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Karthala: die Majestät mit der Wolkenkrone

Der Vulkan mit dem grössten Durchmesser befindet sich auf den Komoren. Der Karthala ist heute noch aktiv. Er dominiert die südliche Hälfte der Hauptinsel der Inselrepublik. Er kann ohne bergsteigerische Fähigkeiten begangen werden. Der Pfad führt durch ganz unterschiedliche Vegetationszonen von märchenhafter Schönheit.

Das Kreuz des Südens steht noch im nachtblauen Himmel, als wir mit einem klapprigen Fahrzeug zum Fuss des Karthala fahren. Noch ist es dunkel und die Strassen von Moroni, der Hauptstadt der Komoren, sind noch unbelebt. Auf kurvenreicher Asphaltstrasse geht es auf ungefähr 450 Meter über Meer zum Bergdorf Mvouni. Unverzüglich machen wir uns auf. Links und rechts des ellbogenbreiten Pfades sind meterdicke Trockenmauern aufgeschichtet, bauchnabelhoch und schwarz aus Lavagestein. Nur ein paar Frühvögel zwitschern durch die Bananenstauden. Ein einsamer Nachtigall ist zu hören. Morgenfrische liegt als Taunebel über den Pflanzfeldern. In dieser paradiesischen Stille tönen nur die Schuhe auf dem hellklingenden Gestein. Der Archipel der Komoren umfasst vier Inseln. Wir befinden uns auf der Hauptinsel, die zu zweidrittel vom Karthala und dem Brudervulkan La Grille dominiert wird. Beide sind in historischen Zeiten aktiv gewesen. Im Karthala brodelt es auch heute noch.

Die hüfthohen Mauern umschliessen kleinparzellige Plantagen. In diesem Wirrwarr an Besitzverhältnissen sind Bambuspalmen und Kokospalmen gepflanzt und ab und zu steht auch ein königlicher Baobab. Rote Himbeeren setzen als exotische Farbtupfer einen Akzent ins Grün der Vegetation. In den Feldern werden Vanille, Pfeffer, Taroknollen, und Maniok angebaut und viel Zuckerrohr. Natürlich auch Ylang-Ylang: aus den Blüten der auf Mannshöhe zurechtgestutzten Bäume wird eine Essenz destilliert, die in der Parfümindustrie begehrt ist. Ylang wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Indonesien auf die Komoren eingeführt und ist heute noch eines der Hauptexportprodukte der Inselrepublik im Indischen Ozean.

Durch dschungelartige Wege geht es hoch bis auf 800 M.ü.M., die Kulturen bleiben zurück. Der unbefestigte Pfad führt einer Schlange gleich durch pure Naturvegetation. Dominant sind Farne und Stauden, die mit silberfeinen Bärten überdeckt sind. Wir wandern auf der Schattenseite des Vulkans. Der leichte Wind ist feucht und frisch. Die bleiche Scheibe des Vollmondes steht im Himmel, der Horizont liegt verwaschen im Morgendunst. Nur weit weg wie Kratzer auf der Wasserfläche zwei weisse Striche: Schiffe im Kanal von Mozambique. Die ersten Sonnenstrahlen streichen über die Kronen der Mangobäume. Im Dezember bis Februar hangen die reifen Mangos wie Weihnachtskugeln an den dichtblättrigen Astwerk. Durch Vegetationslücken öffnet sich manchmal ein Blick hinunter auf die Küste, die in sanft abfallenden und mit Busch bedeckten Vegetationszungen ins grüne Meer hinausragen. Wolken - oben weiss, unten blauschattig – gleiten wie Schwäne uns fast gegenüber und verweilen als weidende Herde zischen Himmel und Erde.

