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Ein Kontinent als offenes Geschichtsbuch

Madagaskar liegt nur 400 Kilometer vom afrikanischen Kontinent entfernt und ist doch so anders. Asiatische, afrikanische und arabische Einwanderer haben die Kultur der Insel geprägt. Flora und Fauna sind ebenso einmalig: sie sind entstanden durch Millionen Jahre Isolation. Madagaskar ist ein Wechselbad an sinnlichen Eindrücken und Erfahrungen meinen Autor Franz Stadelmann und Fotograf Carlo Böttger.

Rhythmisch stechen die Ruderblätter ins Wasser. Links, dann rechts. Die beiden Einbäume gleiten wie schwere Pfeile durchs Wasser. Die zwei Ruderer, Bemavo und Rakoto, summen dabei ihre Melodien quer durch die Tonleiter. Wir sind unterwegs auf dem Fluss Tsiribihina im Westen Madagaskars. Vor zwei Tagen sind wir in der Kleinstadt Miandrivazo aufgebrochen. Der Ort war voll Rummel, denn an diesem Tag fand der wöchentliche Markt statt. Die Bauern der Umgebung und die Viehhirten von weither versammelten sich zu Kauf und Verkauf. Kleiderhändler waren gekommen und hatten ihr Angebot auf dem Boden ausgebreitet. Prall gefüllte Reissäcke standen wie müde Soldaten in einer Zeile, dahinter sassen die Marktfrauen. Wolldecken standen zum Verkauf, aber auch Hühner und Fische, Seife und Zahnpasta. Die lokale Bevölkerung schlenderte den Ständen entlang, Einkaufsbummel, aber vor allem auch, um Nachrichten auszutauschen. Denn in diesen Regionen Madagaskars gibt es weder Radio noch Zeitung, weder Telefon noch Fernsehen. Doch sobald wir uns in die roh gezimmerten Pirogen setzten, wurde es still. Der Fluss zieht breit durch die Landschaft, als ob er sich nicht interessieren würde, was sich jenseits seiner Ufer abspielt. Er hat seine Quellen im Hochland Madagaskars, auf 1300 Metern über Meer. Wie dreiviertel der Gewässer Madagaskars fliesst auch er nach Westen in den Kanal von Moçambique. Aber bis dahin ist es ein langer Weg. Da sind die Wasserfälle östlich von Miandrivazo, danach die seichte Stelle, in der sich der Fluss wie ein See gebärt und sich die Krokodile wohl fühlen. Und jetzt schlängelt er sich durch eine Landschaft, so flach wie ein Teller, bestanden mit Schilf und Kapokbäumen. Als breites, rötlich glitzerndes Band mäandriert der Tsiribihina durch die Landschaft, als ob er sich nicht entscheiden könnte, in welche Richtung er sich bewegen soll. Nach einer langen Schlaufe sticht er jedoch unerwartet und zielgerichtet in die Bergkette des Bongo Lava hinein. Die Schlucht steigt beidseitig des Flusses in horizontalen Gesteinsschichten auf. Die Felsplatten liegen in Wellenform schwer übereinander. Jede Schicht hat eine andere Farbe. So ist Madagaskar: Schicht um Schicht, wie ein offenes Geschichtsbuch.

