3.2 Die Prophezeiungen aus den Jahren 1555 bis 1567
Die zweite Gruppe der zusätzlichen Prophezeiungen besteht aus 141 Vierzeilern. Diese stammen von Nostradamus und wurden in den Jahren 1555 bis 1567 in seinen Almanachen veröffentlicht. Dabei wurde in der Regel jedem Jahr und jedem Monat ein Vers zugeordnet. Nostradamus’ Schüler Chavigny hat diese Vierzeiler gesammelt und sie uns so überliefert. Allerdings scheint Chavigny aber ausgewählt zu haben, welche er der Nachwelt erhalten wollte. Es sind nämlich bei weitem nicht alle Vierzeiler vorhanden. Das Jahr 1555 ist vollständig, weist sogar zwei statt nur einen Vers auf, der sich auf das ganze Jahr bezieht. Dafür fehlt 1556 ganz. Für 1557 fehlt der Jahresvers sowie die Monate Februar, März und April. 1558 fehlt wiederum der Jahresvers sowie Februar und September. 1560 muß auf den Jahresvers und den Juni verzichten. Fünf Monate vermißt 1561, nämlich Januar, Februar, September, November und Dezember. Der Dezember fehlt auch 1566 und 1567. Unklar ist, weshalb diese Vierzeiler fehlen. Erschienen sie Chavigny vielleicht zu uninteressant oder stimmten ihre Aussagen zuwenig mit den tatsächlichen Geschehnissen in den Jahren und Monaten überein, denen sie zugeordnet wurden? Dazu muß man festhalten, daß dies für alle "Présages", wie sie im Original heißen, zutreffen würde. Es dürfte bis jetzt nämlich noch keiner dieser Verse auf ernstzunehmende Weise mit Ereignissen in Einklang gebracht worden sein, die zu "seiner Zeit" wirklich passiert sind. Ich würde sogar sagen, daß diese Vierzeiler mit ganz wenigen Ausnahmen (+P/1) nichts mit den Jahresangaben zu tun haben, unter denen sie auch in der vorliegenden Ausgabe (der Vollständigkeit halber) veröffentlicht wurden. Allerdings muß man einschränkend festhalten, daß diese Verse inhaltlich des öfteren tatsächlich in die Monate gehören, für die sie publiziert wurden.
Man muß sich nun fragen, weshalb Nostradamus Verse unter offensichtlich falschen Jahreszahlen hat drucken lassen. Dazu ist zunächst etwas zur Natur der Vierzeiler zu sagen. Es gibt unter ihnen eine ganze Reihe, die sich inhaltlich klar auf die Zenturien beziehen. Auch Stil und Machart gleichen diesen. Nach meinem Dafürhalten haben wir es hier deshalb wahrscheinlich mit Zenturienversen zu tun, die vielleicht überzählig waren und aus diesem Grund nicht mehr in das Hauptwerk aufgenommen werden konnten. Dies hätte ja auch Nostradamus‘ Konzept widersprochen, das nur tausend Vierzeiler vorgesehen hatte (Widmung an König Heinrich II.). Daß er aber diese Verse nicht einfach weggeworfen sondern in einem anderen Zusammenhang veröffentlicht hat, beweist, daß sie für ihn trotz allem einen gewissen Wert besessen haben. Doch warum in Almanachen unter falschen Jahreszahlen? Nostradamus muß natürlich gewußt haben, daß man recht bald dahinterkommen würde, daß diese Verse für die jeweiligen Jahre und Monate "Falsches" vorhersagten. Aber wäre das so schlimm gewesen? Eigentlich nicht! Eingefleischte Gegner unseres Sehers wären sicher in ihrer ablehnenden Grundhaltung bestätigt worden. Doch solche Kritiker wären immer Gegner geblieben, egal was Nostradamus veröffentlicht hätte. Am anderen Ende des Spektrums standen die bedingungslosen Anhänger des Sehers. Auch diese waren durch offensichtlich "falsche" Vorhersagen kaum von ihrer Grundeinstellung abzubringen. Sie hätten die Verse entweder so lange uminterpretiert bis sie gepaßt hätten oder einfach übergangen, vielleicht mit dem Hinweis, daß sie ohnehin nicht zum prophetischen Hauptwerk gehörten. Diese beiden Extreme bildeten und bilden aber bis heute den Hauptharst all derer, die sich näher mit Nostradamus und seinem Werk befassen. Die Zahl derjenigen, die sich kritisch aber gleichzeitig offen und fair damit auseinandersetzen war und ist eher gering. Wie aus seiner Legis Cantio aber hervorgeht, wendet sich unser Seher mit seinen Prophezeiungen v.a. an diese Gruppe. Und hier scheint er davon ausgegangen zu sein, daß Angehörige dieser Gruppe in der Lage sein würden, die wahre Natur der "Présages" zu erkennen.