Neurobiologische Überlegungen für die Zusammenhänge von Polytoxikomanie und Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung:

Aufgrund der guten Wirksamkeit von Stimulantien auf die Symptome von ADHD wird schon lange vermutet, dass ein Stoffwechseldefekt von Dopamin und / oder Noradrenalin die Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung darstellen („Katecholaminhypothese“).

Besondere Bedeutung dafür scheint der Dopaminhaushalt zu haben, welches im präfrontalen Kortex und im Striatum, sowie in den Assoziationsbahnen zu den temporalen und parietalen Lappen sehr stark vertreten ist. Produktionsort sind die Kerngebiete im Mittelhirn, (ventrales Tegmentum und Pars compacta der Substantia nigra). Vom ventralen Tegmentum laufen Projektionsbahnen zum Nucleus accumbens, dem mit dem limbischen System eng verknüpften Anteil des Striatums (mesokortikolimbisches System), von der Substantia nigra aus zum Körper des Striatums (mesostriatales System). Das mesostriatale System wird als wesentlich für stereotype Verhaltensweisen, Zuwendung und Aufrechterhaltung von Aufmerksamkeit angesehen, das mesokortikolimbische System für Aktivität, Neugierde und Entwicklung von Handlungsstrategien. Der Nucleus Accumbens scheint wichtig für das Motivations- und Belohnungssystem zu sein und weist enge Verbindungen zu anderen Strukturen des limbischen Systems auf. Diese Dopamineffekte werden wahrscheinlich über D1 Rezeptoren vermittelt. Das „vordere Aufmerksamkeitszentrum“, Cingulum und präfrontaler Kortex, ist wichtig für das Arbeitsgedächtnis, die nicht fokussierte Aufmerksamkeit, Reizhemmungsmechanismen und die so genannten exekutiven Funktionen wie Organisation, setzen von Prioritäten und Selbstkontrolle. Aufgrund der erhöhten Dopaminrezeptordichte bei Patienten mit Symptomen einer Aufmerksamkeits-/Aktivitätsstörung kommt es zu einem schnelleren Abtransport von Dopamin aus dem synaptischen Spalt, dadurch zu einer verminderten Konzentration von Dopamin und damit wiederum zu einer geringeren Wirkung von Dopamin in Bezug auf Reizhemmung, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle usw.

Aufgrund der Schwierigkeiten, Prozesse in bestimmten Hirnteilen zu identifizieren und durch das Vorhandensein der gleichen neurochemischen Marker aus peripheren Quellen ist es bisher nicht möglich gewesen, durch den Nachweis von neurochemischen Auffälligkeiten in verschiedenen Körperflüssigkeiten eine Diagnose von ADHD zu sichern. Auch die neuroradiologischen Methoden oder gentechnische Untersuchungen zur Korrelation von D2 und D4 mit ADHD zeigen keine Einigkeit. Mindestens in der Nähe des Dopamingens vermutet man einen wesentlichen Faktor für die Auslösung oder Mitverursachung von ADHD .

Molekulare Grundlagen der Opiatabhängigkeit zeigen, dass ähnliche Gebiete von einer Störung betroffen sind, wie beim ADHD beschrieben werden und lassen Zusammenhänge zwischen der Suchterkrankung und dem ADHD annehmen: ausgehend vom Nucleus accumbens steht eine aktive Dopaminausschüttung durch Opiate im Vordergrund der Überlegungen einer Suchtentstehung. Kokain dagegen wirkt, neben der aktiven Stimulation der Dopaminfreisetzung, dem Abtransport von Dopamin aus dem synaptischen Spalt entgegen, was zu einer verbesserten Wirkung der Opiate führt. Die morphininduzierte Wirkung unterliegt wie die Kokainwirkung auch, einer Sensibilisierung, die anhand von biochemischen Veränderungen und Genexpressionen in den Neuronen des Nucleus accumbens nachgewiesen werden kann. Wiederholter Entzug führte im Tiermodell zu einer stärkeren Sensibilisierung als kontinuierliche Zufuhr eines Suchtmittels, was sowohl auf molekularer Ebene, wie auch durch eine verstärkte Proteinproduktion (Genexpression) nachgewiesen werden konnte. Assoziationsstudien ergaben für die Dopaminrezeptortypen D3 und D4 eine positive Korrelation für Heroinmissbrauch, ein Allel von D2 soll mit dem Missbrauch von Stimulantien assoziiert sein.

Eine wesentliche Rolle, abseits von Molekularen und biochemischen Überlegungen spielen die Ergebnisse der Stressforschung. Ausgehend von der Überlegung, dass ADHD für den Betroffenen Stress bedeutet, tragen folgende Untersuchungen zu einer Erklärung der höheren Morbididät von Suchterkrankungen in diesem Klientel bei: Bei Stress werden im Gehirn Neurone im limbischen und mesolimbischen System aktiviert, was im Tierexperiment wiederum als Induktion einer Genexpression sichtbar wird. Diese Antwort ist durch eine Morphinapplikation blockierbar, die Blockade dieser überschiessenden Stressantwort dürfte auch die Aufgabe der körpereigenen Endorphine sein.

Die besondere Rolle von Kokain ist einerseits durch die Unterstützung der Sensibilisierung, andererseits durch die Eigenwirkung in Bezug auf Dopaminausschüttung und Hemmung der dopaminwiederaufnahme zu verstehen. Entscheidender Unterschied zu Methylphenidat ist die schnellere Wirkung und damit die stärkere Beeinflussung von Belohnungssystem und Suchtgedächtnis im Gehirn.

In PET-Studien konnten Volkow et. al. 1995 nachweisen, dass Methylphenidat die gleiche Wirkung an denselben Hirnarrealen auslöst wie Kokain. Volkow schätzt in dieser Studie die Anzahl der "Selbstbehandler eines ADD/ADHD" auf ca. 10-30%. Zitat: "If we give them ritalin, they would have no cocainproblem".

Folgende Originalarbeit über die Zusammenhänge von Methylphenidat und Kokain im pdf-Format: