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Von Städten: L., Nigeria, 1 500 000 Einwohner Lagos Und
es gefiel Gott, alles Licht und allen Schatten dieser Welt an einem Ort
zu versammeln. Es gefiel ihm, Menschen darin zu sehen: Menschen mit all
ihren Freuden und Leiden. Lange wandelte Gott durch Wüsten und in
Dschungeln, über Berge und entlang von Küsten. Schliesslich kam er
nach Nigeria und folgte den Sümpfen von Port Harcourt bis zu den
Laguneninseln im Golf von Benin. Dort steckte er einen Bambusstab in den
Sand und sagte: hier. Ein erschreckter Skorpion stach ihm in den Fuss
und Gott sprach: hier sollt ihr leiden. Dann ging er davon. Auf den
Bambus setzte sich eine Stechmücke, dann ein Aasgeier. Menschen liessen
sich nieder. Sie brachten Autos, bauten Häuser und Strassen. Es wurden
immer mehr, weit mehr als Sand am Strand. Lagos war entstanden. Heute
ist jeder Quadratmeter durchtränkt vom Willen Gottes: ein Dieb geht
neben einem Pfarrer, ein Baby spielt mit einem toten Hund. Kein
Verbrechen, das diese Stadt nicht schon erlebt hat. Jeden Tag neu.
Niemand traut niemandem. Bettler in Heeresstärke an den Ampeln, aber
auch fliegende Händler, Polizisten auf der Suche nach Einkommen. Lagos
ist die Strafe Gottes für Afrika. Kein Schritt ohne Angst, kein Meter
ohne Kloake. Die Poetik des Lebens ist ertränkt. Die herrlichen Inseln
sind nun überbaut. Die majestätischen Lagunen voll Piraten. Auf dem
Expressway fliehen die Bewohner hinaus in ihre Siedlungen, umgeben von
Mauern und Stacheldraht - und bleiben in Furcht. Lagos ist ein
Grosstadtdschungel, der seine Bewohner täglich auffrisst und nachts
wieder ausspuckt. Jene die bleiben, tagsüber und auch nachts, finden
und suchen zugleich. Ganz innen in der Stadt gibt es einen Gemüsemarkt
auf Lagos Island, tagsüber tausend Händlerinnen, nachts Musik und
Tanz. Freude, nochmals einen Tag überlebt zu haben. Afrika ist
unberechenbar: die Marktfrau lacht, ihr Gesicht überzogen von Licht und
Schattenstreifen des Bambusdaches. |
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Franz Stadelmann |
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Publiziert in Neue Zürcher Zeitung 1997 |
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