Liebi Griess vo miim Cheer am Meer

Nach meinem grossen Pilgerweg von Basel bis León 2003 und dem Stück von León bis Santiago 2005 konnte ich 2007 den Weg ans Meer fortsetzen. Ich ging nicht nur auf den klassischen Pilgerwegen, sondern bog mal gegen Norden ab, um Enrique und Laurenzia Quintans zu besuchen, folgte von dort (Canduas bei Laxe) der Costa da morte über Muxía und Fistera bis Ézaro, von wo es über die Sierra de Outes zu Barbara und Tivo nach Cuns, Cando ging und von dort zurück nach Santiago. Hier ein paar Bilder mit Kommentaren, fast ein wenig Reisetagebuch-artig.

Wer einzelne Fotos in Originalgrösse (2200x1700Pixel) bestellen will, kann das per eMail an mich unter Angabe des Codes (Buchstabe und die drei Ziffern z.B. W326). Die Foto-Bezeichnungen bringen immer zuerst den Ort und dann die Bezeichnung des Inhalts.

Dieser Bericht steht auch – ein wenig schöner formatiert, aber mit unkorrigiertem Text - als pdf zur Verfügung: http://home.tiscalinet.ch/jschnidrig/gregor/Grosse%20Postkarte%20Jakobsweg07.pdf

Meine diesjährigen Etappen:

Zwischenstop in Barcelona

1. Santiago - Negreira

2. Negreira – Roma (!)

3. Roma - Canduas

4. Canduas – Arou/Sta. Mariña

5. Sta. Mariñas - Camariñas

6. Camariñas - Muxía

7-8. Muxía – Cabo Touriñan

9. Cabo Touriñan - Fistera

10. Cabo Nave

11-12. Cabo Fistera

13. Jakobstag in Fistera

14. Fistera - Cuns

15 Cuns

16. Cuns - Negreira

17. Negreira - Santiago

 

Zwischenstop in Barcelona

Zuerst bin ich mit ClickAir nach Barcelona geflogen, da ich sowieso einen Tag warten musste, bevor mein Billigstflug nach Santiago weiterging, blieb ich grad zwei Tage bei meinem einstigen Weggefährten Damien und versuchte, schon mal ein wenig Ruhe zu gewinnen, streifte durch diesen verspielten Park Güel (sprich ‚Guel’; gestaltet von Gaudí) und genoss es, dem Stress entschlüpft zu sein.

 


W009 Barcelona: Parc Güel

1. Santiago - Negreira

Nach einem Tag mit Damien im Hinterland Barcelonas flog ich am Donnerstag-Abend nach Santiago weiter und wanderte bis zu einer privaten Albergue 'Acuarius' (ein wenig viel Sandelholz-Räucherstäbchen aber sonst total nett und sauber und man kann auch mehrere Tage bleiben, nicht wie bei den grossen). Am Freitag zog ich mit Lorenz (von ihm habe ich das Zimmer in Bern geerbt und er ist von Bern bis Santiago in einem Stück gewandert) und dessen Weggefährten in die Stadt, kaufte Karten und besuchte wieder mal die Kathedrale, wo mir diesmal diese Steinmetzzeichen an den Säulen auffielen. Was die wohl für Bedeutungen haben?

 


W027 Santiago Cathedr SteinmetzZeichen

Bilder von der Kathedrale habt ihr ja gewiss schon genug gesehen, deshalb hier nur ein Detail.

 


W036 Santiago: Auszug Elvira

2. Negreira – Roma (!)

Am Samstag-Morgen kam Lorenz' Freundin an und wir brachen zu sechst von Santiago aus auf Richtung Fistera (Finis-Terrae: End der Welt).

 


W054 nach Negreira: Sabrina und Lorenz in Eukalyptuswald

In Negreira übernachteten wir im Albergue und am andern Morgen regnete es (wie oft in Galizien).

 


W059 nach O Cornado: Siesta

Am Abend des zweiten Tages liess ich die andern bei As Maroñas auf dem markierten Weg weiterziehen und zweigte gegen Norden ab. Ganz allein mit mir und meiner aktuell sich ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellenden Angst vor Hunden wanderte ich auf kleinen Strässchen und Feldwegen nordwärts. Am späteren Abend lud mich ein älterer Mann, mit dem ich am Wegrand ein paar Worte gewechselt hatte, noch in die Bar zu einem Glas 'Ribeiro' (hiesigen Wein) ein. Schon fast beim Eindunkeln erreichte ich eine kleine Ruine und übernachtete in freiem Feld unter meiner Pellerine.

