Sakalava
Der
dünne Fluss Sakalava ist auf den üblichen Landkarten nicht
eingezeichnet. Er fliesst von Norden herkommend in der Gegend
der heutigen Autofähre in den Fluss Mangoky, der sich
seinerseits in mehrere Deltaarme aufteilt und in der Nähe
von Morombe (im Südwesten von Madagaskar) ins Meer strömt.
Zehn
Kilometer nördlich des Mangoky am Sakalava in der heutigen
Reisebene von Bengy siedelte vor Jahrhunderten ein Volk, das zum
Nukleus des grossen Volkes des madagassischen Westens, der
Sakalava, werden sollte. Die Gräber von zwei Brüdern, Söhne
(oder jedenfalls Nachkommen) des Sakalava-Führers
Andriamandazoala, der die Wanderung vom Südosten nach Westen
geleitet hatte, befinden sich noch dort. Die Grabstätte von
Andriamandazoala findet sich in Ankazomanga.
Die
Herkunft der Volksbezeichnung Sakalava ist umstritten. Womöglich
haben sie von diesem Fluss den Namen übernommen (langes Tal).
Eine andere Erklärung führt den Volksnamen auf die
madagassischen Worte sakany (Breite) und lavany (Länge) zurück
und würde also 'die Leute der langen Ebenen' bedeuten. Eine
weitere Hypothese führt Sakalava auf 'jene der Gegend von Isaka'
zurück. Eher unwahrscheinlich erscheint der Versuch, Sakalava
mit saka (die langen Katzen von saka, Katze) zu erklären.
Im
Dunkel der madagassischen Geschichte scheint es aber erwiesen,
dass sich dieses Volk im Schatten des Pic Boby, in der Ebene von
Ivohibe, aufhielt. Dort werden diese Leute erstmals im 17.
Jahrhundert als Maroseranana von Flacourt erwähnt. (Die
Dynastie der Maroseranana erschien Mitte des 16. Jahrhunderts
bei den Mahafaly. Sie übernahm die Führung der Sakalava und
war verantwortlich für die schnelle Expansion der Sakalava.)
Womöglich kamen die Vorfahren der Sakalava von der Südostküste,
die ihrerseits unter dem Druck von neuen - islamischen -
Einwanderern (Antaimoro) stand. Unklar bleibt jedoch, ob die
Vorfahren der Sakalava aus der Region des Volkes der Anosy bei
Fort-Dauphin kamen oder von jener der Antaisaka bei Vangaindrano.
Vom
Pic Boby wanderten sie gegen Süd-Westen an den südlichen
Mangoky bei Betroka, von dort dem Fluss Onilahy entlang nach
Westen und zwischen den Gebirgen Isalo und Anavelona nach Norden
bis zum Fluss Sakalava. Dort entstand das Dorf Bengy.
Der
trockene Westen Madagaskars war damals fast menschenleer, nur
die Unterläufe der Flüsse Morondava und Tsiribihina waren
sporadisch besiedelt. Die Sakalava nannten das bereits dort
wohnende Volk Tankarana (Leute der Felsen). Die Tankarana werden
auch vom Priester Luis Mariano im 17. Jahrhundert erwähnt.
Zwischen
den Flüssen Fiherenana (der in Tulear ins Meer mündet) und dem
Mangoky bildete sich allmählich das Volk der Sakalava, das
zwar befestigte Dörfer anlegte, jedoch halbnomadisch lebte.
Die Sakalava waren vornehmlich Viehhalter mit viel Platzbedarf
in den kargen Steppen, daher drückten sie gegen Norden und
gegen Süden. Die kriegerischen Sakalava wiesen die südlich
angrenzenden Mahafaly auf das südliche Ufer des Onilahy und
stiessen vor allem auch gegen Norden vor. Erst errichteten sie
ihre Hauptstadt in Maneva, später in Mahabo, beide Orte
liegen östlich von Morondava. Der Menabe war bald unter
ihrer Kontrolle. Die dort lebenden Völker wurden integriert
oder versklavt: die Sakalava strebten danach, ihre andevo
(Herde) laufend zu vergrössern, dazu zählten Rinder
ebenso wie Sklaven. Unter der Leitung des mächtigen
Andriandahifotsy, Grossenkel von Andriamandazoala, breiteten
sich die Sakalava auch über den Fluss Tsiribihina nach Norden
aus.
Der
Sakalava-Führer Andriandahifotsy (der weisse Prinz) hatte von
den Europäern, die regelmässig die Bucht von
Saint-Augustin bei Tulear anliefen, Gewehre und Schiesspulver
eingetauscht und somit eine militärische Überlegenheit
erhalten. In weiser Voraussicht behielt er sich das Monopol der
Feuerwaffen vor und kontrollierte den Handel mit den Seefahrern.
Diese Monopolstellung sicherte seine Macht und ermöglichte
seine Expansionspläne.
Seiner
Macht bewusst hielt er Hof, empfing Gesandtschaften, so 1671 den
Franzosen Desbrosses oder schickte eine Delegation zur französischen
Handelsniederlassung nach Fort-Dauphin.
