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TROPISCHES FUSSVOLK 

Die Madagassen absolvieren jeden Tag einen halben Marathon. Aber bei sportlichen Anlässen bleiben die ausgesprochenen Fussgänger meist Zuschauer, während die Läufer und Läuferinnen an ihnen vorübereilen - barfuss.

Als ein tapferer griechischer Soldat 490 vor Christus die Nachricht des Sieges über die Perser nach Athen überbrachte, lebten auf Madagaskar noch keine Menschen. Erst vor tausend Jahren kamen Seefahrer aus Indonesien, Arabien und Afrika auf die ferne Insel. Heute bewohnen fast 14 Millionen Madagassen das tropische Eiland im Indischen Ozean. 80% der Bevölkerung sind Landwirte und bauen zumeist Reis an. Doch der Grossteil der Madagassen überlebt nur gerade knapp und verarmt zusehends. Die Ökonomie kann mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten. Sport als Freizeitbeschäftigung liegt nicht drin, obwohl die Madagassen ein ausgesprochenes Fussvolk sind: jeder Madagasse legt durchschnittlich 20 Kilometer zu Fuss zurück - pro Tag.

Trotzdem: die Flughafenstrasse in Antananarivo, weil asphaltiert und flach, ist in den kühlen Morgenstunden voll von Joggern und Sprintern. In der Schule wird Sport als Unterrichtsfach gelehrt. Der Schulsport wurde gar als deutsches Entwicklungshilfeprojekt unterstützt. Madagaskar hat ein olympisches Komitee, rund ein Dutzend Sportverbände und zahlreiche Vereine.

Leichtathletik erfreut sich einer grossen Beliebtheit, und Laufen ist besonders bei der Jugend in Mode. Dies auch, weil diese Sportart überall ausgeführt werden kann und in ihrer Grundversion keine spezielle Ausrüstung verlangt. Es gibt allerdings - ausserhalb von Gendarmerie und Militär - keine 100-km-Läufe, keine OL, keine Bergläufe, keine Triathlon-Meisterschaften und keine Duathlon-Wettkämpfe - und keine Waffenläufe. 

Aber es gibt zahlreiche Marathonläufe und Bruchteile davon. Der Höhepunkt des madagassischen Laufjahres bildet das internationale Marathonrennen in der Region um die Hauptstadt Antananarivo - auf 1200 Metern über Meer. Dieses jeweils am dritten Sonntag im November stattfindende Rennen weist sogar eine internationale Beteiligung auf. Während des Jahres organisiert der Athletikclub von Madagaskar (FMA: Fédération malagasy d'athlétisme) weitere Läufe in verschiedenen Städten: so in Mahajunga an der Nordwestküste, in Morondava an der Westküste und in Ambositra auf dem Hochland. Zudem werden gelegentlich Viertel- und Halbmarathonläufe veranstaltet, wie beispielsweise der Zebumarathon von Ambohitrabiby. (Zebu ist das madagassische Buckelrind). Das Athletikjahr beginnt im Februar mit dem Halbmarathon 'La vache qui rit', der vom lokalen Importeur dieses Weichkäses gesponsort wird. Das Alter der Teilnehmer liegt mit durchschnittlich 20 Jahren wesentlich tiefer als bei europäischen Rennen. Allerdings beendete auch der über 60jährige Veteran Paul Rakotoanahary letzthin seinen x-ten Halbmarathon unter 2 Stunden. Laufen ist eher eine Männerdomäne: auf zehn Männer rennt eine Frau mit. (Reine Frauenläufe sind in Madagaskar unbekannt.) 

Die grosse Mehrheit der Teilnehmer sind natürlich nationale Sprinter. Unter den Läufern finden sich immer auch etwa ein Dutzend Angehörige der im Land ansässigen Europäer bis hin zu akkreditierten Diplomaten. So nimmt beispielsweise der Schweizer Konsul Jakob Schranz regelmässig an Marathonrennen teil. Er lief übrigens kürzlich zudem noch für eine gute Sache: seine Landsleute honorierten seine Leistung während eines Halbmarathons mit Geldspenden, die den Schulbesuch der Kinder einer verarmten madagassischen Familie schweizerischer Herkunft ermöglichte. 