Vor ein paar Tagen haben wir eine Famadihana miterlebt. Die Totenrituale der Merina sind archaisch und beeindruckend. Schmerz und Freude liegen sehr nah beieinander und werden auch so ausgedrückt. Das Fest der Freude und der Trauer spielte sich im Schatten einer christlichen Kirche ab. Tradition und Moderne wechseln sich ab. Wie auch in Antsirabe, wo Rikschas, in Madagaskar Pousse-Pousse genannt, neben Taxis verkehren. Wobei auch die Autos aus allen Epochen der Fahrzeugindustrie stammen. Ein wirkliches Relikt der Urgeschichte sind die Lemuren. Sie turnen in den Wäldern entlang der Schlucht. Die geselligen Tiere haben nur in Madagaskar überlebt – dank der 160 Millionen Jahre Isolation, während der die Natur eigene Wege ging. Daher nennen Forscher die Insel im Indischen Ozean auch ’naturgeschichtliches Labor’. Ein paar Tage später beobachten wir Fossas, einzelgängerische , lichtscheue Schleichkatzen. Auch sie gibt es nur in Madagaskar. Und die urwüchsigen Baobabs. Sie geniessen eine seltsame Verehrung der Madagassen, vielleicht, weil sie die häufigen Buschbrände unversehrt überleben. Am Fuss der dicken Stämme finden sich oft Opfer an die Ahnen: Rum oder Honig. Und immer wieder sind Spuren von Hühnerblut zu sehen: die Lokalbevölkerung hat ihren Vorfahren ein Opfer dargebracht mit der Bitte, Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Das alles gehört zur Tradition wie die Königsrituale, die in Belo sur Tsiribihina alle paar Jahre stattfinden. Dann werden die Reliquien der alten Sakalava-Könige feierlich zum Fluss getragen und gewaschen. Nächstes mal wird das 2003 stattfinden, im August oder September, je nach Sternenstand. Bei solchen Gelegenheiten werden die traditionellen Bande zwischen den Herrscherfamilien erneuert. Denn auch das ist Madagaskar: die Staatsverwaltung existiert neben den althergebrachten Machtstrukturen. Auch im Gesundheitsbereich. Da steht wohl ein Sanitätsposten, doch im gleichen Dorf übt auch ein Heiler seine Kunst aus. Für die Madagassen ist dies alles kein Problem. Wenn die Missgeschicke dieser Welt den Weg queren, lachen sie. Wie dann, als das Taxi-Brousse ’en panne’ fiel. Ohne Murren stiegen alle Insassen des Sammeltaxis aus und gaben dem Fahrer gute Ratschläge, wie das Vehikel wieder flott gemacht werden könnte. Und es gelang, unter viel Gelächter.

Natürlich sind die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Insel vor Afrika nicht zum Lachen. Madagaskar gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Versorgung weiter Teile der Bevölkerung ist nicht das ganze Jahr über sichergestellt. Trotzdem gibt es keinen Bürgerkrieg oder interne Aufstände. Denn die Madagassen sind sehr friedfertig. Und spontan. Als wir eine Buschschule besuchen, begrüssen uns Lehrer und Kinder mit einem hallenden Salama. Das bedeutet Gesundheit und ist der übliche Gruss an der Westküste. Das Schulgebäude besteht aus rohgezimmerten Balken und ist nicht viel mehr als eine strohgedeckte Hütte mit einem Boden aus festgestampftem Lehm. Die Kinder sind barfuss. Geschwister teilen sich die Schulhefte. Trotzdem sind sie begierig zu lernen. Weit über die Hälfte der 15 Millionen Madagassen sind unter sechzehn Jahre alt. Was ihnen die Zukunft bringt, ist schwer abzuschätzen. Denn die Insel hat auch schwere ökologische Probleme: Abholzung und Erosion, Brandrodung und Buschfeuer. Darauf macht der Lehrer seine Schüler aufmerksam. Denn sie lernen nicht nur das ABC, sondern weit mehr: sie legen einen Schulgarten an, gehen Bäume pflanzen und werden in Hygiene und Basisgesundheit unterrichtet. In die gleiche Richtung arbeitet auch der lokale Radiosender. Die von Freiwilligen betriebene Station sendet thematische Programme über Landwirtschaft und Gesundheitsfragen. Aber natürlich auch viel Musik: Salegy und die neuesten Hits von Rossy, Edjeda und Tina, den nationalen Musikstars. Die Songs werden natürlich von Kindern mit Inbrunst nachgeahmt : auf selbstgezimmerten Gitarren geben sie die Melodien ihrer Stars von sich. Aber auch der Wald ist voller Musik: die Gesänge der Lemuren, das Gezwitscher der Vogelwelt, das Rauschen des Windes. Daneben aber auch das meditative Schweigen: ein Kingfischer sitzt regungslos auf einem Ast, sein blau-oranges Kleid schimmert in der Sonne. Die Fledermäuse hängen in Baumwipfeln und haben die Körper in ihre schwarzen Flugmäntel gehüllt. Viehherden trotten schweigend vorbei, hunderte von Zeburindern mit schwankenden Nackenhöckern. Die Hirten hingegen kommen her und suchen das Gespräch. Sie sind unterwegs zum Markt in Tsiroanomandidy, dem grössten Rindermarkt Madagaskars. Bis dorthin werden sie aber noch ein paar Wochen unterwegs sein. Zeit ist in Madagaskar nur ein abstrakter Begriff. Wichtig ist das Unterwegssein im Hier und Jetzt. Und dies im Schutz der Ahnen. Das Gestern ist wichtiger als das Morgen, die Ahnen wichtiger als die kommende Generation. Madagaskar ist ein Wechselbad an sinnlichen Eindrücken und Erfahrungen. Und dies macht die Insel zu einem Reiseland ohnegleichen: alles ist anders und doch eigenartig vertraut.

