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Prophezeiungen aus den Jahren 1555 bis 1567

Unter den 226 zusätzlichen Prophezeiungen gibt es 141 Vierzeiler, die mit Gewissheit von Nostradamus stammen und zwischen 1555 und 1567 im Rahmen seiner Jahresprognosen erschienen sind. Gesammelt wurden sie von Jean-Aimé de Chavigny, dem Schüler des Nostradamus, der sie 1594 in ihrer jetzigen Zusammenstellung veröffentlichte. Im Prinzip gehören dabei zu jedem Jahr 13 Verse (einer für jeden Monat plus ein Vers für das gesamte Jahr). Somit gäbe es theoretisch also 169 Prophezeiungen. Chavigny hat jedoch bloß 141 nochmals zusammengetragen. Doch wieso? Erschienen Chavigny die restlichen 28 Vierzeiler vielleicht als zu uninteressant? Oder standen die Voraussagen dieser Verse vielleicht in zu krassem Widerspruch zu den tatsächlich eingetroffenen Ereignissen, wie kritische Autoren vermutet haben? Leider lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, nach welchen Kriterien Chavigny die 141 "Présages" (wie diese Prophezeiungen im Orignal heißen) ausgewählt hat. Eines lässt sich aber mit Bestimmtheit sagen: bis heute ist kaum einer dieser 141 Verse auf überzeugende Art und Weise mit historischen Begebenheiten in Übereinstimmung gebracht worden, die sich zu seinem zugeordneten Zeitpunkt wirklich ereignet haben. Ich würde in der Beurteilung der Présages sogar noch weiter gehen. Ich vermute, dass diese Verse in aller Regel überhaupt nichts mit den Jahren zu tun haben, für die sie von Nostradamus veröffentlicht wurden.

Betrachten wir zunächst die Natur dieser Vierzeiler. Es gibt unter ihnen eine ganze Reihe, die sich inhaltlich klar und eindeutig auf die Zenturien beziehen. Auch in Stil und Machart gleichen die Présages den Zenturienversen. Dies legt die Vermutung nahe, dass wir es hier gesamthaft mit Versen zu tun haben könnten, die eigentlich zum Hauptwerk des Nostradamus gehören würden. Wenn dem so wäre, wieso hat sie unser Seher dann bewusst unter falschen Daten veröffentlicht? Dass er sie nicht einfach weggeworfen hat, beweist zunächst, dass diese Vierzeiler für ihn doch noch einen gewissen Wert gehabt haben. Falls Nostradamus eine präzise Anzahl Prophezeiungen geplant hat, könnten hier Verse versammelt sein, die einfach überzählig waren. Oder es handelt sich um Exemplare, die ihren Platz in den Zenturien verloren haben, weil Nostradamus sie durch noch bessere ersetzt hat.

Doch wäre eine Publikation unter "falschen Jahreszahlen" nicht ein großes Risiko gewesen? Natürlich muss Nostradamus gewusst haben, dass man recht bald dahinter kommen würde, dass diese Vierzeiler für die jeweiligen Daten Unrichtiges vorhersagen. Aber wäre das so schlimm gewesen? Eigentlich nicht! Eingefleischte Gegner unseres Sehers wären sicher in ihrer ablehnenden Grundhaltung bestärkt worden. Doch solche Kritiker wären ohnehin immer Gegner geblieben, egal was Nostradamus veröffentlicht hätte. Am anderen Ende des Spektrums standen die bedingungslosen Anhänger des Sehers. Auch diese waren durch offensichtlich "falsche" Vorhersagen kaum von ihrer Grundeinstellung abzubringen. Sie hätten die Verse entweder so lange uminterpretiert bis sie gepasst hätten oder sie einfach übergangen, vielleicht mit dem Hinweis, dass sie ohnehin nicht zum prophetischen Hauptwerk gehörten. Diese beiden Lager bilden bis heute jedoch den Hauptharst all derer, die sich näher mit Nostradamus und seinem Werk befassen. Die Zahl derjenigen, die sich kritisch aber gleichzeitig offen und fair damit auseinandersetzen, war und ist eher gering. Aus Vers 6/100, dem lateinischen Bannspruch gegen törichte Kritiker, geht aber hervor, dass sich der Seher mit seinen Texten gerade an diese Gruppe wendet. Nostradamus könnte bei der Veröffentlichung der Présages davon ausgegangen sein, dass Leser dieser Kategorie in der Lage sein würden, die wahre Natur dieser Verse zu erkennen. Und so hätten diese "ausrangierten" Vierzeiler als Ergänzungsliteratur doch noch eine gewisse Funktion erfüllt.



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(Letzte Änderung dieser Seite: 14.11.2015)