.

 

Der lange Weg zurück

Es ist Samstag und ich erwache durch Hühnergegacker. Ich bin auf der Missionsstation in Fanjakana. In der Umgebung dieses kleinen Dorfes wirkt seit über vierzig Jahren der Schweizer Missionar Werner Ackle. Umgebung heisst: bis 120 Kilometer hinaus in den Busch. Während der Regenzeit sind die Naturpisten auch für einen Landrover nicht passierbar und während dieser Zeit des Wassers benutzt Pater Ackle einen Einbaum. Die Tourneen dauern oft Wochen. Der 70-jährige Missionar aus dem Fricktal ist vor allem sozial tätig: er baut und unterhält Schulen und Krankenstationen. Er ist auch Bank, Berater, Arzt, Brückenbauer, Strassenkonstrukteur. Natürlich auch Seelsorger. Ich habe ihn aufgesucht, weil wir für die Schweizer Hilfsorganisation MIVA einen Film drehen wollen. Thema: Transportprobleme in einem Land des Südens. Eine bessere Umgebung für diesen Film ist kaum denkbar. Sofort beginnt Père Ackle von den vielfältigen Transportproblemen zu erzählen: weggeschwemmte Brücken, Pisten unter Wasser. Während der Trockenzeit Sand und Staub. Die seit Jahren kaputte Fähre (Motorschaden) über den Fluss Mangoky. Und immer wieder diese nicht abbrechenden Bedürfnisse: Kranke sollten ins Spital transportiert werden, Lehrer und Schulmaterial in die Dorfschulen, Medikamente in die Dorfapotheken. Doch es mangelt an Fahrzeugen. Zudem ist ihr Unterhalt kostspielig und schwierig, denn vor Ort findet man keine Ersatzteile. So hat das staatliche Spital in Beroroha zwar ein Toyota-Allradfahrzeug, doch dessen Vorderachse ist kaputt. Eines der beiden Motorräder hat ein Zündproblem und das andere ist nur halbwegs brauchbar. Die Sanitäter sind während der Impfkampagnen tagelang zu Fuss unterwegs: der Impfstoff sollte dabei bei Temperaturen um den Gefrierpunkt aufbewahrt werden. Doch nach zwei Stunden ist das Eis in den Kühlboxen geschmolzen. Der Missionar hat schon unzähligen Kindern auf die Welt geholfen, manchmal nachts im Sand vor dem Licht des Landrovers, weil er den Fluss nicht überqueren konnte. Eine Reihe lokaler Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hilft, die vielfältigen Probleme der Region zu bewältigen. Denn der Staat versagt und ist korrupt. Die Leute sind arm, ungebildet und werden oft genug einfach nur ausgenutzt. Der Missionar mit dem grauen langen Bart glaubt an die Zukunft der Kinder, glaubt an Schulbildung. Und manchmal, wenn sein Fahrzeug wieder ‘en panne‘ ist, geht auch er hinaus in den Busch, zu Fuss, tagelang und besucht seine Schulen und Krankenstationen. Wir unterhalten uns den ganzen Morgen, doch dann möchte ich gehen, denn ich sollte drei Tage später in der Hauptstadt sein: 500 Luftkilometer weg. Der Chauffeur, gleichzeitig der Mechaniker der Mission, fährt mich nach Sakaraha: für die 200 Kilometer brauchen wir acht Stunden. Holperpiste, Sand, Schlamm, Flussdurchfahrten, Steilhänge. Alles, was sich die Camel Trophy erhofft. Hier gehört dies zum Alltag. Natürlich ist die Ladepritsche voll Leute: ein Gendarme muss zu seiner Kompanie, ein Schullehrer eine Fortbildung besuchen, jemand will zu Verwandten, ein Junge hat eine grünlich eitrige Wunde am Knie. Es dunkelt langsam ein: die Steppe färbt sich golden unter dem azurblauen Himmel. Unser Landrover zieht eine dichte Staubwolke hinter sich her, nicht weil er schnell fährt, sondern weil der Sand tief ist. Rinderherden kommen uns entgegen, gehütet von mageren Kindern. Wir kreuzen Ochsenkarren und später einen Lastwagen, der mit einer Reifenpanne liegengeblieben ist. Die Passagiere stehen geduldig herum und die beiden Bordmechaniker reparieren den Schlauch. Ein Kleinkind schreit unaufhörlich: es sollte ins Spital, irgendwas stimmt nicht mit dem Bauch, sagt seine Mutter. Ergeben wartet auch sie. Wir nehmen sie mit. Erst um zehn Uhr abends kommen wir in Sakaraha an: Asphaltstrasse und nur noch 120 Kilometer bis Tulear. Der Asphalt ist löchrig und so braucht ein Auto nochmals über zwei Stunden bis zur Provinzhauptstadt. Das Kind kommt ins Spital. Ich mache mich auf den Weg nach Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars. Ich war vier Tage unterwegs, um ein Gespräch zu führen, das man in Europa in keinen fünf Minuten am Telefon erledigt.

top 

 

Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 5. August 1999