Der erdige Weg geht durch Bananenhaine. Ihre langen Ohrenblätter glänzen hellgrün im jungen Morgenlicht. Dann wieder eintauchen in den Vegetationsdschungel. Wie Schimmel überziehen weisse und grüne Flechten die Vulkangesteine. Baumriesen spreizen ihre Bretterwurzeln über dem harten Erdengestein aus. An den bis zwanzig Meter hohen Stämmen klebt Moos auf der Ostseite, zur Bergflanke hin. Baumschmarotzer in den Astgabeln erinnern an Adlerhorste. Andere Baumarten sind - einem Wollkleid gleich – rundum von Moosen bewachsen. Mahagoni und Rosenholz fühlen sich in dieser Zone wohl, und auch der violette Takamaka, aus dem Möbel und die reich geschnitzten Türen der Komorenhäuser gefertigt werden. In der Tropenfülle wuchern Baumfarne, ellbogenlang und an nadeldünnen Stilen leise wippend. Statt Gestrüpp wächst ein visuelles Spektakel in Grün. In Bodennähe das sirrende Summen von Insekten, weit oben das beruhigende Gezwitscher der Vögel. Der Pfad überquert eine Lavaader, sie ist so runzlig wie eine Elefantenhaut. Als schiefergrauer Wurm mäandriert sie über den Waldboden. An mehreren Stellen greift der Wulst wie gierige Drachenklauen tief hinein in die durch Grotten und Löcher aufgewühlte Erde.

Um acht Uhr und bei 15,2 Grad gönnen wir uns eine längere Pause auf einer Lichtung. Die Aussicht reicht weit über den Vegetationsteppich hinaus auf das unendliche Meer, das sich in der Ferne in orangerotem Morgendunst auflöst. Wie ein künstlicher Horizont segeln die Wolken eine Handspanne über den blaugrünen Ozean.

Tief unten leuchtet Moroni. Weisse Vierecke zwischen Palmen. Die Hauptstadt der Komoren schmiegt sich an einen Naturhafen. Hinter der Brandungslinie schaukeln ein paar Pirogen. Auf der Insel sind 4000 Pirogen im Einsatz, die 4000 Tonnen Fisch pro Jahr fangen. Diese Einbäume sind aus dem Holz des Mangobaumes geschnitzt und auch aus dem sattgelben Holz des Jackfruit-Baumes. Rostrote Dächer und zementgraue Flachdächer umkreisen als Patchwork die Altstadt, die lavaschwarz schimmert. Erst 1891 wurde Moroni zum Administrativzentrum. Doch die Freitagsmoschee am Hafen wurde bereits 1497 gebaut, vor wenigen Jahren wurde sie durch eine neue Freitagsmoschee ersetzt. Diese Gebetsstätte strahlt ein blütenreines Weiss herauf, also ob sie nicht nur Allah sondern auch dem Karthala gefallen wolle. Moroni hat keine hohen Bauten. Die Gebäude ausserhalb der Medina (Innenstadt) nutzen geflochtene Palmwedel als Baumaterial. Die Stadt ist umgeben von einem grünen Palmenwald, der jetzt glitzernd der Sonne entgegenblinzelt. Gegen Norden die ausgefransten Buchten. Weiter draussen die Weiler und Dörfer, so farbig wie alter Zement und verrostetes Wellblech nur sein können. In den Dörfern der Insel stehen unzählige unvollendete Zementhäuser wie kriegsversehrte Bunker, oft moosbewachsen. Es erweckt den Anschein, als ob die ganze Insel eine einzige Baustelle wäre. Doch diese Baracken spiegeln vielmehr den Willen der Väter, für ihre Töchter eigene Häuser zu bauen. Denn auf den Komoren sind die Häuser im Besitz der Frauen.

Die Sonne drückt nun fahl durch den kühlen Naturwald. Der Weg ist schwarz, der Lehm ist schwarz, die Steine sind schwarz. Bienen schwirren in der glasklaren Luft. Das Quaken der Frösche ist zu hören. Halbwilde Zeburinder grasen im Gehölz. Sie sind kaum sichtbar, nur ihr Brüllen tönt herüber. Auf vermodertem Holz haften Orchideen, ihr feingliedriges Wurzelgeflecht um das Holz gespannt wie ein Spinnennetz. Die Bäume haben ihr Wurzelwerk breit über das Felsengestein verzweigt, bis sie einen Einlass ins Erdreich gefunden haben.

