lova. Ein Biafrakind: vielleicht dreijährig mit einem fussballgrossen Bauch und bleistiftdünnen Ärmchen. Tränende, matte Augen tief in den Höhlen. Wir hatten auch Intensivstationen gegründet, in denen die schweren Fälle stationär behandelt wurden. Als Gebäude nutzten wir Schulen, sofern sie noch standen, anderswo bauten wir Zelte auf und in der Region von Brickaville hatten wir die Intensivstation im Spital eingerichtet, nachdem wir das Dach wieder mit Wellblech gedeckt hatten und eine Wasserpumpe für Frischwasser installiert hatten. Lova war ein sehr schwerer Fall. Ich glaube nicht, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt dachte, er würde es schaffen. Aber er lebte weiter, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Und nun stand er vor mir, ein paar Jahre älter und schaute mich neugierig an. Natürlich kannte er mich nicht. Seine Mutter hingegen, ich erinnere mich genau, war damals neben dem Bett gesessen und hatte nur noch geweint. Ihr Mann war mit ihrer Tochter im reissenden Fluss ertrunken. Nun stand sie vor mir inmitten dieses überquellenden Marktes. Es ging ihr nicht gut, ihre Kleider waren abgerissen, der Junge lief barfuss. Sie bat mich zu warten. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um uns gebildet. Der Name Géralda hat sich tief ins Gedächtnis der Madagassen eingeprägt. Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen: was er verloren hatte in dieser windigen Sintflut, wie er danach wieder von Null auf beginnen musste. Dann kam die Frau zurück und schenkte mir ein farbiges Armband, geflochten aus strohartigem Bast. Ich trage es jetzt und in ein paar Wochen wird es brechen und nur noch Erinnerung sein.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 2. März 2000