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Frühes
Industriezentrum in Madagaskar Mit
einem gewaltigen Industriezentrum versuchte Madagaskar vor 150 Jahren,
sich von teuren Importen zu befreien. Wichtigstes Ziel war die
Waffenproduktion. Der Initiator war ein französisches Universalgenie. fsn
Mantasoa, im Januar 1996 Das
Städtchen Mantasoa liegt anderthalb Fahrstunden von der Hauptstadt
Antananarivo entfernt. Übers Wochenende bevölkern gutbetuchte Madagassen
und einige Europäer die Ferienhäuser am Lac Mantasoa, einem
buchtenreichen Stausee. Das lokale Technische Gymnasium ist auf dem
Grundstück der einst grössten Industrieanlage Madagaskars erbaut. Ein
Teil der Gebäude wurde vor über 150 Jahren aus Stein errichtet und wird
heute noch benutzt. Der über zehn Meter hohe Hochhofen zum Schmelzen von
Eisen steht intakt, jedoch unbenutzt, am Fuss eines Hügels. Ein
Keramikofen erhebt sich über dem Fussballfeld. Der Hügel ist heute noch
terrassiert und von überwucherten Ringwegen umgeben. Sie führten einst
zu den 3000 Unterkünften der Arbeiter. Ein paar Stauseen sind zu Teichen
versumpft. Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich hier das erste und für
lange Zeit das wichtigste Industriezentrum Madagaskars: hergestellt wurden
Glas und Kanonen, Seife und Papier. Mantasoa war die erste Industriestadt
Madagaskars. Ausgehend
von den Königshügeln rund um die heutige Hauptstadt Antananarivo schuf König
Andrianampoinimerina um 1800 den ersten Kern eines madagassischen Reiches.
Sein Sohn Radama I erweiterte den Einflussbereich mit einer aggressiven
Eroberungspolitik und öffnete dem Binnenreich den Weg zum Meer. Zur
Modernisierung seiner Armee stützte er sich auf französische und
britische Militärberater. Um die Armee und ihre Eroberungen zu
finanzieren, wurden Sklaven gegen Gewehre getauscht. Radama liess
britische Missionare ins Land mit der Auflage, Schul- und
Handwerkerunterricht zu erteilen. Dass sie auch missionarisch tätig
waren, tolerierte er. Sein plötzlicher Tod brachte 1828 seine Frau an die
Macht, die der zaghaften Öffnung Madagaskars ein Ende setzte. Ranavalona
I wies 1835 die Missionare aus dem Land, verfolgte die konvertierten
Christen und stützte sich auf die Traditionalisten. Ihre restriktive
Politik isolierte das Reich politisch und verunmöglichte
Handelsbeziehungen. Darunter litt insbesonders die Armee, die einerseits
noch weitere Gebiete auf der Insel erobern und zudem das Reich gegen die
Europäer verteidigen sollte. Einen Ausweg aus diesem Abseits fand ein
junger Schiffbrüchiger. Der
Franzose Jean-Baptiste Laborde wurde 1832 an der Ostküste in der Nähe
von Mananjary an Land gespült. Er fand Unterschlupf beim französischen
Handelsagenten De Lastelle. Laborde hatte in Indien ein Handelshaus gegründet
und war auf Schatzsuche an die Küste von Moçambique unterwegs. Zudem
hatte der 27-jährige Laborde in Indien kleine Kanonen hergestellt. De
Lastelle wusste, dass die Königin fähige Handwerker und Techniker
suchte, die Waffen und Schiesspulver herstellen konnten. Unverzüglich
stellte er seinem Landsmann ein Empfehlungsschreiben an die Königin aus.
Laborde wurde sofort für zwei Jahre angestellt. Mit
angelernten Arbeitskräften sollte Laborde in erster Linie 4000 Gewehre
herstellen. Die Königin kaufte sie ihm für einen Piaster pro Stück ab,
wobei Arbeitskräfte und Material vom Reich gestellt wurden. Erst
arbeitete Laborde in Antanamanjaka in der Nähe von Antananarivo. Dort
betrieb ein anderer Franzose bereits eine Giesserei zur Waffenherstellung.