Auf 1400 M.ü.M. ist der halbe Weg gemacht. Die Vegetation ist nun weniger dicht. Hier überleben bloss noch zehn Meter hohe, dünnstämmige Bäume, verkrüppelt wie in den Hochalpen Europas. Und überall diese Moosbärte, die sich an Stämmen und Ästen festsetzen und wie Bärte des Propheten wuchern: grün und braun. Allmählich weicht der Feuchtwald einer Art Hochweide. Rinder mit wulstigen Nackenhöckern sind an langen Seilen angebunden. Wie Staub tröpfelt ein kühler Nieselregen aus dem Himmel. Unverhofft gelangen wir zu einem aus klobigen Steinen errichteten Unterstand für die Rinderhirten, dahinter zwei verlassene Häuser, aus Vulkangestein geschichtet und auch sie mit schillerndem Moos bemalt. In einiger Distanz schlägt jemand Holz, auf den Schlag folgt das Zittern des Echos. Die Person ist aber nicht zu beobachten. Auch Moroni ist nun nicht mehr im Blickfeld, hingegen der internationale Flughafen Hahaya im Nordwesten, der pro Jahr 40000 Passagiere und 3000 Tonnen Fracht abwickelt. Im Norden wellt ein Sattel hin zum Zwillingsvulkan La Grille. Wie eine alte Säge heben sich die Spitzen des Nordberges als blauer Scherenschnitt vor den weissen Wolkenbüscheln ab. Rauch steigt an mehreren Stellen wie Feuerzeichen hoch. Unter uns fällt der Wald ab in einen See aus blauem Licht. Im Dunsthorizont ist nicht auszumachen, wo das Meer in den Himmel übergeht. Ein weisses Wolkenband umgibt den Karthala und die Insel wie einen Heiligenschein. Im Süden hebt sich die Silhouette der Insel Mohéli ab. Auf ihr befindet sich der grösste See der Komoren. Auf Grand Comore hingegen rieselt nirgendwo ein Bach, auf der ganzen Insel gibt es keine Flüsse. Grand Comore ruht im wesentlichen auf Basaltgestein: aus schwarzem, manchmal ockerrot-braunem Vulkangestein, das schwammig und durchlässig ist und so jegliches Wasser sofort einsickern lässt. Immerhin regnet es auf den Komoren bis zu 540 cm pro Jahr. Die heisse und gleichzeitig regenreiche Monsunzeit ist zwischen November and April.

Gegen zehn Uhr wandern wir inmitten einer kargen Heidelandschaft, die im Nieselregen verschwimmt. Dunkle Wolken - einer Brandung gleich – hängen über uns. Bäume, nur noch drei Meter gross, säumen den Weg wie antike Olivenbäume. Zuweilen tönt der Untergrund hohl: das durchlässige Gestein birgt viele Höhlen. Kellergrosse Trichter zeigen eingefallene Grotten an. Im saftiggünen Gras erheben sich manchmal moosbewachsene Steininseln wie einsame Oasen. Diese Minilandschaften geben den Eindruck, als ob ein sehr kreativer Landschaftsgärtner sein Lebenswerk vollbracht hätte. Zeitweise erscheint die Landschaft wie ein japanischer Meditationsgarten. Doch das Klima ist rau. Die Bäume sind nur noch Miniaturen. Heranwehende Fahnen aus Nebelfetzen bewirken eine mysteriöse Stimmung, die in den Parzellen mit verbranntem Wald gespenstisch wird. Der jüngste Ausbruch des Karthala ereignete sich am 5. April 1977, damals wälzte sich die rotglühende Lava bis ans Meer und zerstörte auch das Dorf Singani. 293 zerstörte Häuser hinterliessen 2000 Leute ohne Dach. Einzig ein alter Mann blieb verschont. Der flüssige Gesteinsstrom teilte sich in zwei Arme und umfloss sein Haus.