3. Roma - Canduas

Am Morgen hatte ich grad Zeit zum Aufstehen und zusammenpacken, dann kam ein Gewitter und die Pellerine stand in ihrer eigentlichen Funktion im Einsatz. Das erste Dorf sieht so anders aus als seine Namensschwester:

 

 


W067korr Roma: Iglesia Sta. Sia

Etwa sieben solch kleiner Dörfchen waren an diesem Tag zu durchqueren und jedesmal brauchte es mich Über­windung: Hat es Hunde? Versperren sie mir den Weg? Bin ich klar und bestimmt genug, um an ihnen vorbeizugehen? Patricia hatte mir eine kleine Riechflasche aus dem AuraSoma-Sortiment mitgegeben: die Quintessenz 'Lady Nada' mit dem Kernthema der bedingungslosen Liebe. Ich habe im Wissen um meine fast neurotische Ängstlichkeit jeden Morgen in einem kleinen Ritual drei Tropfen auf dem Handgelenkt verrieben, daran gerochen, damit mein Seelentor im Nacken, das Geisttor auf dem Scheitel, die Fortsetzung der Schulterblätter am Rücken und die Fussgelenke 'umwölkt', um mich in dieser Liebe wahrzunehmen und mir vorzu­nehmen, aus dieser Liebe heraus auf die Hunde zuzugehen, sie zu lieben auch wenn sie ihren Dienst und mir Angst machten, aber auch trotz meiner Angst mit Bestimmtheit mein Durchgangsrecht einzufordern. Etwa fünf Dörfer durchquerte ich an diesem ersten einsamen Tag in dieser Manier, dann war ich müde und mochte nicht mehr gegen mich kämpfen und habe jeweils die Umgehungssträsschen der Dörfer benutzt - natürlich nicht, ohne zu registrieren, wie ich mir mein Leben von meiner Ängstlichkeit diktieren lasse. Versöhnt hat mich, dass Enrique Quintans, der 1993 mit unserer Gruppe Jugend­licher aus Obwalden auf dem Jakobsweg war, mir am Abend erzählt hat, dass ich dadurch an einem Ort einem wirklich bösen Hund ausgewichen bin - und er hat ganz galizisch immer einen Schirm oder einen Stecken dabei.

Ich muss mich mitsamt meiner Ängstlichkeit gern haben - tief durchatmen, morgen ist auch wieder ein Tag zum Üben.

 


W074 Canduas: Praia Rebordelo

Noch am Abend habe ich das erste Mal das Meer erreicht und musste natürlich grad ein wenig darin baden (es ist immer noch gleich kalt wie 1993: 'fresquito'). Aber stolz bin ich: ich bin von Basel bis ans Meer gegangen. Der Abend mit Enrique und Laurenzia war herzlich. Wir sind noch ein wenig durch Laxe (sprich Làsche) flaniert.

4. Canduas – Arou/Sta. Mariña

 


W091 Punta da Laxe

Am andern Morgen ging ich frisch gestärkt und gut erholt, mit dem Stempel des Ortspfarrers in meinem Pilger-Pass, zuerst um die Punta da Laxe und stieg über die Klippen ans Meer hinunter, wo es mich ein erstes Mal andächtig staunen liess, mit welcher Urgewalt hier die Wellen des Atlantiks selbst beim schönsten Wetter an die Felsen branden. Ich hatte im Verlauf des Tages noch mehrmals dazu Gelegenheit, aber das erste Mal ist halt immer speziell.

 


W104 Praia de Soesto visto da ‘O Peñon’, Laxe

Kurz nach Laxe kam ich an die Praia de Soesto: wie in Laxe ein kilometerlanger Sandstrand, aber anders als dort fast niemand am Spielen und Baden, vielleicht drei Familien. In Spanien beginnen die Sommerferien eben erst im August, das Meer ist fresquito und dort wo der Sand feucht ist hat es Sandflöhe.

 

Beim Weitergehen kam es mir vor, als wären die Alpweiden meiner Heimat ans Meer verlegt worden.


W105 O Soesto: Agricultura

 



W112 Soesto O Castrallon: Alpweide am Meer

 



W118 Boano, A Mesadoira: mein erstes Privatsträndchen

An dieser kleinen, unzugänglichen Bucht (der gut ausgebaute(!!!) Wanderweg führt weiter oben durch) hielt mich nichts mehr: ich musste hinunterklettern und nochmals vorsichtig ein Bad nehmen. Mittlerweile hatte ich herausgefunden, dass etwa um 13-14 Uhr Ebbe war und dann langsam die Flut wieder kam. Ein herrliches Gefühl, eine Bucht ganz für mich allein zu haben und mich unbefangen wie Gott mich geschaffen hat in die Wellen zu stürzen - nein, von ‚stürzen’ kann ich nicht reden, dazu war es zu kalt und ausserdem habe ich grossen Respekt vor der Kraft der Wellen. Aber reingestiegen und geschwommen bin ich.

