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Von
Städten: V., Seychellen, 30 000 Einwohner Victoria Ein
glitzerndes Korallenband umgibt den schwarzen Granit der hundert Inseln.
Jede Woge des Indischen Ozeans schaufelt neuen Sand heran. Still und
stetig seit Jahrmillionen. Aus Afrika haben die Wasser Palmnüsse
angeschwemmt, Banyankerne aus Indien und madagassischen Raphia. Wie
ferne Sterne lagen die Inseln der Seychellen in alten Zeiten unbewohnt
zwischen Afrika und Indien. Nach Arabern und Franzosen setzten sich die
Briten auf diesem felsigen Fusstritt zwischen Suez und Bombay fest. Die
grösste der von Sklaven bewirtschafteten Inseln wurde zum Zentrum: Mahé
ist in einer Stunde zu umrunden. Am Fuss der sattgrünen Berge liegt
seit hundertfünfzig Jahren Victoria. Eine Miniatur des Big Ben
verbreitete die Zeit des Empire. In der Stadtmitte wirkt der silbern
gestrichene Glockenturm heute etwas verloren zwischen den Banken und Büros.
Keine Hochhäuser strecken ihre Stirn in die blendendweissen
Tropenwolken. Schiefe Kreolenhäuser stehen neben strenger
Kolonialarchitektur. Victoria blieb Londons stille Schwester. In der
feuchten Hitze fermentierte eine eigenartige Synthese zwischen
Puritanern und Kreolen. Afrikaner, Chinesen und Inder haben das strenge
Victoria mit ihren Gesichtern und ihrer Lebensart aufgeweicht. Eine der
wichtigeren Strassen heisst Sans-Souci, die andere La Misère. Die Stadt
ist ein einziger Markt, durchzogen von den süsslichen Gerüchen der
Tropenfrüchte unter den schattigen Mangobäumen. Im Naturhafen
schaukeln die bunten Schiffe: immer weniger ausgerüstet für den
Fischfang. Vielmehr Ausflugsboote für Touristen auf der Suche nach
Tauchabenteuern und palmengesäumten Stränden. Sie müssen nicht weit
fahren. Victoria ist von Sandstränden beflankt. Ein paar Schwimmzüge
vor dem Hafen liegt die Insel Sainte Anne, die so heilig nicht war. Aber
auch sie ist umgeben von einem weissen Strand wie die Atolle diesseits
und jenseits des blauen Horizonts. |
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Franz Stadelmann |
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Publiziert in Neue Zürcher Zeitung 07. 06. 1997 |
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