Schneeschuhwandern ist IN
Ein Erfahrungsbericht
Text: Roger Anderegg,
Vielleicht lebt, wer auf Schneeschuhen wandert, notorisch
auf grossem Fuss. In Wahrheit sind meine schnittigen Kunststoffschuhe lediglich
gemietet, und noch vor zwei Wochen hätte ich nicht gewusst, wie man überhaupt
darauf steht. Entsprechend blöd stellte ich mich beim ersten Mal an. Wir hatten
uns einen Lehrmeister ausgesucht, der garantiert auch mit schwierigen Spätberufenen
zu Rande kommen würde: Reinhard Lutz ist so etwas wie ein professioneller
Wanderer, sommers wie winters. Diese und artverwandte Tätigkeiten wie Kanu- und
Velofahren hat der gelernte Grafiker regelmässig in der «Schweizer Familie»
beschrieben. Daraus wiederum sind mehrere Bücher entstanden, als jüngstes «50
Schneeschuhtouren in der Schweiz», das Lutz im Eigenverlag herausgegeben hat
und das ihn vollends zum helvetischen Obertrapper gemacht hat.
«Schneeschuhlaufen», sagte Lutz, «ist einfach Wandern
im Schnee - und gar nichts anderes.» Für die erste Lektion fuhren wir hinauf
zum Sihlsee, bis die Räder des Wagens im Schnee leer drehten. Da stand ich dann
ziemlich unsicher im strahlenden Weiss und fühlte mich durch diese sperrigen,
unhandlichen Dinger an meinen Füssen arg behindert. Ganz anders als gut
sitzende Wanderschuhe verliehen sie mir nicht Halt, sondern ein Gefühl von
Instabilität. Zaghaft, mit tapsigen Schritten drehte ich eine ers-te Runde; die
unförmigen Gestelle an meinen Füssen klapperten unwirsch. Dabei waren die
Bedingungen optimal. In der Nacht waren zehn Zentimeter Neuschnee gefallen - auf
eine harte Altschneedecke. Wir nahmen die Rucksäcke auf und begannen den Hang
hochzustapfen.
Schon bald stellte sich ein Gefühl der Sicherheit ein
Das Stapfen, merkte ich schnell, erforderte erstaunlich
wenig Kraft. Weil das flauschige Weiss das Terrain einebnete, schritten wir in
einem gleichmässigen Rhythmus aus. Das verlieh uns das Gefühl von Leichtigkeit
und Beschwingtheit. Schon nach einer Viertelstunde brach ich aus der Spur
unseres Lehrmeisters aus und zog meine eigene. Ich ging querfeldein, ganz nach
Lust und Laune, steuerte die Hänge keck in der Falllinie an. Alles kein
Problem. Nach einer halben Stunde schon stellte sich ein Gefühl der Sicherheit
und Vertrautheit ein. Eine Woche später schliessen wir uns zwecks Weiterbildung
einer Gruppe an. An einem nebligen Sonntag führt Markus Zürcher vom
Reiseveranstalter WeitWandern 24 Schneeschuhläufer auf einer sechsstündigen
Wanderung durch die Region Eriz über dem Thunersee. Die Hälfte der Leute steht
zum ersten Mal auf Schneeschuhen. «In den letzten zwei Jahren», sagt Zürcher,
«hat das Interesse am Schneeschuhlaufen gewaltig zugenommen.» Eingeschworene
Sommerwanderer entdecken die Freuden des Winterwanderns, einstige Pistenraser
die Vorteile der Gemächlichkeit im Gelände, bisherige Langläufer den
unvergleichlichen Reiz der Einsamkeit in der Natur.
Angesichts der Anfänger, die sich an diesem Sonntag
tapsig und breitspurig durch den Schnee pflügen, fühlen wir zwei uns schon wie
Altmeister. Gefasst stapfen wir hinter Markus den Berg hoch. Er geht die
Steigungen kräftesparend im Zickzack an. Nach einer Stunde reisst der Nebel
auf, und wir sehen plötzlich, in welch herrlicher Landschaft wir uns bewegen:
Über uns schält sich der mächtige Sigriswiler Grat aus den Wolken, über dem
Nebelmeer winken die markanten Silhouetten von Niesen und Stockhorn. Der Schnee
blitzt und funkelt wie ein Teppich aus lauter Kristallen. Da wir streckenweise
Steilhänge traversieren, warnt uns Markus vor einem möglichen Schneebrett; wir
tragen Verschütteten-Suchgeräte und Lawinenschaufeln auf uns.
Hier gibt man sich betont umweltbewusst. Markus erinnert
uns mit seinen malerischen Locken an ein Blumenkind aus den Sechzigern, und die
meisten Leute tragen diese traditionellen Schneeschuhe mit Schnüren und Bändern,
das klassische Modell aus dem Indianer-Bilderbuch, bespannt wie riesige
Teppichklopfer oder Tennisschläger. Unsere futuristisch gestylten, grellbunten
Kunststoffdinger mit ihren Zähnen und Krallen werden kopfschüttelnd bestaunt.
Im Kollektiv, das eng aufgeschlossen im Normschritt geht
wie bei einer gefährlichen Gletschertraversierung, fühlen wir
Fortgeschrittenen uns etwas gar stark am kurzen Zügel. Wir brechen aus.