 


W124 Praia de Traba

Respekt vor diesen Kräften ist sicher angebracht, aber sie sind wunderschön und eindrücklich und berührten mich mit ihrer Eleganz.

 


W128 Praia de Traba

Und wieder ein fast menschenleerer Strand. Verschwindende Spuren hinterlassend stapfte ich durch den Sand. Mittendrinn, 300m links und 300m rechts kein Mensch, deponierte ich nochmals den Rucksack und die Kleider und rannte diesmal in die heranrollenden Wogen. Der Sog der nächsten Welle kann einen ganz schön wieder rausziehen, sodass das Gefühl aufkommt, ‚Hilfe, ich kann nicht mehr zurück an Land - und dem ersten Schrecken folgte ein dezentes Glücksgefühl: Ich hab ja Angst um mein Leben! Toll! Es tat gut, nach dieser schwierigen Zeit zu Hause und im Beruf zu spüren, dass noch Lebenswille da ist und dass die dunkle Ahnung, es könnte sein, dass ich ans Meer komme und einfach nur gradaus weiterlaufen will und nicht mehr umkehren mag, entkräftet wurde: Ja, ich lebe und ich will leben.

 


W141 nach Mordomo: Steinskulptur

Zugegeben, an diesem Tag habe ich nicht viel nachgedacht, weder ans Vorher noch ans Nachher. Die Schönheit und Wildheit der Natur, die Freude an der Bewegung, die Berührung durch die Wärme der Sonne, den steten Westwind, die Spritzer des Wassers liessen mich endlich wieder mal abtauchen ins Hier und Jetzt: Kein Zeitplan, kein wartendes Etappenziel, keine Kontakt­verpflichtungen, einfach nur da-sein und geniessen - und fotografieren, für mich und die Freunde und die Nachwelt;-). Überall hat die Brandung beim Abschleifen des Granits wundersame Formen geschaffen.

 


W148 vor Camelle: hier ist ein Weg! Also: durch oder zurück?

Zwischendurch geriet ich auch wieder in bereits bekannte Situationen: Zum Fotografieren und Staunen bin ich abseits des Weges gegangen und wie ich wieder auf den Wanderweg zurück will, finde ich schon eine Wegspur, aber in diesen heissen und feuchten Landesgegenden wächst halt die Natur üppig, wenn ein Weg nicht regelmässig benutzt wird, überwuchern ihn sofort Dornen und Gestrüpp.

 

 


W158 Arou/S Mariñas, Alto das Campaleiras: Biwak2

Am Abend erklomm ich noch einen kleinen Hügel, doch ich war zu spät für den Sonnenuntergang. Recht weich geschlafen habe ich in diesem Bett von Föhrennadeln. Doch das Zeug ist bedenklich trocken und liegt wie Zunder zwischen den Bäumen, zusammen mit ebensodürren Disteln und Wacholder für den nächsten Waldbrand wie geschaffen.

5. Sta. Mariñas - Camariñas

Im Sommer sind in Spanien viele Feste und vor allem die Feste der Dorfheiligen werden wie hier in Santa Mariñias ausgiebig (2-3 Tage lang) gefeiert. Die Galizier sind stolz auf ihre keltischen Wurzeln und ihre Musik mit Dudelsack, Trommeln und Tamburin tönt sehr ähnlich wie die bretonische, irische oder walisische.

 


W170 S Mariñas: Musica

An der Praia do Trece - einer wenig besuchten, sehr ursprünglichen Bucht - habe ich diese Auquarium-artige Wasserpfütze in einer Felsmulde entdeckt und mich an der Vielfarbigkeit der Meeresküstenbewohner erfreut.

 


W179 Praia do Trece: Acuario

 



W207 Trece: Laxe de Reira

Ein paar Kilometer weiter wieder eine witzige Steinskulptur

 


W210 Praia de Beira: steinerner Kuss

O Beso de pedra, der steinerne Kuss wird diese Steinskulptur genannt. Im Hintergrund der Cabo Vilán.

 


W222 Cabo Vilán: Cabeza da morte

Hier ist einer der Gründe, warum dieser Küstenstrich 'Costa da morte', 'Todesküste’ genannt wird: Am Cabo Vilán taucht plötzlich ein riesiger Totenschädel auf: Ein weisser Felsblock, dessen Wände ausgewaschen sind. Zur Mittagszeit leuchtet er vermutlich noch viel echter wirkend zwischen den andern Steinen hervor. In einer 'Augenhöhle' kann ein Mann aufrecht stehen. Natürlich hat die Küste den Namen auch wegen der vielen gefährlichen Klippen, an denen viele Schiffe zerschollen sind.

6. Camariñas - Muxía

Ganz anders am nächsten Tag: Zwischen Camariñas und Muxía (Muschía oder Muchía gesprochen) wanderte ich einen Tag lang um eine grosse, weit­verzwiegte Bucht. Hier ist am Morgen um neun Uhr grad Flut und man hat das Gefühl an einem friedlichen, grossen See zu stehen.