Wir sind wieder genau über Moroni. Die weisse neue Moschee ist noch deutlich zu erkennen, die Holzfrachter in der grünen Hafenbucht nur noch andeutungsweise. Von Süden segeln erneut Wolkenknäuel heran und schieben einen Vorhang vor das Panorama. In dieser Höhenlage weidet kein Vieh mehr. Ab und zu schwirrt ein Vogel durch die Luft. Wie Konfetti ins Gebirgsgras gestreut sind stecknadelgrosse Blümchen. Aus unscheinbaren Ritzen der Felsen gucken fingerlange Pflanzen und richten sich wie eifrige Kerzen nach oben. Hellgrünes Moos hängt wie verwehter Schnee an den Stauden. Als ob die Feen von Avalon Wollenknäuel als geheime Zeichen hingehängt hätten. Der glitschige Pfad taucht in ein mystisches Wäldchen ein, in dem man Kobolde vermuten könnte. Die knorpeligen Bäumchen haben Flechten und Moose wie Miniaturfischnetze in den Astgabeln hängen. Wie Ohrgehänge der Natur. Im Märchenwald entrollt sich ein gelbgrüner Moosboden wie ein flauschiger Gebetsteppich, daraus spriessen armdicke Gerten, umklammert von grauen Flechten und lindgrünen Bartmoosen. Die wie Gnome wirkenden Bäumchen streben in alle Richtungen. Ihre wie Gichtfinger verwachsenen Äste falten sich oben zusammen und ergeben ein Gründach, durch das Sonnenlicht filtert. Zerzauste Farne schwimmen als grüne Tupfer in dieser violettgrauen Miniwelt. Dieser Wald muss alt sein. Die Zwergbäumchen scheinen abgestorben zu sein. Und doch geben Zweige und deren sanftgrüne Miniblättchen Hoffnung auf ein Weiterleben.

Die Strauchbäumchen heissen philippia montana, sie werden bis acht Meter hoch, auf Gipfelhöhe aber nur noch mannshoch. Die Tierwelt um den Karthala besteht vor allem aus Vögeln. Fünf Arten davon sind endemisch. Grüne kinderfaustgrosse Vögelchen leben ziemlich lokalisiert in einem Revier von 12 km auf 8 km rings um den Kraterrand. Insgesamt leben 56 Vogelarten auf Grand Comore.

Nach sieben Stunden erreichen wir den eindrucksvollen Aussenring des Karthala. Wenn man im kalten Wind hier oben sitzt, hat man das Gefühl, die Erde sei geheizt. Die Bodentemperatur hat 19,1 Grad, die Lufttemperatur liegt bei 13,8 Grad. Das poröse Vulkangestein ist mit Luftlöchern durchsetzt. Mikroskopische Splitter und bizarre Lavakiesel könnten das filigrane Werk eines Glaskünstlers sein. Tannennadellange Kristalle bedecken die granitartige Gesteinswüste wie einen weichen Pflanzenteppich. Die Caldera ist 3500 m lang und 2700 m breit. Im Hauptkrater bohren sich zwei weitere Krater in die Erdkruste: der Chahale (der Alte) als tiefes Loch mit einem giftgrünen See und westlich davon der Krater des Chagnouméni (der Jüngere, 1918 entstanden). Die Kraterkrone ist nach innen eingebrochen. Trotzdem hat sie den grössten Umfang aller aktiven Vulkane der Welt. In Wellen erstarrte das einst flüssige Gestein im Ausbruchskanal, der Pforte von Itsandra, im Norden des Kronenrings. Wie runde Mäusehaufen ragen die Auswurfpyramiden aus der aschbleichen Ebene. Als Pockennarben erscheinen sie auf den Spot-Luftaufnahmen, die im August 1991 erstellt wurden und im Museum von Moroni ausgestellt sind.

Vor uns verbirgt eine wüstenartige, mit Asche bedeckte Terrasse den Krater. Der Vorsprung sieht aus wie ein Tal und ist mit zähen Büschen bedeckt. Aber sogar hier blühen Veilchen, ihr gelbes Gesicht vom Wind abgewandt. Die Lavafelder sind zerbröckelt in fussballgrosse Stücke, die mit einem trockenen Geräusch unter den Schuhen nussgross zerfallen. Ein steiler Abstieg führt zum rund 150 Meter tiefen Vorsprung und über feingemahlene Asche zur Kraterschramme des letzten Ausbruchs.

