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Ein Tag im Leben

Die Tage beginnen früh in Afrika und somit auch in Madagaskar. Denn das Licht der Sonne bestimmt den Tagesrhythmus. Ich stehe immer vor sechs Uhr auf. Zu diesem Zeitpunkt schiebt sich die noch fahle Sonnenkugel über die kahlen Hügel. Eine Morgen- und Abenddämmerung gibt es in den Tropenzonen nicht. Vom Nachbargehöft kräht ein Hahn, Wildenten schnattern vom Sumpfgebiet herauf, die Papageien stossen ihren schrillen Gesang aus. Ein ruhiger Tag kündet sich an. Die Nachtwächter verabschieden sich. Sie stehen auf meiner Lohnliste wie etliche mehr, denn natürlich ist man als Weisser verpflichtet, zahlreiche Arbeitsstellen zu schaffen. Dann die erste Sekunde des Zweifels. Startet mein Auto? Zwar versuche ich, meine Fahrzeuge instand zu halten. Doch ich kenne keine einzige Garage, die einen Unterhalt pflichtbewusst und seriös macht. Dabei ist Antananarivo, die Hauptstadt Madagaskars, voll mit Reparaturwerkstätten, Autoateliers und Mechanikbuden. Wenn der Motor nicht startet, lasse ich das Auto anrollen. Auf den Strassen Madagaskars sieht man dauernd Leute, die Autos schieben. An den Tankstellen verdienen sich arbeitslose Jungs ein Trinkgeld, indem sie Autos anschieben. Mein Weg führt über einen kleinen Hügel und dann hinunter zu einem Damm, der eine Reisfeldebene überquert. Dort kommt die zweite Frage: ist die Holzbrücke noch befahrbar? Denn oft werden nachts die Balken geklaut. Obwohl es eine öffentliche Strasse ist, bin ich es, der die Balken ersetzt, weil sonst niemand in der Umgebung ein Auto hat und die Ochsenkarren einfach einen Umweg machen. Strasse ist eigentlich übertrieben. Es ist eine holprige Lateritpiste. Während der Regenzeit taucht das Auto in tiefe Löcher und es ist nicht immer sicher, ob es nicht steckenbleibt. An zwei Orten warten Leute. Sie haben es sich angewöhnt, mich als öffentliches Verkehrsmittel zu gebrauchen. Drei Jugendliche gehen in die Schule ein paar Kilometer weiter. Ein Lehrer muss in die Stadt, um seinen Lohn abzuholen, jemand ist krank undsoweiter. Nach zwanzig Minuten habe ich die ersten sieben Kilometer gemacht und biege in die Flughafenstrasse ein. Wie überall in Afrika ist diese Strasse die beste von allen. Sie ist ganztags von Fahrzeugen, Ochsenkarren und Menschen belebt. Und von Unfällen. Weil man auf zwei Teilstrecken bis zu sechzig Stundenkilometer fahren kann, gilt diese Route nicht nur als Raserstrecke, sondern auch als Zone mit täglichen Unfällen.

Ich bin immer der erste im Büro. Und zuallererst katapultiere ich mich in eine völlig andere Welt: Computer an und Emails abfragen. Es lässt sich nicht genug betonen, was Internet für Länder des Südens gebracht hat. Plötzlich ist man ‘dabei‘. Natürlich klappt die Verbindung nicht immer und teuer ist die Sache sowieso. Aber manchmal leiste ich mir, im Internet die aktuelle Ausgabe einer Zeitung zu lesen. Ich habe eine Schweizer Tageszeitung abonniert, was mich infolge der Transportkosten pro Jahr die hübsche Summe von tausend Franken kostet. Die Zeitung erreicht mich jeweils mit einer oder zwei Wochen Verspätung und manchmal gar nicht.

Madagaskar ist nicht nur das Land der grossen Flexibilität, sondern auch der Unzuverlässigkeit und Unpünktlichkeit. Ich bestehe jedoch darauf, dass alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen um Punkt acht Uhr im Büro sein müssen. Das mag unverständlich klingen. Doch die Uhr ist ein Richter, der unabhängig von menschlichen Einflüssen für alle den gleichen Massstab vorgibt. Und solche unbeeinflussbaren Faktoren gibt es in Ländern des Südens sonst kaum. Die Uhr als neutraler Disziplinfaktor hat sich in unserem Team bewährt. Langsam beginnt sich der Tag zu entrollen. Bittsteller kommen, Jobsuchende, Leute mit einem Problem. Und alle wollen angehört werden. Dies ist die unrentabelste Seite meiner Tätigkeit. Dann auch das Organisieren unserer Aktivitäten: Probleme lösen, diskutieren, herausspüren, wo Sachen klemmen. Dinge auf die Reihe kriegen. Und plötzlich ist es Abend. Draussen wartet mein Autowächter. Ich habe ihn nur angestellt, damit er tagsüber mein Auto bewacht. Denn Autoscheinwerfer, Radio und Reifen sind begehrte Objekte. Dann wieder die lange Fahrt zurück ins Haus ohne Telefon und ohne Internet.

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Surseer Woche 26. November 1998