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Blut am Strand der Schildkröten

Die Grüne Meeresschildkröte hat ihren Lebensraum im Indischen Ozean. Die zentnerschweren Tiere legen auf den Komoren ihre Eier und geraten vielfach in die Hände von Tierschlächtern. Junge Komorer versuchen sie zu schützen.

Einsetzende Flut, acht Uhr abends. Die Tropennacht ist seit zwei Stunden eingebrochen. Matrafi Hamadi Abdelallah begibt sich mit seinem Helfer Akbar auf Kontrolltour. Die beiden jungen Männer sind Freiwillige des Jugendvereins Adsei im Küstenort Itsamia. Das kleine Dorf befindet sich im Osten der Insel Mohéli, eine der drei Inseln der Islamischen Bundesrepublik der Komoren. Hamadi und seine zwei Dutzend Freunde schützen Meeresschildkröten, die an die Strände von Itsamia kommen, um Eier zu legen. Doch die zentnerschweren Reptilien haben einen grossen Feind: der Mensch. ‘Die Leute töten sie wegen des Fleisches und um den 120 bis 150 cm langen Panzer zu verkaufen‘, sagt Hamadi. ‘Obwohl beides verboten ist‘. Denn die grüne Meeresschildkröte (chelonia mydas) ist gefährdet und befindet sich im Anhang des internationalen Artenschutzabkommens (C.I.T.E.S.) von 1981. 

Wir wandern aus dem Hüttendorf Itsamia in Richtung Süden einer Lagune entlang. Der Ozean liegt wie eine mattschwarze, leicht gerippte Graphitfläche vor uns. Hinter einer schmalen Halbinsel aus schwarzem Lavagestein öffnet sich ein Strand von einem Kilometer Länge. Wieder eine Lavabarriere und ein weiteres Band aus feinkörnigem Sand. Wie die Abdrücke eines meterbreiten Traktorenreifens ziehen sich Schleifspuren der 130 bis 250 Kilo schweren Schildkröten den Strand hinauf. Der Landgang erfolgt nur bei einsetzender Flut. Das wissen auch die Diebe. Dieser Tierschlachterei setzen die Jugendlichen von Adsei ein Konzept entgegen. Sie haben den Strand für Touristen zugänglich gemacht. Durch die Präsenz von Leuten wagen es die Diebe weniger, sich an die Schildkröten heranzumachen. Doch es kommen kaum Touristen auf diese abgelegene Insel im Indischen Ozean. Letztes Jahr waren es keine hundert Besucher. ‘Und doch hat es geholfen. Im Durchschnitt finden wir in unserer Zone noch immer 20 Karkassen pro Monat‘, beklagt sich Hamadi. Auf der nur 211 Quadratkilometer grossen Insel Mohéli sind fünf Legezonen bekannt. Doch dort gibt es keine Jugendgruppen, die sich um den Schutz kümmern. ‘Wir machen in den Dörfern Informationskampagnen. Wir sagen den Leuten, esst keine Schildkröten. Unser Slogan ist: Ich esse nicht, ich schütze. Damit haben wir einigen Erfolg gehabt, und natürlich machen wir weiter.‘ Die Mitglieder der Jugendgruppe arbeiten auf freiwilliger Basis. Es ist nicht immer leicht, jemanden zu finden, der sich den Abend am Strand um die Ohren schlägt. Und noch vor wenigen Monaten gab es handfeste Auseinandersetzungen mit den Dieben. ‘Wir liefern sie der Polizei aus. Aber oft kommen sie wieder frei, weil jemand beim Polizeichef interveniert.‘

Meeresschildkröten leben vor allem in tropischen Meeren bei Wassertemperaturen zwischen 25 und 30 Grad. Von den sieben bekannten Arten kommen zwei im südwestlichen Indischen Ozean vor: die grüne Meeresschildkröte (chelonia mydas) und die kleinere Falkenschnabel-Schildkröte (eretmochelys imbricata). Entlang der Küstenlinie von Mohéli gehen die Vertreterinnen der grösseren Art auf Landbesuch.