Im 300 Meter tiefen und 1300 auf 800 Meter Kraterschlund herrscht Stille. Nur der unbarmherzige Wind faucht aus dem Kessel. Nebel schleichen herauf, die Seitenwände der Felsenschlucht beginnen irreal zu glitzern. Wie ein überdimensionales Geschichtsbuch öffnet sich der Krater: geologische Schichten, Vulkanasche, Schlacke. Nebel zieht auch über die Aussenränder des Grosskraters herein und schwebt in die Tiefe. Wie ein gefährliches Leopardenauge starrt dort unten ein giftig grüner Kratersee herauf. Niemand kennt dessen Tiefe. Der Kratersee von Chahale kochte im Juli 1991 rot auf, im August hörten die Turbulenzen auf und seither ist er grün. Dieser Eingang zur Hölle scheint nicht von dieser Welt. Links klettern zwei Rauchsäulen hoch. Wind. Nebel. Das Gestein glänzt als hätte sich grauer Reif darüber gelegt. Kein Tier lebt hier. Nicht mal Vögel ziehen ihre Kreise. Inmitten dieser irrealen Welt beginnt man zu glauben, dass hier laut komorischer Legende der Thron des Königs Salomon (oder jeder der Königin von Saba) vergraben sei. Oder, so will es eine andere Sage wissen, ein Geist hätte den Ring des Propheten gestohlen und ihn hier versteckt, worauf sich dieser Krater öffnete. Kein Wunder, dass die Komorer Angst vor dem Karthala haben, denn der 2361 Meter hohe Vulkan verhüllt sich die Stirn um die Mittagszeit und macht sich hinter dem Wolkenkranz unsichtbar bis zum nächsten Morgen.

Ein vulkanbesetzter Erdgürtel, der ganz Afrika umfasst, durchläuft die Komoren. Diese tektonische Schwächezone reicht ostwärts über Madagaskar bis nach La Réunion und zieht sich nordwestwärts über den Kilimanjaro, die Virunga-Berge bis hin zum Mount Cameroon und auf die Cap Verden. Seit 1828 werden die Ausbrüche des Karthala registriert, erstmals wurde er 1883 vom Geologen Kresten erforscht. Seit 1828 sind mindestens 22 Eruptionen bekannt. Im August 1918 explodierte der Choungu Chahale: es entstand ein Krater mit 1385 m Nord-Süd Durchmesser, 870 m Ost-West und 270 m Tiefe. 1948 kündigte eine 400 m hohe Rauchsäule aus 75 Grad heissem Wasserdampf eine weitere Eruption an. Lava, Tuffe, Asche wurden in bis zu 400 m hohen Gaswolken ausgespieen. Weitere Eruptionen folgten 1952, 1959, 1965, 1969 und im September 1972, als die Lava einen Monat lang in Richtung Moroni floss. Die Explosion von 1977 erfolgte durch ein Seitenkamin – es raucht heute noch. Der jüngste Ausbruch geschah am 11. Juli 1991. Die Universität von La Réunion beobachtet den Karthala von sechs Stationen aus und stellt fest, dass die seismischen Aktivitäten seit Oktober 2000 wieder zunehmen. Der Karthala ist noch immer aktiv.

La soufrière (Schwefelgrube) im Norden des Karthala wird in alten Schiffsaufzeichnungen bereits erwähnt. Aus dem auf 2060 Höhenmetern gelegenen Platz führen Kamine und Höhlen ins Erdinnere. Aus ihnen strömt Sulfatgas mit einer Temperatur von 96 Grad aus. Die zitronengelben Ablagerung bilden eigenwillige Formen, die an Eisgebilde erinnern. Die zwei Dutzend Öffnungen hauchen weissen Wasserdampf aus.