Mal eilen wir der Gruppe voraus, besonders forsch in
abfallendem Gelände, mal trödeln wir hintendrein. Der Wunsch, Tempo und Route
selber zu bestimmen, wird übermächtig. Fredy Schwab, der heute im zürcherischen
Egg das Reisebüro Fair Travel betreibt, gilt in der Schweiz als Pionier des
Schneeschuhlaufens. Er hat damit Anfang der Achtzigerjahre begonnen. Zu der Zeit
habe zwar bereits ein Klub von Schneeschuhläufern im Welschland existiert, aber
es habe Jahre gedauert, bis er auf seinen Touren erstmals einem zweiten Läufer
begegnete. Auch wenn das Wandern im Schnee heute zahlreiche Leute anziehe - eine
Massenbewegung werde es nie werden, sagt Schwab, weil es dafür zu viel
Anstrengung und Eigeninitiative erfordere. Auch heute noch sucht Schwab stets
die Einsamkeit im tief verschneiten Gelände. Ein Buch wie Reinhard Lutz'
Tourenführer legt er sich bestenfalls zu, «um nachzuschauen, welche Routen ich
unbedingt meiden muss», sagt er sarkastisch. Uns Anfängern empfiehlt er den
Jura und die Freiberge: «Da seid ihr in der Weite und der Stille der Natur, und
zudem braucht ihr euch wegen Lawinen keine Sorgen zu machen.»
Unter unseren Schneeschuhen macht der Schnee Musik
Am glücklichsten, kapieren wir bei unserer Wanderung über
den Chasseral, wird der Schneeschuhläufer allein oder zu zweit. Da hat er die
Natur für sich, bestimmt seinen Weg selber, bewegt sich durch unberührtes Gelände
und sonnt sich im Gefühl, die ganze Pracht einer tief verschneiten Landschaft
sei exklusiv für ihn inszeniert worden. Wir bewegen uns auf einer glatten
weissen Fläche. Unter unseren Schuhen macht der Schnee Musik; die Tonleiter
reicht vom Flutschen übers Knarren bis zum Jaulen. Kein Mensch war vor uns
hier.
Aber andere Wesen zuhauf. Ein dichtes Netz von Fährten
und Spuren zieht sich durch den Pulverschnee, seltsame Hieroglyphen, die sich
begegnen, kreuzen, vereinen. Oft bleiben wir verwundert stehen: Wer bloss hat
diesen regelmässigen tiefen Eindruck hinterlassen, wie von einem Skistock, aber
ohne zugehörigen Ski, und wer diese verwischte Schleifspur, wie von einem Fuss
mit drei Zehen und Krallen? Inzwischen gehören die Schuhe zu uns, sind
Bestandteil unserer Bewegungsmechanik geworden. Hier eine Böschung - drei Sätze,
und wir sind oben. Dort ein Zaun - ein Sprung, und wir sind darüber weg. Jetzt
brettern wir schon ganz ordentlich durchs Gelände, jagen in grossen Schritten
eine Mulde hinunter, lassen unsere Schuhe zuerst gleiten, dann rutschen, setzen
im richtigen Moment zum nächsten Sprung an, stellen notfalls, wie uns das
Reinhard Lutz in unserer ersten Lektion beigebracht hat, das rechte Bein zum
Bremsen aus. Heissa! Es fährt und saust und stiebt. Ist das jetzt Skifahren
oder Langlaufen oder Snöben oder wie oder was? Die Disziplinen verwischen sich.
Und der Spass kulminiert.
Schneeschuhwandern in der Schweiz: Tipps für
angehende Trapper
Ausrüstung
Abgesehen von Schuhen und Skistöcken ist keine spezielle
Ausrüstung nötig. Gute Winterbekleidung, imprägnierte Wanderschuhe und
Stulpen genügen.
Schneeschuhe
Angeboten wird eine riesige Vielfalt von Modellen in
Preislagen zwischen 150 und 500 Franken. Wer vor dem Kauf verschiedene Modelle
tageweise mietet (35 Franken pro Tag), weiss nachher, was ihm am besten bekommt.
Die grösste Auswahl an Schneeschuhen in der Schweiz findet man bei Fredy
Schwab, Reisebüro Fair Travel, 8132 Egg, Tel 01 984 09 66.
Touren
Geführte Schneeschuhwanderungen gibt es in vielen
Wintersportorten. Auskunft bei den örtlichen Verkehrsvereinen. Wir waren
unterwegs mit Lutz Yeti Tour, Hallwylstr. 54, 8004 Zürich, Tel 01 242 75 74,
und mit WeitWandern, Markus Zürcher, 3703 Aeschiried, Tel 033 654 18 42.
Karten
Obwohl man auf Schneeschuhen nicht den
Wanderwegmarkierungen zu folgen braucht, ist eine Karte im Massstab 1:25 000
sehr hilfreich. Fortgeschrittene informieren sich über Wetterlage und
Lawinensituation und benützen einen Kompass.
Literatur
Reinhard Lutz: «50 Schneeschuhtouren in der Schweiz»,
Lutz-Tour-Verlag, Zürich, 42 Franken. Das Buch enthält viele Tipps und
Adressen von Veranstaltern und kann direkt beim Autor bestellt werden: Tel 01
242 75 74.