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Die Flucht vor den grossen Wassern

Reportage über eine Nothilfeaktion in Mozambique

Zu Beginn dieses Jahres schwoll der viertlängste Strom Afrikas kontinuierlich an. Fast im ganzen Einzugsgebiet des Zambezi regnete es vom Januar bis tief in den April hinein, quasi ohne Unterbruch. Im März war die Katastrophe da: Menschen flohen zu Hunderttausenden vor den ansteigenden Wassern. Ihre Siedlungen lagen im flachen Ufergebiet des Flusses.

Der Distrikt Tambara liegt am Südufer des Zambezi und gehört zur Provinz Manica im mittleren Teil von Mozambique. Dort ist Caritas Schweiz seit einem Jahr mit Hilfsprogrammen tätig. Ich verfolgte als Chefdelegierter die Situation der Wassermassen, soweit dies überhaupt möglich war. Denn Informationen trafen nur spärlich ein und der Zambezi lag fast vierhundert Kilometer weiter nördlich. In den Flachgebieten am Unterlauf war der Fluss bereits kilometerweit in die Ebenen eingedrungen, nun war auch aus Tambara zu hören, dass Dörfer weggeschwemmt worden waren. Offenbar waren allein im mittleren Lauf des Zambezi fünftausend Familien auf der Flucht. Schnell und unkonventionell bewilligte Caritas Gelder, um eine Nothilfeaktion zu starten. Bis zum Rio Muira war die Erdpiste befahrbar, über die dahinter liegenden Gebiete lagen nur dürftige Informationen vor. Denn es gibt keine Brücke über den Fluss Muira und die Hochwasser verhinderten die Fahrt durch die üblicherweise benutzte Furt im Flussbett. Somit war ein Grossteil des Distrikts Tambara und mithin 17000 Menschen von der Umwelt abgeschlossen. Mit meinem dreiköpfigen, lokalen Team machte ich mich mit 15 Tonnen Hilfsgütern zum Muira auf.

Wir verhandelten mit der Lokalbevölkerung, um die Säcke und Kartons auf dem Kopf durch den Fluss zu tragen. Die Leute rissen sich förmlich um die Fracht, denn wir bezahlten natürlich für die geleistete Arbeit. Im Distrikt Tambara gibt es kein Einkommen, keine Fabrik, keine Arbeitsplätze. Die Leute leben von Ackerbau und Viehhaltung. Wir wateten durch das bauchnabelhohe Wasser des Flusses. Dann begab ich mich mit einem Mitarbeiter auf den Weg, um nach rund 60 Kilometern bis zum Fluss Zambezi zu gelangen. Abends spät kamen wir dort an, zu Fuss und völlig durchnässt. Am nächsten Tag sah ich einen Lastwagen einer Baufirma, der fahrtüchtig war. Ich heuerte ihn an und so transportierten wir die 15 Tonnen nach Nhacolo. Sie wurden sofort an die bedürftige Bevölkerung verteilt. In Nhacolo hatten sich bereits mehrere hundert Familien eingefunden. Desira Sineque, alleinerziehende Mutter zweier Kleinkinder, flüchtete vor 15 Jahren vor dem Krieg, nun vor dem Wasser: ’Ich wollte erst nicht weg. Aber es regnete und der Fluss kam bis zu meinem Haus. Als die anderen im Dorf weggingen, nahm ich meine Kinder und ging auch. Mitnehmen habe ich nichts können. Wir waren drei Tage unterwegs, ich hatte Angst vor Krokodilen und ausgeschwemmten Minen.’

Meine Mitarbeiter besuchten jede Familie persönlich und evaluierten die Bedürfnisse. Sie kontrollierten aber auch, ob die jeweilige Familie in unsere Kriterien passte oder nicht. Von unserer Nahrungsmittelnothilfe durften nur jene Familien erhalten, die alles verloren hatten, also Haus, Pflanzfeld, Besitz und Vieh. Letztlich kamen wir auf rund 1200 Familien, was über 6000 Personen entspricht. Sie erhielten Maiskörner, Bohnen, Salz und Speiseöl. Und auch Seife. Das mag wenig erscheinen, doch für diese Familien machte es den Unterschied zwischen Überleben und Hunger, vielleicht gar Tod. Jede Familie erhielt eine durchnummerierte Karte zur Identifikation. Dieser plastifizierte Ausweis war fortan ein kostbares Dokument für die Bevölkerung, denn es ermöglichte den Zugang zu Nahrung.