Laborde schaffte es bald, pro Tag ein Gewehr herzustellen. 1837 verlegte
Laborde seine Produktion nach Mantasoa (61 km östlich der Hauptstadt) und
baute dort mit 20000 Zwangsarbeitern innerhalb von zwei Jahren das erste
Industriezentrum Madagaskars auf, das er Soatsimanampiovana (das unveränderlich
Schöne) taufte. Fortan produzierte er mit 3000 bis 4000 Zwangsarbeitern,
verurteilten Christen und Sklaven, Artikel aller Art. Die wichtigsten
Erzeugnisse waren Gewehre, Kanonen (gekennzeichnet mit R.M.: Ranavalona
Manjaka, Ranavalona Königin), Schwerter, Speerspitzen und Schiesspulver.
In Mantasoa wurden aber auch Glas, Seife, Papier, Sirup, Käse, Wein,
Spirituosen und vieles mehr fabriziert. Laborde bildete sich ständig
durch technische Bücher weiter und setzte die Erkenntnisse sofort um. Über
den 130 Kilometer entfernten Hafen in Mahanoro an der Ostküste, wo De
Lastelle aktiv war, importierte er die nötigen Maschinen aus Frankreich
und Kupfer aus Ceylon. Offen bleibt die Frage, ob Laborde wirklich alle
Kanonen selbst herstellte - oder die besseren Stücke nicht via den
verschwiegenen Hafen seines Freundes De Lastelle importierte. (Eine
identische Kanone unbekannter Herkunft, gekennzeichnet mit R.M., findet
sich seltsamerweise in Lourdes.) Diese
Industrieprodukte gaben dem zunehmend isolierten madagassischen Staat eine
gewisse Autonomie. Königin Ranavalona I besuchte Mantasoa 1847 - im
Gefolge von 20000 Personen. Zufrieden mit den Anlagen übergab sie dem
unersetzlichen Laborde mehrere Male grosse Summen Geld, die sie dem Volk
durch Sondersteuern abgepresst hatte. Laborde
war nicht nur in seinen Industriebetrieben in Mantasoa tätig. Für
Ranavalona I baute er auf dem Königshügel in Antananarivo ab 1838 den 39
Meter hohen fünfstöckigen Holzpalast Manjakamiadana. Der riesige
Zentralpfeiler aus Ebenholz wurde von 6000 Sklaven aus den östlichen
Waldgebieten hergeschleppt. Der 32 auf 22 Meter grosse Palast, das damals
grösste Gebäude Madagaskars, wurde in zwei Jahren fertiggestellt. Der
Missionsarchitekt James Cameron wurde 1869 beauftragt, um dieses Holzhaus
eine Verkleidung zu legen. Cameron wollte wohl die Dominanz von Stein über
Holz - oder von Protestantismus über Katholizismus - beweisen. Jedenfalls
liess seine Steinarchitektur die fragile Anmut des Holzes untergehen. Von
diesem von weither sichtbaren dominierenden Palast steht nur noch der
steinerne Mantel: im November 1995 wurde der von Laborde gebaute hölzerne
Kern das Opfer eines Brandanschlags. Laborde
musste auch technische Rückschläge hinnehmen: sein 1850 begonnenes
Projekt, eine 18 km lange Wasserleitung bis hoch zum Königinnenpalast zu
ziehen, scheiterte nach vier Jahren Arbeit kläglich, weil die
lehmgebrannten Röhren dem Wasserdruck nicht standhielten. Andererseits
führte er Blitzableiter ein und bewahrte dadurch die aus Holzhäusern
bestehende Hauptstadt wohl vor mancher Feuersbrunst. Die heute noch von
den Bauern gebrauchten Ochsenkarren mit ihren wuchtigen Holzrädern (charetty)
wurden von Laborde entwickelt. Ebenso tat er sich als Architekt von
Grabmalen hervor. So baute er für den 1852 verstorbenen Premierminister
Rainiharo, dem favorisierten Liebhaber von Königin Ranavalona I, ein
wuchtiges Steinmausoleum im Stadtteil Isotry. Der Stil des düster und
schwer wirkenden Grabmals mit den grossvolumigen Steinquadern wurde von
der Aristokratie sofort übernommen und gilt heute als die typische,