Die Veranstalter können sich nur auf wenige Sponsoren abstützen und darunter finden sich beispielsweise keine Schuhhersteller. Als Hauptsponsoren der Rennleitung treten die lokale Bierfabrik STAR auf, die nationale Fluggesellschaft Air Madagascar, die Mineralwassermarke EAU VIVE, die Versicherung Ny Havana und die Nobelhotels Colbert und Hilton. 

Die einzelnen Teilnehmer hingegen können normalerweise nicht auf Sponsoren zählen. Ihnen fehlen zumeist auch die nötigen Finanzen für eine Laufausrüstung europäischen Zuschnitts. So treten die Läufer meist nur mit einer sehr rudimentären Ausrüstung an. Bei einem normalen Rennen präsentiert sich etwa die Hälfte der Teilnehmer ohne Schuhe. So lief die schnellste Frau beim letzten 'Vache qui rit'-Halbmarathon barfuss und dies in der beachtlichen Zeit von 1.19.01. Der Erstplatzierte der Hauptklasse Männer (1.10.08) steckte ebenfalls in Hornhautschuhen.

Die Madagassen laufen gern und viel, aber in der Weltelite haben sie nie vorne mitgemischt wie ihre Kollegen aus Kenya. Der Präsident des Athletikvereins und Präsident des olympischen Komitees, Roger Henri, führt dies auf die unterschiedlichen Fördermassnahmen in den ehemaligen Kolonien zurück. Das britische System erlaubte Jungtalenten weit mehr sich zu entwickeln als das französische. Und das wirkt sich bis heute aus. Doch Henri, früher selber Sportler und heute Vizedirektor der Air Madagascar, kann nach Jahren von Aufbauarbeit stolz sagen, dass die madagassischen Athleten inzwischen innerhalb der frankophonen Welt vorne mitmischen.

Die wenigen nationalen Stars kommen zumeist aus der Armee, der Polizei und von der Post. Also aus Organisationen, die Trainingsgelegenheiten bieten. Der bekannteste Athlet ist der Polizist Jean de la Croix, der 'Mahatana' (der Ausdauernde) genannt wird. Sein Siegesplatz wird ihm ab und zu vom Postbeamten Nicolas Razafindrakoto streitig gemacht. Der Laufsport ist weitverbreitet, und doch ist es auffallend, dass bei den Veranstaltungen nur ein paar wenige hundert Teilnehmer mitmachen. Doch für viele Madagassen ist allein die Fahrt zum Anlass zu teuer, zudem können sie oft nicht einmal die Einschreibegebühr aufbringen: 'La vache qui rit' verlangt 1000 madagassische Francs (rund 35 Rappen). So nahmen am letzten 'Vache qui rit' 640 Läufer und Läuferinnen teil - und nicht 1000, wie von den Veranstaltern erhofft.

Dass Europäer an den Rennen mitmachen, überrascht die Madagassen zuweilen. Denn die 'Vazaha', wie sie genannt werden, sind normalerweise kaum über längere Distanzen zu Fuss unterwegs. (Bezeichnenderweise malten madagassische Schulkinder anlässlich eines Wettbewerbs die Europäer ohne Beine: weil sie diese Menschengattung nur als im Auto sitzend kennen.) Wenn aber die Läufer en route sind, werden die sportlichen Europäer mit 'Merci vazaha' begrüsst und lautstark aufgemuntert. Der Parcours ist jeweils dichtgesäumt von interessierten Zuschauern. Entlang der Strecke lässt das OK zur Erfrischung nasse Schwämme verteilen und gibt Getränke aus: Quellwasser statt isotonische Drinks. Doch oft sind die offiziellen Getränke schnell aufgebraucht. Dann strecken hilfreiche Zuschauer den schwitzenden Läufern ihre eigenen Trinkflaschen entgegen. Die Temperaturen betragen über 20 Grad im Schatten. Das Rote Kreuz nimmt sich entlang der Piste den ermatteten Fällen an.

Wer dann am Zieleinlauf ankommt, wird von der Menschenmenge bejubelt - und mit Wasser aus dem Tankwagen abgespritzt. Das Preisgeld ist für madagassische Verhältnisse hoch: die Milchkuh 'Vache qui rit' zahlt eine Prämie von 100000 FMG (rund 35 Franken) an den Erstplatzierten. Und dies entspricht einem Monatsgehalt eines Junglehrers. Der internationale Marathon lockt gar mit einer Million madagassischen Francs.

 

 

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Läufer 1 / 1995