 


W252 Trasteiro, Gándara

 



W262 Cereixo: Iglesia de Santiago, Detail: Portico

An einem kleinen, eher unbekannten Ort habe ich diesen hübschen 'Tympanon' (Türbogen-Relief) entdeckt: Das Relief dieser Jakobus-Kapelle zeigt, wie der Steinsarg des Jakobus mit dem Schiff übers Meer transportiert wurde.

 


W285 Leis, Plaia del Lago: Paraiso en la Costa da morte

Mitten in der Costa da morte gibts einen paradiesischen Sandstrand (eben an dieser ruhigen Bucht) und natürlich heisst es hier 'el paraiso' 'das Paradies'. Stimmts denn nicht, dass wir durch den Tod ins Paradies kommen?

 


W300 Moraime: Iglesia San Xulian

Eine wunderschöne Kirche – spätromanisch / frühgotisch - ist kurz vor Muxía bei Moraime anzutreffen. Patricia fiel sofort die Ähnlichkeit zur alten Zisterzienser-Abtei-Kirche in 'Les Bénisson Dieu' im Loire-Tal bei Charlieu auf: schlicht, hoch, heller Stein, runde Bogen. Die Romanik hat sich vor allem entlang des Jakobswegs verbreitet.

In dieser Kirche war grad der Pfarrer dabei in der Sakristei den Kindern Religionsunterricht zu erteilen und ihnen das Bussakrament näher zu bringen. Er machte das mit einer solchen Herzlichkeit und so vom Gedanken der Versöhnung her, die uns darin geschenkt wird, dass ich mich wohl fühlte und grad den Gottesdienst mit dieser Gruppe mitfeierte.

 


W309 Muxia: Sonnenuntergang3

Am Abend erreichte ich Muxía, einen der beiden Endpunkte des Jakobsweges. Nach der Versöhnung am Nachmittag erlebte ich hier den ersten prächtigen Sonnenunter­gang vom Dach der Pilgerherberge aus: Die Sonne stirbt im Meer. Was gebe ich ihr mit?

7-8. Muxía – Cabo Touriñan

 


W321c Cabo Touriñan visto da Campo Coracho

Anderntags - mittlerweile war Freitag 20. Juli - konnte ich wieder mal nicht unten der Küste entlang gehen, da es zu felsig war, und musste über die Hügel ausweichen. Hier sieht man den westlichsten Punkt Spaniens: den Cabo Touriñan, wo ich mir vorgenommen hatte, mich drei Tage zurückzuziehen, drei Tage nur ich und das Meer, und annehmen, was kommt, schauen, was sich entwickelt.

 


W338 Cabo Touriñan: Pferde

Auf der Halbinsel Cabo Touriñan weiden etwa 12 Pferde frei, ohne Zaun, um einen Vorderlauf haben sie eine grosse Astgabel angedübelt, damit sie nicht zu schnell rumrennen.

 


W340 Cabo Touriñan: Biwak im Wind

Unter einem grossen Stein fand ich einen hübsch flachen Platz und richtete dort mein Biwak ein. Am ersten Tag sammelte ich viel Müll zusammen, den die Wellen an den Strand gespült oder Fischer liegen gelassen hatten.

9. Cabo Touriñan - Fistera

In der zweiten Nacht schlief ich unruhig, da ein heftiger Wind meine Pellerine total zum Flattern brachte. Am Morgen war ich gerädert und blieb lange liegen. Zum Mittagessen kletterte ich auf einen grossen Felsblock. Es begann zu regnen. Ich stieg nochmals ans Meer hinunter um die jetzt noch viel eindrücklicheren Wellen zu fotografieren.

 


W341 Cabo Touriñan: Stürmchen

Als ich dann zum Biwak zurückkam, war von hinten unten vom grossen Nachbarstein Wasser ins Biwak gelaufen und mir wurde klar, warum es hier so schön flach war: weil es immer wieder aufgeschwemmt wurde. Der Entscheid, meinen festen Vorsatz, drei Tage hier zu bleiben, aufzugeben und mir eine trockene Unterkunft zu suchen, war überraschend schnell gefällt. So gut es eben ging packte ich alles zusammen und wanderte um 16 Uhr bei heftigem Wind und Regen los Richtung Fistera. Irgendwo war ein Hotel am Strand, doch das hätte 43 € pro Nacht gekostet, vergiss es. In Leis war (wen wunderts) kein Mensch auf den Strassen anzutreffen, den ich nach einer Herberge hätte fragen können und ich wollte nicht anhalten und im Rucksack den Zettel suchen, wo vielleicht etwas drauf gestanden hätte. So wanderte ich eben einfach noch zwölf Kilkometer weiter bis Fistera, wo ich wusste, dass es sicher eine Herberge gibt. Leider war sie an jenem Sonntag-Abend bereits überfüllt, also musste ich noch ein Hostal oder eine Pension suchen. Ich hatte Glück und lernte Oliver kennen, der von Heiligenberg am Bodensee hergewandert war und auch keinen Platz im Albergue gefunden hatte. Zu zweit teilten wir uns ein Hotelzimmer zu je 15€. Am nächsten Tag reiste Oliver ab. Da der Hotelier mir die Verlängerung für 18€ pro Nacht im selben Zimmer offerierte, beschloss ich,  noch 3 Tage hier zu verweilen.

