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Sechszeiler
Richtig ist, dass sich die
überlieferten 58 Sechszeiler aus den zusätzlichen Prophezeiungen nach
Form und Sprache deutlich von den Zenturienversen unterscheiden.
Etwas voreilig ist aber wohl
der naheliegende Schluss, dies sei ein Beweis dafür, dass sie entweder
nicht von Nostradamus stammen oder dann anderenfalls wenigstens nichts
mit den Zenturien zu tun hätten.
Leider wissen wir über die genaue Entstehungsgeschichte dieser Verse
nur sehr wenig. Vincent Seve, ein Enkel des Nostradamus, machte sie
1605 dem französischen König Heinrich IV. zum Geschenk, nachdem er sie
(nach eigenen Angaben) einige Jahre zuvor selber von einem Henry
Nostradamus erhalten hatte. Henry sei dabei ein Neffe des Sehers
gewesen. Die Existenz eines solchen Neffen ist nun zwar nicht
nachzuweisen, aber auch nicht auszuschließen, da einer von Nostradamus’
Brüdern durchaus einen nicht quellenmäßig belegten Sohn namens Henry
gehabt haben könnte. Der Grund, weshalb Seve überhaupt auf die Idee
gekommen ist, diese Verse dem König zu überreichen, liegt übrigens
darin, dass er geglaubt hat, sie beträfen speziell die Geschehnisse des
17. Jahrhunderts und das Schicksal des Königs (was sich aber als Irrtum
herausstellen sollte).
Konzentrieren wir uns nun auf die 58 Verse als solche. Auffällig ist
bei diesen vor allem die Tatsache, dass sie, wie schon gesagt, sechs
statt vier Zeilen umfassen und dass sie sprachlich weit einfacher
gehalten sind als die Vierzeiler. Und genau diese Merkmale wären für
eine auch nur halbwegs gelungene Fälschung eher untypisch. Nostradamus
war berühmt für seine geheimnisvollen Vierzeiler. Also hätte ein
Fälscher wohl mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls Vierzeiler verfasst
und die Sprache nach dem Vorbild der Zenturien gestaltet. Analysieren
wir nun den Inhalt der Sechszeiler, so stellen wir fest, dass diese
keinen ersichtlichen Zweck verfolgen, etwa eine zeitgenössische Person
oder Institution angreifen oder Propaganda betreiben. Dies ist aber zum
Beispiel bei zwei wirklich gefälschten Versen der Fall, die 1649
auftauchen und gegen Kardinal Mazarin, der damals Frankreichs
Staatsgeschäfte leitete, gerichtet sind (natürlich handelt es sich bei
diesen Versen um Vierzeiler!). Die Sechszeiler stellen ebenfalls keine
Parodie der Zenturienverse dar, wie man vermuten könnte. Inhaltliche
Bezüge und Übereinstimmungen mit den sicher echten Prophezeiungen des
Nostradamus sind vorhanden, aber nur in Maßen und keinesfalls
übertrieben, wie es bei einer Karikatur der Fall wäre.
Ich vermute, die einfachere Sprache und der einfachere Aufbau der
Sechszeiler enthalten den entscheidenden Hinweis auf die Natur dieser
Verse. Es könnte nämlich sein, dass wir hier den Überrest einer
abgebrochenen ersten Version von Nostradamus’ Prophezeiungen vor uns
haben. Möglicherweise hat unser Seher bemerkt, dass die Verse
sprachlich viel zu einfach geraten waren. Außerdem weisen die
überlieferten Sechszeiler noch eine Unmenge von konkreten Jahreszahlen
auf, was zusammen mit der einfacheren Sprache eine Rekonstruktion ihrer
ursprünglichen Anordnung (und somit das Verständnis der Prophezeiungen)
viel zu leicht gemacht hätte.
Sollten meine Vermutungen in etwa zutreffen, so wären die Sechszeiler
als wichtige Ergänzungsquelle zu den echten Nostradamus-Versen zu
betrachten.
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(Letzte Änderung dieser Seite: 14.11.2015)