Die 20 bis 25 Gramm schweren Jungtiere kraxeln nach acht Wochen aus den Eiern, bleiben noch ein paar Tage im sicheren Sandnest ein paar Handspannen unter der Oberfläche, noch immer durch die Nabelschnur mit dem Eigelb verbunden. Wie bei allen Reptilien entscheidet die Temperatur des Sandes, ob aus dem Ei ein Weibchen oder ein Männchen schlüpft. Wie auf Kommando graben sie sich bis knapp unter die Oberfläche hoch. Bei Morgengrauen oder am Spätnachmittag strampeln sie wie bei einem Wettrennen zum Meer. Auf den paar dutzend Metern Strand fallen viele den Greifkrallen der kreisenden Raubvögel zum Opfer. Die drei bis fünf Zentimeter langen Jungtiere lassen kleine Rieselspuren hinter sich. Sie rudern im Sand als ob sie schwimmen würden. Mit ihren drei Zentimeter langen Vorderbeinen und den kurzen Hinterbeinen hechten sie etwas unbeholfen, aber kräftig voran. Wie kleine Panzer einer Spielzeugarmee schieben sie sich durch den Sand. Unbeirrt tauchen sie ins Spritzwasser der auslaufenden Wellen und verschwinden. Im Wasser warten Raubfische. Die Überlebenden werden sich im ersten Lebensjahr von den Meeresströmungen treiben lassen und sich von Weichtieren, Muscheln und Fischeiern ernähren. Nach rund einem Jahr leben sie in geringen Meerestiefen vegetarisch von Algen und Meeresvegetation im Umkreis der Inseln und Atolle rings um Madagaskar.

Nach acht bis zehn Jahren sind die grünen Meeresschildkröten geschlechtsreif. Die Zeugung findet im Wasser statt, wobei manchmal mehrere Männchen um ein Weibchen buhlen. In der Mitte jedes Beins wächst ein Sporn, eine Art Hundekralle. Bei den Männchen ist diese Kralle stärker ausgebildet als bei den Weibchen. Beim Zeugungsakt harkt sich das Männchen damit auf dem vorderen Schildpatt des Weibchens fest. Dann machen sich die Weibchen aktiv zu ihren Legeplätzen auf, eine Reise von 500 bis 3000 Kilometern. Sie sind erstaunlich ortstreu und finden ihre alten Legeplätze oft auf den Meter genau. Diese Gewaltstour kostet Kraft. Das Weibchen verliert auf dieser Reise durch die Ozeane bis zu 30 Prozent seines Gewichts. Obwohl die Meeresschildkröten ausschliesslich im Wasser leben, haben sie die Gewohnheiten ihrer Reptilverwandten auf dem Land beibehalten: Fortpflanzung durch Eier, keine Brutpflege. 