10. Cabo Nave

Anderntags war wieder ganz anständiges Wetter und ich konnte den Cabo Nave nachholen, den ich eigentlich auf dem Weg nach Fistera überqueren gewollt hätte, den ich aber tags zuvor im Regen schleunigst umgangen hatte.

 


W352 Fistera, Cabo Nave

Ein solcher Blick in die Tiefe reizte natürlich, zwischen den Felsen hinunter zu steigen bis ans Ufer, wo die Wellen gegen die Felsen knallen und die Gischt brodelnd zwischen den Steinblöcken wogt.

 


W365 Fistera, Cabo Nave

Wie mutig bin ich? Noch einen Stein weiter nach vorne? Lass ich mich vom Meer küssen, oder bleibe ich hinten als blosser Zuschauer? So ganz allein, ohne dass jemand gewusst hätte, wo sie mich hätten suchen müssen, habe ich nochmals gespürt, dass ich leben will. Ich habe dann ganz respektvoll und voll risikobewusst viel gewagt, sass sogar auf einen Stein, der so alle 10 Minuten von einer grösseren Welle überflutet wird und liess mich - nicht ohne Herzklopfen - von einer solchen 'überspülen', wobei sie mich gleich hinter den Stein runterspülte und ich merkte, wie wenig ich in dieser Wucht der wogenden Wassermassen bestehen konnte. Da die Steine im Wellenbereich auch oft veralgt sind, war es glitschig und ich habe mir auch ein wenig weh getan. Das reichte und ich stieg wieder hoch, erforschte eine Quelle wenig unterhalb des Gipfels und genoss dann den Sonnenuntergang unten an der Praia do Fora, dem Sandstrand von Fistera.

11-12. Cabo Fistera

 


W384 Cabo da Nave und Praia da Fora vom Cabo Fistera aus

Am nächsten Morgen setzte ich dort meine Erkundungstour fort. Von hier oben sieht man deutlich, wie die Wellen mit etwa 30-50m Abstand recht regel­mässig an die Küste rollen. Dadurch entsteht dieses so beruhigende, langgezogene Wellenrauschen. Auch am Cabo Fistera musste ich natürlich bis an die Wasserlinie runter klettern und die Urgewalt spüren.

 


W389 Cabo Fistera

Mit dem Selbstauslöser konnte sogar ich mal auf das Bild und stehe natürlich verkehrt zur Sonne, sodass man nur Schatten sieht. Den ganzen 'Berg' (200m hoch, etwa 3km lang und 1.5km breit) habe ich 'erforscht' und kam am Abend an dessen Südspitze, zum Leuchtturm, dem 'Faro', wo auch der km-0-Stein ist. Da war ziemlich ein Touristengewusel, aber vorne unten, wo es über die Klippen runter geht, war ich wieder allein.

 


W415 Cabo Fistera: da unten stand ich

Beim äussersten Punkt stieg ich wieder bis ans Meer runter. Und wieder stellte sich mir die Frage: Wie nah ran geh ich? Es sass bei einen tollen 'Steintisch' der bei diesem Stand der Flut noch nicht überflutet war, an dem die Wellen aber gelegentlich gewaltig aufspritzten. Zuerst schaute ich nur lange zu, dann fand ich, dass ich mich jetzt genug von der Ängstlichkeit hab leiten lassen und dass ich es jetzt einfach mal wage, da raus zu stehen. Ich schreib auf einen Kassabon einen 'Im-Fall-eines-Unfalls-Abschiedsbrief', liess die Kleider und das Gepäck im sicheren Bereich oben und stellte mich auf diesen Tisch ins Licht der sich verabschiedenden Sonne. Was grad zuforderst war habe ich ihr mitzugeben versucht, nachgerufen, geweint über die elende Ängstlichkeit, das Krank- und Unentschieden-Sein, die Trennung, das Gefühl, das Leben sei vorbei, die Perspektivelosigkeit, die Traurigkeit, das fehlende Selbstvertrauen... Und irgendwann hatte ich das Gefühl, genug davon, was bringts, ich steh hier und bewein mein Schicksal und da vorne geht die Sonne in den prächtigsten Farben unter, jetzt hol ich den Fotoapparat und schiess wenigstens noch ein paar gute Bilder - was ich dann auch tat. Und beim letzten Sonnenstrahl schlugen die Wellen nochmals richtig hoch.