Die Aktion war nicht einfach zu managen. In Tambara gibt es kein einziges Telefon, wir hatten keinen Funk. Es gibt dort keine Tankstelle, sodass wir den Treibstoff ebenfalls hintransportieren mussten. Das grosse Problem jedoch blieb der Fluss Muira. Er war bis im Mai nicht mit Lastwagen zu durchfahren. Dies erforderte ein Warenlager auf beiden Seiten des Flusses und das Hinüberschaffen auf dem Kopf. Total wurden 273 Tonnen durch den Fluss getragen, was etwa 6200 individuellen Flussdurchquerungen entspricht.

Die Wasserflüchtlinge hatten sich notdürftige Behausungen aus Schilfgras gebaut, manchmal waren sie mit Plastikbahnen überdeckt. In regelmässigen Abständen informierten wir die Leute über die bevorstehenden Nahrungsabgaben. Wir führten die Verteilungen in neun Zentren durch, die insgesamt 12 Camps umfassten. Das lief so ab, dass die Leute zu einem zentralen Platz ihres Camps kamen, um ihre Quote entgegenzunehmen. Sie bestand normalerweise aus 50 kg Mais, 5 kg Bohnen, zwei Kilo Salz und zwei Liter Speiseöl. Dazu kamen zwei Stangen Seife, was zwei Kilo entspricht. Die Familien wurden namentlich aufgerufen, erhielten ihre Zuteilung und quittierten den Empfang mit Fingerabdruck auf unseren Listen. Lesen und schreiben ist in diesen Zonen nur wenig verbreitet.

Die Aktion wurde von Caritas Schweiz finanziert. Doch das Welternährungsprogramm der UNO spendete ebenfalls rund einen Drittel der verteilten Menge. Insgesamt wurden damit rund 330 Tonnen verteilt. Zudem organisierten wir den Nachschub an Trinkwasser, dazu hatten uns Médecins sans Frontières Wassertanks und Pumpen zur Verfügung gestellt. Alle Produkte konnten lokal aufgekauft werden. Es war so wie oft in Afrika: neben einer Hungerzone finden sich Überschussgebiete, doch mangelnde Strassen und unzureichende Organisation lassen den Warenaustausch verhindern.

Die Operation dauerte drei Monate. Sie fand Mitte Juni ihr Ende. Es gab keine Seuchen und Todesfälle, keine Diebstähle und kein Aufruhr. Trotzdem bleibt ein zwiespältiges Gefühl. Denn die meisten der Familien werden wieder zurück zum Fluss gehen, sich dort eine Behausung bauen und auf der fruchtbaren Schwemmerde ihre Felder anlegen. Irgendwann wird der Zambezi erneut über die Ufer treten und die Leute werden wieder fliehen.

 

1. Kastentext:

Quasi zur gleichen Zeit fand 700 Kilometer südlich eine Dürre statt. Hier wirkt der Missionar Alois Graf, der aus Luthern Bad stammt. Um einer aufziehenden Hungersnot entgegenzuwirken, verkaufte der Pater Mais zum halben Preis. Dies, um die Leute nicht an Gratislieferungen zu gewöhnen, aber auch, weil aus dieser Region zahlreiche Familienmitglieder in Südafrika arbeiten und Geld heimschicken. Somit war Geld da, aber kein Mais. Pater Graf von der Missionsgesellschaft Bethlehem belieferte mit diesem System tausende von Familien und linderte dadurch das Hungerleiden in einer Region, die so gross ist wie die halbe Schweiz. In dieser Aktion arbeitete Pater Alois Graf ebenfalls mit Caritas zusammen, die den Ankauf und den Transport von hunderten von Tonnen Mais organisierte.

2. Kastentext:

Mozambique wurde bereits im Februar 2000 von massiven Überschwemmungen heimgesucht. Betroffen waren vor allem die Küstenregionen der Südhälfte des langgezogenen Staates. Besonders heftig wurden die Gebiete am Unterlauf des Limpopo heimgesucht. In Xai-Xai waren die Häuser der Unterstadt bis zu den Dächern unter Wasser. Dieses Jahr führten ausgedehnte Regenfälle in Malawi, Zimbabwe und in Mozambique selber dazu, dass die im Mittelteil von Mozambique fliessenden Ströme über die Ufer traten. Der Zambezi, aber auch der Pungue und der Save vertrieben um die 300’000 Menschen, unterbrachen Strassen und zerstörten Pflanzfelder, Dörfer und Infrastrukturen.

 

 

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Franz Stadelmann

 

 

publiziert in Quattro / Willisauer Bote 18. Oktober 2001