zentralmadagassische Grabkunst. Das
Schicksal von Laborde hing eng vom Goodwill der Königin ab. Königin
Ranavalona I hegte eine generelle Abneigung gegen das Christentum und
gegen die fremden Sitten und pflegte eine starke Vorliebe für die
althergebrachten Traditionen. Zudem hatte sie eine panische Furcht vor
einer Auslandsabhängigkeit. Ihr Ziel, wie auch jenes der Oligarchie, war
die Errichtung einer eigenen Industrie - und die Kontrolle der Verkaufskanäle
der hergestellten Produkte. Daher tolerierte sie das Treiben der
britischen Missionare, solange sie nützliche Produkte (Seife, Papier)
lieferten und dadurch die Auslandsabhängigkeit minderten. Insbesonders während
des ersten Konflikts mit Frankreich (1828 - 1830) wäre es unklug gewesen,
sich auch noch mit den Briten anzulegen. Mit
Laborde, der keiner Missionsgesellschaft angehörte und Kanonen
herstellte, konnte die Königin ab 1835 auf die weiteren Dienste der Engländer
verzichten. Zudem waren die Aufbauarbeiten der Missionare erledigt und die
madagassischen Arbeiter ausgebildet. Laborde konnte sich bei seinen
Industrieprojekten auf dieses lokale Know-how stützen. Einzig das
britische Universalgenie James Cameron wollte die Königin seiner
technischen Fähigkeiten wegen im Land behalten. Nachdem auch Cameron
ausreiste, weil er keine Waffen produzieren wollte, war Laborde der
einzige technisch versierte Baumeister, Erfinder und Konstrukteur des Königreiches. Laborde
wurde so eine Art Kulturheros für Zentralmadagaskar, ein unerschöpfliches
Universaltalent und genialer Organisator. Das war der britische Missionar
James Cameron allerdings auch. Doch Laborde hatte im Gegensatz zum
britischen Theologen keine Skrupel. Er wusste sich in Gesellschaftskreisen
zu bewegen, schmiss gern Feste, inszenierte auf dem städtischen Lac Anosy
kleine Seeschlachten zur Erbauung von Königin und Höflingen. Laborde
bereicherte sich durch seine vielfältigen Aktivitäten schamlos. Dadurch
war er für die Madagassen fassbarer und menschlicher als die
sittenstrengen Missionare. Weil
Jean Laborde 1857 in einen fehlgeschlagenen Komplott gegen die Königin
verstrickt war, musste er nach 25 Jahren Aufenthalt eiligst das Land
verlassen. Kaum war er weg, wurden die Anlagen in Mantasoa von den
Zwangsarbeitern grösstenteils zerstört. Erst nach dem Tod von Ranavalona
I kehrte Laborde 1863 wieder nach Madagaskar zurück. Diesmal als Konsul
Frankreichs. Der
einst schiffbrüchige Laborde schaffte es innerhalb von 30 Jahren, vom
technischen Experten mit Lokalvertrag zum einflussreichen Diplomaten im
Dienste Frankreichs aufzusteigen. Er starb schwerreich, sodass um die
Erbschaft - wenn auch Jahre danach und nur als Vorwand - ein Krieg
zwischen Frankreich und Madagaskar ausbrach (1883
-1885). In der Folge kam die Insel unter die Herrschaft Frankreichs. Die
militärische Annexion von 1895 fügte Madagaskar 1896 in das französische
Kolonialreich ein. In
Mantasoa wird heute das ehemalige Wohnhaus von Laborde, ein währschaftes
Holzhaus, vom Direktor des Allgemeinen Gymnasiums bewohnt. Das monumentale
Steingrab des Industriellen und Diplomaten Jean Laborde (1805 - 1878)
steht unweit davon. |
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Franz Stadelmann |
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Publiziert
in Neue Zürcher Zeitung 13. 02. 1996 |
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