 


W411 Cabo Fistera: Sonnenuntergang

13. Jakobstag in Fistera

Der nächste Tag war der 25. Juli: Jakobus-Tag. In Galizien ein Fest, denn er ist da Landespatron wie bei uns der Bruder Klaus. Zufällig schlenderte ich grad an der Pfarrkirche von Fistera vorbei, als der Gottesdienst begann, also nutzen wir die Gelegenheit, denn sonst kommt man ja nie in die Gotteshäuser rein.

 


W423 Fistera Iglesia Sta. Maria de Areas, Capilla de Sta. Lucia

Den Nachmittag verbrachte ich nochmals auf dem Cabo Fistera, dort hat es eine Einsiedelei, die Ermita de San Guillermo (Hl. Willhelm, irgendwie zu Zeiten Karls des Grossen), ein grosser Felsblock, unter welchem eine Art Höhle ist. Dort versuchte ich endlich mein Tagebuch nachzuführen, doch immer nach ein paar Sätzen übermannte mich grosse Müdigkeit, irgendwie sollte es einfach nicht sein.

14. Fistera - Cuns

Am frühen Morgen des 26. Juli brach ich auf. Barbara, die ich in Outes besuchen wollte, hatte mir geschrieben, dass sie am Samstag an eine Hochzeit eingeladen seien, was mich dazu veranlasste, am Donnerstag früh aufzubrechen, um mögichst weit zu kommen, damit ich am Freitag schon bald nach dem Mittag bei ihr wäre, damit wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten.

 


W452a Fisterra Pta do Cabelo Morgenlicht

In einer wunderbar friedlichen Stimmung präsentierte sich die Bucht von Fistera und ich konnte mit ruhigem Gefühl in dieses neue Bewusstsein wechseln: Jetzt bin ich auf dem Rückweg, auf dem Weg zurück in den Alltag, der aufgehenden Sonne entgegen, dem Bild des neuen Lebens, der Auferstehung.

Nur eines stimmte mich noch traurig: Christine, eine Frau aus Bümpliz, die selbst intenive Hochs und Tiefs erlebt, hatte mich gebeten, ihr vom Strand eine Jakobsmuschel mitzubringen, da sie mit ihrem Mann Charly zusammen dort hinpilgern wollte, aber nicht mehr konnte, weil er Krebs bekam und starb. Auch für mich selber hätte ich von Herzen gern eine Jakobsmuschel gefunden, denn das wäre natürlich schon die Krönung, eine selbstgefundene Muschel von der Pilgerreise nach Hause bringen zu drüfen. Jakobsmuscheln sind aber nicht einfach am Strand zu finden. Da gibt es Millionen von schwarzen Miesmuscheln und hunderte von Venusmuscheln, aber keine Jakobsmuscheln, denn diese gedeihen im Schlick der Flussmündungen, nicht im Sand der Strände. Ich stapfte über die zweikilometerlange Praia da Langosteira und suchte noch ein letztes Mal mit den Augen das Strandgut ab, nahm noch zwei, drei besonders schöne Venusmuscheln mit, aber Jakobsmuscheln gab es natürlich keine. Ich überlegte mir schon, mit welchen Worten ich ihr den untauglichen Ersatz anbieten wollte und klagte das Leid auch den himmlischen Mächten und wandte mich dabei natürlich speziell an Charly, von dem ich wusste, dass er ein spezieller Mensch gewesen war.

 


W452b Praia da Langosteira: Muschelfunde

Etwa 200m vor dem Ende des Strandes entdecke ich tatsächlich zwei Jakobsmuschel-Unterseiten, das sind die roten in der Mitte, die eine war recht ramponiert und ich atmete erleichtert auf: wenigstens das.

Doch dann, etwa 50m, bevor der Strand zu Ende geht, sehe ich schräg rechts unten vor mir eine winzig kleine Jakobsmuschel, nicht grösser als ein Fünfliber, nur beim Kamm ganz leicht beschädigt und 10m weiter noch eine, ebenso klein, makellos. Ich musste weinen vor Freude. Und ich musste staundend den Kopf schütteln, denn Christine hatte vor der Abreise auf meinen Einwand hin, dass sie nicht am Strand zu finden seien, mit ziemlicher Zuversicht gesagt, dass ich welche fände. So ein Ereignis verlieh meinen Füssen Flügel. Zwar war es nicht einfach den in der Gegenrichtung signalisierten Weg zurückzuverfolgen und ich verlief mich regelmässig alle 3/4 Stunden, aber das konnte meinem Hochgefühl keinen Abbruch tun. Ich legte Patricias Pareo als Sonnenschutz und als Zeichen für das 'neue Kleid' über die Schultern und wanderte der Küste entlang.