Als Rückweg nehmen wir eine mehr südliche Route. Unterwegs öffnet sich erneut ein schöner Ausblick auf Moroni und den kreisrunden Vulkankrater von Iconi. Er ist zur Seeseite hin durchbrochen. Wie ein leicht hingeworfenes Hufeisen liegt er am Meeresufer. Eingangs des Ortes stehen die Mauern der alten Sultansgebäude aus dem 16. Jahrhundert, erbaut aus Lavabrocken und so schwarz, als ob sie abgebrannt wären. Wuchtig bewacht der Sultanssitz die Bucht südlich des Vulkankraters. Der schon im 8. Jahrhundert gegründete Ort litt von 1800 – 1808 unter den Invasionen von madagassischen Piraten. Daher wurde auf dem 115 Meter hohen Vulkan eine solide Kratermauer gebaut. Denn die damals wichtigste Stadt der Komoren hatte keine Stadtmauern, alle Stadtbewohner – um die 1500 Personen - wurden bei Angriffen in den Vulkan evakuiert. Auch hier eine Legende: Das Mädchen Fatima soll sich bei zwei heute noch stehenden Palmen ins Meer gestürzt haben, um nicht den Invasoren in die Hände zu geraten.

Über luftig geformte Auswürfe des Karthala verläuft der Weg durch klebrigen Aschenschutt. Der Weg geht durch einen weiteren Märchenwald, durch den sich ein uralter Lavafluss gezwängt hat. Die Lava in diesem Talweg ist zu brotgrossen Stücken zerfallen. Wie ein richtiger Bergbach macht auch der Steinfluss Kurven und hat Fälle. Eine Stunde unter dem Gipfel öffnet sich eine grosszügige Heide: Convalesence, wo es zu französischen Kolonialzeiten auf 1700 M.ü.M. eine Herberge gab. Sie ist heute zerfallen. Wir schlagen die Zelte auf. Die Nacht und der Wind fallen mit kalten Zähnen ein. Das schnell gesammelte Holz lässt sich nur schwer entflammen. Als ob der majestätische  Karthala keine fremden Feuer auf seinen Schultern wolle. Endlich aber züngeln die Flammen mit dem Atem des Windes. Wir kochen Teigwaren und Tee. Nachts schläft der beissende Wind nicht und wir kaum.

Als Sonne wärmend über die Hügelkuppe auftaucht, marschieren wir weiter talwärts durch den dichtesten Urwald der Insel. Lanzenförmige Farne stossen wie Stecknadeln in die vermoosten Stämme. Wie Schuppen kleben die Flechten an den Stämmchen in verschiedenen Farben: von silber über grün bis hin zu rot. Über den Hang kriechen Lavaarme, einer Römerstrasse gleich, bis zu zehn Meter breite erkaltete Gesteinsflüsse, angegraut in Jahrtausenden und rissig geworden. Regenwasser hat diesen Steinbach an Engpässen eingefurcht. Ein knöcheltiefer Kanal, eingeschrammt durch Sturzbäche in Jahrhunderten. So fliessen hier zwei Bäche im gleichen Bett: Stein und Wasser. Doch beide ruhen: der Stein ist erstarrt. Wasser gibt es nicht.

Wir treffen auf Jäger mit Speeren und Hacken. Sie sind auf der Suche nach Schlafhöhlen der komorischen Landa. Dies sind igelartige, kaninchengrosse Tiere mit langen weichen Schnauzen. Doch sie haben gefährliche Zähne, springen den Feind an und harken ihre Zähne und ihre scharfen Klauen ins Fleisch. Für die Komorer sind diese Tiere eine Spezialität. Die Hänge des Karthala sind für die Bevölkerung auch eine unerschöpfliche Naturapotheke. So werden zwetschgengrosse, rote Früchte als traditionelle Heilmittel eingesetzt. Ein sehr glitschiger Pfad zwängt sich durch den Primärwald. Oftmals folgt der Weg einem verwitterten Lavakanal. Bei rund 800 M.ü.M. treffen wir auf die ersten Brandrodungsfelder. Die Bauern stossen auf der Suche nach Land zusehends weiter in den höher gelegenen Wald vor. Darunter leidet auch die Vegetation rings um den Karthala. Zwischen Mvoni und Boboni stossen wir wieder auf eine Asphaltstrasse. Weit oben beugt sich die mächtige Schulter des Karthala. Sein Kopf hat sich bereits wieder in sein wolkenverwobenes Stirnband gehüllt.

 

 

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Franz Stadelmann