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Kongo in der Schweiz

Diesen Bericht schreibe ich nicht aus dem fernen Madagaskar, sondern aus der Schweiz. Vor ein paar Tagen bin ich aus der derzeitigen Hitze südlich des Aequators in den zaghaft beginnenden Frühling nördlich des Gotthards gekommen. Eigentlich hatte ich Schnee und Chaos erwartet, sowie ich es noch vor meiner Abreise gelesen hatte. Nur erreicht mich die abonnierte Zeitung in Madagaskar jeweils erst nach zwei, drei Wochen und in der Zwischenzeit ist der Schnee den Weg allen Wassers gegangen. Nun war es aber so, dass im Unternehmen meiner Schwester ein Lastwagenchauffeur plötzlich ins Spital musste und Ersatz gebraucht wurde. Spontan sagte ich zu, ein paar Fahrten nach Italien und Deutschland zu machen. So sah ich mich also hinter dem Steuer eines Anhängerzuges in Richtung Tessin und über die Grenze nach Süden. Lastwagenfahren habe ich von meinem Vater gelernt und später mein Studium in Basel als Fernfahrer verdient. Im Alter von gerade mal zwanzig war ich das erste Mal mit einem Sattelschlepper allein in Bagdad. Ich bin heute noch dem Unternehmer Alfred Steiger in Büron dankbar, dass er mir damals diese Chance gab. Später fuhr ich für andere Transportunternehmen: immer Fernfahrten und am liebsten möglichst weit weg. Also vor allem Nahostfahrten. Darüber berichtete ich in meinem Roman Dieselstrasse, der im Zytglogge-Verlag erschien. Später ging ich nach Afrika und die Welt der rollenden Räder rückte etwas in den Hintergrund.

Nun also sass ich wieder am Steuer eines Lastwagens. Die Entwicklung der Technik hat die Nutzfahrzeuge bequemer gemacht. Dank einer elektronischen Schaltung fällt das gelegentliche Kratzen des unsynchronisierten Fuller-Getriebes weg. Die Kabine gleicht einem Cockpit, der Fahrerstuhl ist luftgefedert. Ich habe mein Natel neben mir und bin über 079 4561441 erreichbar. Der Disponent weiss somit jederzeit, wo sich das Fahrzeug befindet. Als ich meine ersten Orientfahrten machte, fuhr ich weg und kam dann einfach drei Wochen später wieder zurück, ohne dass mein Chef genau wusste, wo ich mich befand.

Das letzte Dutzend Jahre hat viele Umwälzungen gesehen und so nahm ich an, dass auch in Sachen Grenzabfertigung mehr Effizienz eingezogen sei. Ich erinnere mich genau, wie ich vor zwanzig Jahren mit Frachtpapieren herumgerannt war, wie ich an diesem Schalter einen Stempel holen musste und dann in einem anderen Büro eine Unterschrift einzufordern war. Undsoweiter. Die Grenze bei Gaggiolo/Stabio hatte ich unzählige Male mit dem Lastwagen überquert – und seither hat sich nicht viel geändert. Zudem fühlte ich mich wie im tiefsten Afrika und nicht mitten in Europa. Die Lastwagengrenze war verstopft und die Abfertigungsprozedur nur gerade Eingeweihten bekannt. Wohl über hundert Lastwagen aus halb Europa warteten auf die Grenzabfertigung. Was hier jeden Tag an Material und Zeit vergeudet wird, hält durchaus afrikanischen Vergleichen stand. In Afrika verläuft grundsätzlich alles chaotisch. Die Wege durch dieses Chaos sind verschleiert und geheimnisvoll. Aber es gibt auch dort Wege und Pfade. Wie sie verlaufen und nach welchen Kriterien, ist nie offensichtlich. An der Grenze in der Südschweiz schien es mir gleich. Man muss zum Spediteur, dann auf eine unfreundliche Beamtin warten, um die Frachtpapiere zu bekommen, dann die richtige Spur erwischen und irgendwie gelangt man danach auf die Schweizer Seite der Grenze. Mitten in Europa hat sich ein Mittelalter erhalten, das den Errungenschaften des Managements und der Elektronik spottet. Es erscheint mir nachgerade, dass der Frachtverkehr absichtlich behindert wird. Möglicherweise steckt gar eine Politik dahinter. In Afrika ist das auch so, nur reduziert sich die Langsicht der Politiker auf einen Punkt: Geld. Vielleicht ist es hier auch so, wer weiss? Ich habe die Grenzen von über zwei Dutzend afrikanischer Staaten überschritten, immer natürlich mit dem üblichen Palaver und den üblichen Nervenproben. ‘Es gibt ein Problem‘, sagen jeweils die Zöllner und dann ist klar: Geduld ist gefragt, Verhandlungsgeschick und letztendlich einfach nur Geld. In Stabio, nachdem ich endlich weiterfahren konnte, hatte ich den Eindruck, eben eine Grenze im Kongo überschritten zu haben. Dann nahm ich mein Handy und telefonierte meinem Schwager. Somit konnte er den Empfänger informieren und auf die Viertelstunde festlegen, wann ich die Ladung abladen würde. Das hingegen ist in Afrika undenkbar.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 31. März 1999