 


W462 Figueira: Alto da Prado

Bei Cée verliess ich wieder den Jakobsweg der andern und folgte noch zwei Stunden der Küste, bevor ich bei Ézaro zur Sierra de Outes aufstieg, einem Hochland zwischen 300 und 400 m.ü.M. In Galizien hat es inzwischen auf fast allen windigen Hügeln solche modernen Windmühlen. Sie summen etwas, aber ich finde sie eigentlich noch elegant, bin halt mehr Technik-Freak als Naturbewahrer.

 


W478 Beba: Iglesia S Xulian, Fuente

Gegen Abend kam ich bei Beba an der Kapelle San Xulian (sprich 'San Schulián) also 'Julianskappelle' vorbei. Dahinter hat es einen Brunnen, der sprudelt mit solcher Kraft, ein Bild der Frische und des sprudelnden Lebens.

 


W480 Beba: Outeiro

Auch nach 37 km und mittlerweile 13.5 Stunden Wandern und Rasten fühlte ich mich noch fit und wanderte in den Abend hinein. Gegen 21 Uhr rechnete ich anhand der Karte mal aus, wie weit es noch war und befand dann, wozu jetzt einen Schlafplatz suchen, wenn ich in drei Stunden dort sein und wieder in einem richtigen Bett schlafen kann? Es war ja Vollmond und die letzten Dörfer konnte ich problemlos umgehen. Kurz nach Mitternacht kam ich an und hatte etwas gemacht, was ich mir nie zugetraut hättte: ich war an jenem Tag ziemlich fast 60 km weit marschiert - beflügelt, in Trance, im Hochgefühl.

15 Cuns

So konnte ich den ganzen Freitag mit Barbara, Tivo und ihrer Familie verbringen, half am Nachmittag Tivo ein wenig beim Mauern seines Neubaus und am Abend gab es köstliche Meeresspezialitäten zu essen.

16. Cuns - Negreira

 


W494 Rio Tambre: Puente a la centrala

Am Samstag morgen brach ich bald mal auf, stieg in die Schlucht des Rio Tambre hinunter und fand bei der Kraftwerkzentrale diese schmale und wirklich sehr luftige Hängebrücke. Aber anschliessend war nichts mit der weiss-gelben Wegmarkierung, die Tivo für Jakobsweg-Zeichen gehalten hatte: Nein, das sei ein Fischer-Weg für die Hotelgäste und er ende nach einer halben Stunde. Als Alternative schien es - zumindest aus der Sicht der Hotel-Receptions­angestellten nur die Möglichkeit der Strasse zu geben. Tapfer begann ich die Serpentine auf der andern Seite der Schlucht hochzutippeln. Da sah ich links eine Abzweigung zur Wasserfassung, also jenem kleinen Staubecken, wo das Wasser aus dem Kanal in die Druckleitungen gefasst wird. Alles war umzäunt und abgeschlossen, aber eine anständige Bergziege kann ja unten um die Mauern herum’gehen’, o.k. manchmal musste ich mich mit den Händen auch ein wenig halten. Auf der Rückseite fand ich, nach dem geschlossenen Bereich, eine Möglichkeit, auf den Damm des Kanals zu kommen.

 


497 Rio Tambre: Canle

Von da an hatte ich für etwa sechs Kilometer einen zwar sehr schmalen und exponierten, aber dornenfreien und ebenen Weg durch die Winkel der Schlucht bis zur Staumauer des Rio Tambre, wo ich nochmals ein Tor überklettern musste.

 


W517 Condomira, Maio Grande

Eine der üblichen Steinmauern am Wegrand bot hier die Gelegenheit, einmal mich in der neuen Pilgermontur selbst zu fotografieren. Der Pareo eignet sich im heissen Wetter wunderbar als Schattenspender, da er viel Luft an den Brustkasten lässt, wo ich beim Wandern ja viel Wärme wegschwitzen können will. Und mir hat auch seine Farbigkeit gefallen: Am andern Tag in Santiago habe Ich ihn gleich anbehalten, auch wenn einige Passanten schräg schauten.

 


W521 Pontevedra Cap Nosa Sra de Bo Suceso

Diese Kapelle heisst 'Unsere Liebe Frau vom guten Erfolg'  oder 'Wohlergehen' (Bo Suceso). Da wollte ich auf dem Heimweg unbedingt vorbeipilgern, auch wenn es einen kleinen Umweg bedeutete und auch wenn die Kapelle selbst nicht grad von Bo Suceso verwöhnt zu sein scheint.

 


W523 Pontevedra Cap Nosa Sra de Bo Suceso interno

Auch innen sieht es nach armer Schlichtheit aus.