Wir wandern mit  unseren beiden Begleitern den Sandstrand entlang. Eine schwarze Schleifspur im silbrigen Mondlicht zeigt an, dass ein Weibchen an Land gekommen ist. Vorsichtig nähren wir uns. Das urweltliche Ungetüm ist bereits wieder auf dem Weg zurück in den Ozean. Über die Hälfte der Weibchen kehrt nach einem Landgang unverrichteter Dinge wieder ins Wasser zurück. Am nächsten Tag kommen sie wieder. Solange, bis sie die idealen Bedingungen vorgefunden haben, um sich während 5 bis 6 Stunden dem Eierlegen zu widmen. Mühsam ziehen und stossen sich die Tiere den Strand hinauf. Nach ein paar Dutzend Metern, am Rande der ersten Vegetation, beginnen sie mit starken Wischbewegungen der Hinterbeine, den Sand wegzutreten. Es sind massive Schaufelschläge, die den Sand ein paar Meter weit wegspritzen. Nachdem eine Mulde von rund 1,5 Meter und knietief gegraben ist, legt sich das tischgrosse Weibchen in die Kuhle und gräbt ein flaschenartiges Loch von 25 Zentimetern Durchmesser, mehrere Handspannen tief. Dabei nutzt es abwechslungsweise die Hinterbeine. Die Bewegungen sind präzise und schnell. Unter Keuchen und Stöhnen legt sie ihre fünf bis sechs Kilo Eier, drei bis fünf Stück pro Serie, unterbrochen kleinen Pausen. Die mit einer weichen Schale umhüllten Eier fallen in den 70 cm tiefen Brutschacht . Nach 30 Minuten hat sie 100 bis 200 Eier gelegt. Sorgsam häufelt sie feuchten Sand über die Eier und schiebt sich wieder in Richtung Meer, unterbrochen von mehreren Verschnaufpausen. Der Landgang ist ein ungeheurer Kraftakt. Während der Saison kommt das Weibchen durchschnittlich dreimal an Land, im Durchschnitt alle 13 Tage und meist an den selben Platz. Beobachtet wurden Weibchen, die bis zu 11mal innerhalb von 5 Monaten wiederkamen. Ein Weibchen wird alle drei Jahre fruchtbar und legt durchschnittlich 600 Eier. Grüne Meeresschildkröten leben über 50 Jahre. Ein Weibchen produziert während seines durchschnittlichen Lebens von über fünfzig Jahren mehrere tausend Eier.

Unser nächtlicher Spaziergang entlang der Legegebietes nimmt eine unverhoffte Wende. Die blutverschmierte Machete steckt im Sand. Die Schildkröte liegt auf dem Rücken. Die Hinterbeine rudern hilflos in der Luft. Die Vorderbeine sind nur noch kurze, blutverschmierte Stummel. Vor keinen zehn Minuten wurde hier eine Schildkröte auf den Rücken gedreht und ihre Vorderbeine abgehackt. Die Diebe haben sich davongemacht. Wir leuchten ins Ufergebüsch, sehen natürlich niemanden mehr. Die Augen der Schildkröte sind glasig. Sie ist am verbluten. Und das war die Absicht der Tierschänder: sie hacken die Vorderbeine ab, lassen das Tier ausbluten und schneiden dann den Bauch auf. Das bis zu hundert Kilo verwertbare Fleisch wird weggetragen, der Panzer auch. Hamadi stösst Verwünschungen in Richtung Ufer aus. Dann drehen die beiden Adsei-Tierschützer das Tier mit vereinten Kräften auf den Bauch. Ein schwieriges Unterfangen bei dieser flachovalen Körpermasse. Sofort beginnt das Weibchen, mit den Beinen zu arbeiten. Doch die Stummel der Vorderbeine nützen nichts mehr. Die wunden Vorderbeine schürfen nur noch über den Sand. Sie kann sich bloss noch mit den Hinterbeinen mühsam Zentimeter um Zentimeter vorwärtsschieben. Nach ein paar Minuten hält sie inne. Ausruhen. Sie muss ungeheure Schmerzen haben. Schliesslich schieben die beiden Männer die Schildkröte mit viel Kraftaufwand voran und helfen ihr, bis zu den ersten Wellen zu gelangen. Sie trinkt erst mal vom salzigen Wasser, legt sich dann quer zu ein auswellenden Fluten, als ob sie nicht wüsste, ob sie an Land sterben soll oder im Wasser. Hamadi weiss nicht, ob sie ohne Vorderbeine überleben wird. Vielleicht ertrinkt sie, weil sie sich mit den Paddelfüssen nicht mehr Auftrieb verschaffen kann. ‘Eine kleine Überlebenschance hat sie trotzdem. Vielleicht sehe ich irgendwann seltsame Spuren im Sand und weiss dann, dass dieses zwangsamputierte Weibchen doch überlebt hat.‘ Schweigend setzen wir die Kontrolltour fort. Im tiefschwarzen Himmel steht das Kreuz des Südens. Die Brandung rauscht im ewigen Takt des Ozeans. ‘Solche Massaker machen mich immer traurig‘, sagt Akbal plötzlich, ‘die Diebe sollten die gleiche Strafe erhalten.‘

 

 

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Franz Stadelmann