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Interpretationen, falsche
Klärt man Laien über die Prophezeiungen des Nostradamus auf und zeigt,
dass unser Seher keineswegs etwa einen baldigen Weltuntergang oder
Ähnliches vorhergesagt hat, bekommt man oft die Frage gestellt, weshalb
denn in der Öffentlichkeit so viel an Unwahrheiten und Unsinn über
diese Weissagungen kursiert. Das hängt vor allem damit zusammen, dass
der durchschnittliche Zeitgenosse von heute nicht in der Lage ist,
Nostradamus im Original zu lesen. Somit ist er gezwungermaßen auf die
Arbeit derer angewiesen, die das können (oder wenigstens zu können
glauben). Anders ausgedrückt: er ist jedem Bearbeiter hilflos
ausgeliefert und kann in aller Regel überhaupt nicht nachprüfen, ob
dieser mit seinen Ausführungen recht hat oder nicht. (Im Übrigen gibt
es sogar Autoren, die Bücher über Nostradamus schreiben, selber aber
gar nicht die Urtexte verstehen und sich dann wiederum auf die
Deutungen anderer Interpreten verlassen müssen!)
Im vergangenen halben Jahrtausend gab es aber selbstverständlich eine
ganze Reihe von Bearbeitern, die die Texte sehr wohl lesen konnten und
mit ihrer Arbeit viele Probleme und Einzelfragen in den Prophezeiungen
gelöst haben. Bei dieser Gruppe von Autoren stellt sich aber immer die
Frage nach dem Forschungsansatz. Hat man nämlich ein Werk vor sich, das
bereits Jahrhunderte existiert und gleichzeitig behauptet, das
Weltgeschehen vorherzusagen, ist eine der naheliegendsten
Vorgehensweisen, zuerst einmal zu überprüfen, was von den
Prophezeiungen denn bereits eingetroffen ist oder nicht. Doch dieser
(scheinbar) vernünftige Ansatz hat einen Pferdefuß. Die Prophezeiungen
wurden ja von Nostradamus im 16. Jahrhundert verfasst, der von seiner
Zeit ausgehend bis ans "Ende der Welt" blickte. Diese Perspektive
ergibt nun aber mit Sicherheit ein ganz anderes Bild der Weltgeschichte
als die
rückblickende
Betrachtung eines modernen Nostradamusinterpreten. Was bedeutet das nun
konkret? Nehmen wir an, ein (nicht mehr ganz junger) Autor schreibt im
Jahr 1820 ein Buch über die Prophezeiungen. Der Autor selber ist nur
fünf Jahre nach dem Ende des napoleonischen Reiches verständlicherweise
immer noch stark von seinen Erinnerungen an die Zeit Napoleons und die
Französische Revolution geprägt. Dies führt nun dazu, dass er diese
erlebte historische Epoche ungewollt überbewertet. Und so läuft er nun
Gefahr, in den Nostradamustexten "Gespenster" zu sehen, d.h. zufällige,
oberflächliche Ähnlichkeiten in den Prophezeiungen fast automatisch
z.B. auf Napoleon oder Ludwig XVI. zu beziehen (schließlich ist es ja
undenkbar, dass der große Nostradamus dieser "wichtigsten
Geschichtsepoche aller Zeiten" nicht einen zentralen Platz in seinen
Weissagungen eingeräumt hätte …). Nun wird zu allem Unglück dieses Buch
von 1820 auch noch zu einem zentralen Werk in der Nostradamusliteratur,
so dass spätere Autoren viele auch der falschen Interpretationen und
Deutungen mehr oder weniger kritiklos übernehmen. Im Jahr 1860 schreibt
nun ein anderer Autor ein weiteres Buch über die Prophezeiungen. Seine
persönlichen Erinnerungen werden auf ähnliche Weise in das Werk
einfließen, wie es bei seinem Vorgänger der Fall war. Nur bestehen
diese vielleicht jetzt aus der Revolution von 1848 oder dem Aufstieg
Napoleons III. Und dazu übernimmt er etliche Deutungen seines
Vorgängers von 1820. Ein Autor des Jahres 1900 wird den (Miss-)
Deutungen z.B. den Deutsch-Französischen Krieg von 1870, die Einigung
Italiens oder sogar den amerikanischen Bürgerkrieg hinzufügen. 1930
kommt der Erste Weltkrieg hinzu. 1970 der Zweite Weltkrieg, die
Atomwaffen, Hiroshima und der Kalte Krieg. 1998 fehlt natürlich weder
der Zusammenbruch des Ostblocks noch der Krieg gegen Saddam Hussein.
Wie hier modellhaft skizziert, wuchs so tatsächlich im Laufe der
Jahrhunderte ein wahres Gestrüpp von teilweise richtigen und teilweise
falschen Interpretationen heran, das den Blick auf die eigentlichen
Texte schon fast zugewuchert hat.
Wenn aber schon die Zuordnung vergangener Ereignisse zu
Nostradamustexten so ein heikles Unterfangen ist, bei dem der Autor
immer Gefahr läuft, die Perspektive des Nostradamus mit seiner eigenen
zu verwechseln, wie viel schwerer ist dann erst die die Vorhersage
künftiger Geschehnisse! So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass
in der unüberschaubar großen Nostradamusliteratur verschiedenste
Zukunftsszenarien angeboten werden, die aber gleichzeitig alle dem
einen des Nostradamus entsprechen sollen. Dem Leser eines Buches
über Nostradamus
und seine Prophezeiungen, der nicht die Möglichkeit hat, selber auf die
Originaltexte zurückzugreifen, sei deshalb hier empfohlen, sich immer
bewusst zu sein, dass er nur auf das hört, was ihm der moderne Autor XY
über dieses Thema erzählt. Der eigentliche Nostradamus bleibt ihm weiterhin verschlossen.
Wie könnten aber von Seiten der Bearbeiter immer wieder neue
Fehlinterpretationen vermieden werden? Wie schon weiter oben angetönt,
ist dies wohl eine Frage des Forschungsansatzes. Wir müssten wohl im
Moment v.a. damit aufhören, Nostradamusverse bestimmten Ereignissen in
der Vergangenheit oder Gegenwart jetzt schon zuordnen zu wollen. Viel
besser wäre es, die gesamten Prophezeiungen als eine Art "Puzzle" zu
akzeptieren, dass erst noch vollständig zusammengesetzt werden muss.
Später können wir dann versuchen, mit Blick auf die Geschichte Verse
bestimmten Personen oder Ereignissen zuzuordnen. Ähnliches gilt auch
für die Weissagungen, die Zukünftiges betreffen. Zunächst wäre zu
versuchen, die einzelnen Texte inhaltlich logisch zusammenzusetzen. Und
erst danach kann mit aller Vorsicht gewagt werden, diese auszulegen.
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(Letzte Änderung dieser Seite: 14.11.2015)