Auch hier verbirgt sich das Schöne oft im Detail. Die Rundungen einer Blüte, die fast unscheinbar am Wegesrand steht, fast als ob sie sich ihrer Schönheit schämen würde. Die seltsamen Markierungen in den Felsen, als ob die Evolution ihre Geschichte habe eingravieren wollen. Dann aber auch die stille Poetik der Weiler : aus rotem Lehm erbaute Häuser umgeben von sattgrünen Reisfeldern. Und immer wieder die Kinder, neugierig und doch so scheu. Und überall diese Geschichten. Am Fluss rufen die Leute und fragen nach Nachrichten. Und erzählen ihrerseits, was so passiert ist während der letzten Tage – oder Monate. Auch auf dem Markt in Morondava. Dort treffen sich Fischer und Bauern, Viehhirten und Händler. Güter werden getauscht, aber auch Worte. Und die sind oft wichtiger, denn hinter jedem Objekt verbirgt sich noch eine Geschichte. So gibt es rings um die Hauptstadt zwölf heilige Hügel, die zu besichtigen sich lohnt. Viel wichtiger aber ist die Geschichte, die mit diesen sakralen Erhebungen verbunden ist. Denn auf jedem dieser Hügel befinden sich auch Gräber von ehemaligen Herrschern, heute noch verehrt und geehrt. So erweckt der Name Andrianampoinimerina, der als Zeitgenosse von Napoleon vor zweihundert Jahren im Zentrum Madagaskars regierte, noch heute ehrfürchtigen Respekt, von dem mancher zeitgenössischer Politiker in Madagaskar nicht mal zu träumen wagt. Trotz Moderne ist die Insel in Indischen Ozean, was sie vor hundert und mehr Jahren schon war : ein Land der unsichtbaren Linien voll Geschichten.

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15 Millionen Menschen  Die Republik Madagaskar ist seit 1960 unabhängig. Doch die Geschichte der Bewohner reicht 1500 Jahre weit zurück, als die ersten Einwanderer aus Indonesien die Insel betraten. Später wanderten Leute aus Afrika und aus dem Orient ein. Es kamen im 17. Jahrhundert die Piraten, später die Missionare und schliesslich die französische Armee (1895). Die Insel ist rund 1,5 mal so gross wie Deutschland. 80% der Madagassen leben in ländlichen Regionen: vom Anbau von Reis für die Eigenversorgung, von Viehzucht (im Westen und Süden) und im Osten vom Verkauf der Cash Crops Vanille, Pfeffer, Nelken und Kaffee. Die Hauptstadt Antananarivo (’die Stadt der tausend Krieger’) beherbergt rund 10% der Landesbevölkerung. Die Landessprache Madagassisch wird im ganzen Land gesprochen, damit ist Madagaskar neben den Komoren das einzige Land in Afrika südlich der Sahara mit einer von allen gesprochenen Nationalsprache.