 


W538 Negreira: im Albergue gemeinsam Essen

Von diesem Abend in der Albergue in Negreira möchte ich Euch noch zwei schöne Erlebnisse berichten: Einerseits kochten wieder einmal ein paar Pilger gemeinsam und luden alle andern zum Essen ein. Und wieder einmal kam es zu einer interessanten Begegnung: Ich treffe eine Frau, Bernadette, und wir entdecken im Gespräch, dass wir beide aus der Schweiz sind. Sie meint, ich sei der Sprache nach weder Basler noch Berner. Sie redet auch nicht grad Obwaldner Dialekt, wohnt aber in Sarnen. Ah, wo denn? In der Bünten? Ach, kennst Du vielleicht... natürlich kennen sie Barbara und Daniel Abächerli-Lehner, haben sogar gelegentlich die Kinder gehütet, und den Ludwig... Und dann kommt ihr Mann um die Ecke und es ist Hanspeter Hodel, bei dem ich damals in der Jungwacht-Zeit Scharleiterkurse der Bundesleitung besuchte. Die Welt ist klein.

17. Negreira - Santiago

 


W540 Negreira: Iglesia im Morgenlicht

Am nächsten Morgen, es ist Sonntag, der 29. Juli, bin ich extra früh aufgebrochen, um 7 Uhr, damit ich bis zur Pilgermesse um 12 Uhr im 22km entfernten Santiago bin. Beim Wegmarschieren präsentierte sich die Kirche von Negreira wunderhübsch im Morgenlicht.

 


W553 Sarela de Abaixo: dritter Blick auf die Kathedrale

Und dann, vier Stunden später, darf ich tatsächlich mit dieser ganz speziellen innern Freude und dem Wissen, ich war am Meer, ich bin dort umgekehrt, mit der Gelassenheit, etwas mehr und anders gemacht zu haben, als die kirchlichen Autoritäten vorgeben, den neuerlichen ersten Blick auf die Kathedrale werfen, und diesmal komme ich von vorne auf sie zu und weiss, da sitzt einer im Torbogen und erwartet mich mit offenen Armen und lächelt mich strahlend an.


V310 Santiago, Kathedrale: Tympanon mit Christusfigur im Portikus (Vorhalle)


W564 Santiago, Cathedral Pilgergottesdienst

Der Pilgergottesdienst, der auch an diesem Sonntag wie jeden Tag um 12 Uhr stattfindet, ist natürlich gestossen voll und das Vorlesen der Anzahl der eingetroffenen Pilger von den verschiedenen Destinationen dauert fast 10 Minuten und der Gottesdienst ist wie üblich an solchen Pilgerorten überhaupt nicht innig und viele warten ja eh nur auf das grosse Rauchfass am Ende des Gottesdienstes - aber ist alles Nebensache. Ich bin zurück! Ich bin bis ans Ende der Welt gewandert und ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause. Ja, Gott ist die Liebe, ich durfte es spüren, ich darf es spüren und ich will gern wieder aufbrechen und diese Liebe weitergeben. Einzelne Sätze der Predigt - inzwischen verstehe ich recht gut Spanisch - bleiben im Vorbeiflattern hängen und lösen eigene Gedanken aus. Ich bin vermutlich den ganzen Tag mit einem selig verklärten Lächeln durch Santiago geschlendert, so wie das frisch-angekommene Pilger ja wohl tun.

 


W578 Santiago: Abschlussfeuerwerk

Montag und Dienstag hatte ich nichts anderes mehr zu tun, als in Santiago zu sein und zu warten, bis am Mittwochmorgen mein Flug ging. Aber es war ja wohl wieder eine Gunst der Stunde, dass mein letzter Abend in Santiago zugleich der letzte Abend der Festlichkeiten zur Feier des Jakobusfestes in Santiago war (7 Tage Fiesta! echt spanisch). Katharina, die Hospitalera (Herbergsbetreuerin) vom Acuario hat uns mitgeschleppt zum grossen Abschlussfeuerwerk beim Campus und zum Schlusskonzert neben der Kathedrale

 


W582 Santiago: Schlusskonzert

und das alles, weil ich am andern Tag ging ;-) Toll! Um 1/2 3 kam ich heim und um 5 musste ich losmarschieren, damit ich pünktlich um 7, spätestens um 1/2 8 einchecken konnte. Ich hätte ja den Bus nehmen können, aber ich wollte meinen Heimweg fortsetzen. So kann ich das nächste Mal gleich vom Flughafen weg Richtung Melide loswandern. Der Morgen war frisch und wolkig - und als ich in der Abfertigungshalle drinn war, begann es draussen wieder wie aus Kübeln zu regnen - wie üblich in Galizien am Morgen.

 

13.8.06 Gregor

Kontakt: gregor.ettlin-burkhart@gmx.ch /+4178 760 78 99