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Die Stimme in der Zukunft

Wer blickt schon immer über jeden Hügel? Ich jedenfalls nicht. Oft sind Ereignisse und Begegnungen seltsam und nur schwer zu erklären. So folgende Begebenheit vor ein paar Monaten. Ich war unterwegs in einem Quartier in Antananarivo. Allein und ohne Wertsachen, also ausgerüstet für Begegnungen der unliebsamen Art. Denn dieses Quartier geniesst nicht den besten Ruf. Trotzdem wollte ich dorthin, denn dort wohnt der berühmteste Musiker Madagaskar. Es ist ein Mann über siebzig, der seine Flöten aus alten Wasserrohren und aus Gartenschläuchen bastelt. Mit seiner Musik hält er jedoch locker tausend Zuschauer in Atem und das zwei Stunden lang. Konzerte gibt er weltweit und trotzdem wohnt er in einer minderen Hütte in diesem Quartier voll Unrat und stehendem Wasser. Ich war also zu Fuss unterwegs, um Rakoto Frah zu besuchen. Plötzlich trat eine alte Frau in Bettlerkleidern neben mich. Sie hatte, was in Madagaskar äusserst seltsam ist, strahlend blaue Augen. Geh zurück, zischte sie. Ich war gerade im Begriff, eine Strasse zu überqueren. Ich schaute sie wohl leicht erstaunt an. Dann und wirklich im selben Moment krachte es drei Meter vor meiner Nase: Autounfall. In solchen Momenten wird es einem erst mulmig, dann sehr komisch. Ich drehte mich um, die Frau war verschwunden. Es gab wie immer bei Unfällen einen kleineren Volksauflauf und ich war froh, nicht im Zentrum des Interesses zu stehen. Der Unfall war nicht sehr dramatisch, aber ein paar Schrammen hätte ich bestimmt abgekriegt. Woher wusste diese Frau, was geschehen würde? Ich ging noch ein paarmal in dieses Quartier, aber ich fand sie nicht mehr. Diese seltsame Frau. Ein paar Wochen später kam ein Mädchen und richtete aus, seine Grossmutter wolle mich sprechen. Das Mädchen beschrieb als Treffpunkt jene Strasse, wo sich der Unfall ereignet hatte. Ich ging hin - und blickte in diese blauen Augen. Wie sie mich gefunden habe, wollte ich wissen. Sie wisse, wo ich arbeite, war ihre verblüffende Antwort. Sie suche Arbeit für ihre Enkelin: 14 Jahre alt, ohne viel Schulbildung. Solche Bitten erhalte ich viel, wer sucht nicht schon Arbeit in Madagaskar? Der Frau gegenüber fühlte ich mich jedoch verpflichtet. So ging ich die Varianten durch: Kinderarbeit ist so eine Sache. In die Schule schicken? Mit 14 wäre das schwierig. Eigentlich sah ich das Leben des Mädchens schon vor mir: mit 15 wird es ein Kind haben, bis 20 noch zwei weitere und ein paar Abtreibungen. Es wird betteln wie seine Grossmutter. Seinen Vater kennt es nicht, die Mutter ist oft während Wochen verschwunden. Die blauen Augen sahen mich innständig an. Was konnte ich für das Mädchen tun? Neu einkleiden? Geld geben? Arbeit? Ich bot an, es könne jeden Vormittag mein Auto bewachen. Dieser Job war im Moment frei. Ich habe meistens jemanden, der neben meinem Auto steht und Diebstähle verhindern – sollte. Der vorletzte hatte selber zugegriffen und war verschwunden. Der letzte war immer unpünktlicher gekommen, ausser Mitte und Ende Monat zur Lohnzahlung. Wir vereinbarten den Lohn und fortan stand das Mädchen jeden Vormittag neben meinem Auto. Nachmittags hatte es frei. Nach zwei Wochen fand ich mein Auto ohne Hinterräder. Hübsch auf zwei Steinen aufgebockt sah es aus wie eine flügellahme Ente. Das passiert ab und zu und ich beschaffe mir jeweils Ersatz auf dem Markt für Diebesgut. Das Mädchen tauchte dann nicht mehr auf. Doch ein paar Tage später stand die alte Frau neben dem Auto. Sie entschuldigte sich. Aber ihr Enkelkind sei in schlechte Gesellschaft geraten und habe bei diesem Diebstahl mitmachen müssen. Wir meditierten dann noch ein paar Minuten über die bedauerliche Degradation der Jugend und dann stellte ich ihr die Frage, die mir schon lange auf dem Herzen liegt: meine Zukunft. Das war dann auch das Zeichen, dass dieser Diebstahl keine Spuren in unserer seltsamen Freundschaft hinterlassen würde. Sie sah mich tief an: du wirst ein Telefon erhalten und sofort wissen, dass du seit langer Zeit darauf wartest. Mehr wollte sie nicht sagen. Ich fand es etwas mager für den Gegenwert von zwei nicht ganz abgefahrenen Reifen samt Felgen. Seither weiss ich nie, ob ich nun eben dieses besagte Telefon geführt habe oder nicht. Ich habe mich entschieden, noch etwas darauf zu warten. Übrigens sah ich das Mädchen letzthin, es war schwanger.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 25. November 1999