Reisen im Land Einreisende brauchen ein Visum, das über die madagassischen Botschaften und Konsulate erhältlich ist, aber auch bei Ankunft im Flughafen von Antananarivo-Ivato ausgestellt wird. Air Madagascar und Air France fliegen die Insel mehrmals pro Woche ab Paris an. Das Binnenflugnetz ist gut ausgebaut, das Strassennetz weniger. Nur die Hauptlinien sind asphaltiert. Es ist nicht möglich, wie es Landkarten vortäuschen, ’rings um die Insel’ zu fahren. Die Transportprobleme sind erheblich in diesem Land, daher empfiehlt es sich, sich gemäss der Devise ’weniger ist mehr’ auf bestimmte Landesteile zu konzentrieren. Grundsätzlich ist die Ostküste feucht und tropisch, der Westen und Süden trocken und flach. Das Hochplateau ist hügelig, die Täler sind meist mit Nassreisterrassen bestanden. Es gibt keine ausgesprochen ideale Reisezeit, jede Jahreszeit bietet ihre Schönheiten. Die Regenzeit (November bis März) ist gleichzeitig auch die heisse Zeit. Im Südwinter (Juni – September) sinken die Nachttemperaturen auf dem Hochland (1200 müM) auf knapp zehn Grad plus, während es an der Küste auch nachts noch Temperaturen um 15 Grad plus hat. In Madagaskar findet sich eine reiche kulinarische Küche, die Hotels erreichen den europäischen Standard zwar selten, sind jedoch durchaus angenehme Orte. Kunsthandwerk (Schnitzereien, Bastflechtereien, Edelsteinarbeiten) finden sich an vielen Orten der Insel. Der Ankauf von ungeschliffenen Edelsteinen und Halbedelsteinen ist überall möglich, doch der Export davon unterliegt staatlichen Bestimmungen. Im Juni 2001 wird die totale Sonnenfinsternis auch in Madagaskar zu sehen sein.

Zahlungsmittel Der madagassische Franken (FMG) ist das nationale Währung. Zur Zeit (Stand Mai 2000) erhält man für 1 DM rund 3100 FMG. In Banken und den gehobenen Hotels werden auch Dollars, Deutsche Mark und Französische Franken angenommen. Traveller Cheques sind nur in Banken einlösbar. Kreditkarten können nur an ganz wenigen Orten benutzt werden.

Impfungen Bei Einreise sind keine Impfungen vorgeschrieben. Trotzdem empfiehlt es sich, gegen Tetanus, Hepatitis und Polio geimpft zu sein. Die Malaria ist verbreitet, sie tritt während der Regenzeit (November bis März) häufiger auf und dies eher in den feuchten Ostgebieten. Als bestes Mittel gegen die Stechmücken hat sich Antibrumm Forte bewährt. Ebenso wirkungsvoll ist natürlich der Schutz durch lange Kleidungsstücke während der Dämmerung.

Reiseorganisationen Individualtouren sind durchaus machbar, der Zeitaufwand für den Transport von Ort zu Ort sollte dabei aber nicht unterschätz werden. Grundkenntnisse in Französisch sind dabei Voraussetzung.   Informationen über Madagaskar sind zu erhalten vom staatlichen Tourismusamt: Maison du Tourisme, BP 3224, Antananarivo (Tel 0026120 22 32529; Fax: 0026120 22 32537)

Das beste Reisebuch in deutscher Sprache stammt von Susanne Rössler und heisst ’Madagaskar’ (Iwanowski-Verlag 1999). Es vermittelt Details und Hintergrundberichte, aber auch Karten und Routenvorschläge. Das bildbetone Buch ’Madagaskar’ (von Franz Stadelmann und Jan Greune; Stürtz-Verlag 1998) gibt einen informativen und sinnlichen Einstieg in Geschichte und Alltagsleben.

 

 

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Franz Stadelmann

 

 

Publiziert in Südafrika Magazin 4 / 2000