Doch
seine Expansionspolitik beruhte nicht nur auf Waffen und Krieg,
er ging auch taktische Heiratsallianzen ein. So wurden nach und
nach verschiedene Völker des Westens integriert: Sakoambe,
Voroneoke, Masikoro. Die besiegten und integrierten Völker
wurden Vasallen der Sakalava. (Masikoro waren Bauern, die womöglich
vor dem 10. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert aus Mozambique
einwanderten. Sie pflanzten Sorgho, Maniok, Süsskartoffeln und
Mais an.)
Um
1685 starb Andriandahifotsy, der erste grosse König der
Sakalava, er war im ganzen Südwesten dermassen bekannt, dass
Flacourt diese Region schlicht das 'Land von Andriandahifotsy'
nannte. (Andriandahifotsy nannte er Lahaye Fouchi).
Begraben
wurde Andriandahifotsy in Maneva bei Mahabo am Morondava-Fluss.
Sein posthumer Name wurde Andrianihananinarivo (der König,
der tausend unterworfen hat).
Seine
17 oder nach anderen Angaben 19 Kinder wurden Chefs von Dörfern,
wobei die ranghöheren volamena (Söhne der ersten Frau)
über die wichtigeren Regionen herrschten. Die rangniederen
volafotsy (Söhne von Frauen, denen der König polygam
verbunden war) bekamen die unsicheren Grenzregionen zugeteilt.
Diese Herrscher von marginalen Territorien trieben vor allem die
Eroberungen und die weitere Expansion der Sakalava voran. Doch
die Herrschaftsgrenzen der kriegerischen Sakalava blieben oft
unklar und änderten sich je nach Machtverhältnissen.
Wie
so oft, stritten sich auch die volamena um Nachfolge und Erbe
des Königs Andriandahifotsy. Tsimanongarivo (posthumer
Name: Andriamanetriarivo) setzte sich durch, indem er einen
Bruder nach Süden schickte und den anderen, Andriamandisoarivo,
mit den Königsreliquien nach Norden, damit die beiden ihre
eigenen Reiche gründen konnten. So blieb der Menabe geeint
unter dem als brutal bekannten König Tsimanongarivo. Der
schiffbrüchige Seefahrer Robert Drury traf ihn zu Beginn des
18. Jahrhunderts und hinterliess keine sympathische Beschreibung
des Königs.
Der
Menabe erlebte jedoch eine Periode des Friedens, zerfiel aber
infolge von neuen Erbstreitereien nach dem Tod von
Tsimanongarivo. Der Nachfolgestreit führte zur Aufsplitterung
des Menabe in zwei Reiche: Mahabo am Fluss Morondava und Sahadia
beim Fluss Tsiribihina. Diese Gebiete kamen nach 1830 unter den
Einfluss der Merina, widersetzten sich den Invasoren aus dem
Hochland jedoch immer wieder und wehrten sich auch nachhaltig
gegen die Kolonialdominanz der Franzosen ab 1895.
Tsimanato
(posthumer Name: Andriamandisoarivo), zog also von seinem Bruder
weg nach Norden und gründete gegen Ende des 17. Jahrhunderts im
Norden das Reich Boina. Seine Hauptstadt lag bei der Mündung
des Mahavavy in der Nähe der Bucht von Boina, 60 Kilometer
südöstlich von Mahajanga im Ort Tongay. Dort befinden sich
noch heute die Königsgräber (doany) von Bezavo.
Menabe
und Boina wurden von den Sakalava als Zwillingskönigtümer
betrachtet, denn beide bewahrten Reliquien von Andriamisara auf.
Diese Reliquien werden heute noch sowohl in Belo-sur-Tsiribihina
als auch in Mahajanga verwahrt und geehrt. Jene von Mahajanga
werden jedoch heute von zwei königlichen Familien
beansprucht - vor Gericht.
Auch
der Sakalava-König in Boina stützte sich auf den
florierenden Handel mit den Antalaotra (moslemische Händler)
und den europäischen Seefahrern, was ihm den Zugang zu den
begehrten Feuerwaffen verschaffte. 1703 standen ihm während
eines Jahres rund 20 Militär-Ausbildner von zwei
amerikanischen Handelsschiffen im Austausch gegen Sklaven zur
Verfügung.
Tongay
am Unterlauf des Betsiboka war Königsresidenz und
Hauptstadt der Boina-Sakalava. Langani, eine alte
Handelsniederlassung der Antalaotra im Mündungsdelta des
Flusses Mahajamba, verlor an Bedeutung. Die Hauptstadt Tongay
wurde später nach Marovoay am Unterlauf des Betsiboka
verlegt.
Unbekannt
ist, wann die heutige Stadt Mahajanga von Indern und Komorern
gegründet wurde und der Königsstadt - und Grabstätte
von König Andriamandisoarivo - Tongay den führenden Rang
im Handel mit den Ausländern ablief. Kapitän O. L.
Hemmy, der 1741 mit dem holländischen Sklavenboot De Brack
Marovoay besucht, erwähnt die Stadt jedenfalls nicht. Das
wichtigste Exportprodukt der Region waren Sklaven: der
Menschenhandel machte Boina reich.
Das
Königreich Boina expandierte nach Norden bis zum Fluss
Sambirano bei Ambanja und gegen Osten hin bis zum Lac Alaotra.
Sogar die Merina waren der Boina-Macht tributpflichtig und
litten unter den wiederholten Razzien der Sakalava.
Wie
oft in den feudalen Nachfolgeregelungen der madagassischen Könige
trat nach dem Tod von König Andriamanetriarivo 1718 eine
Schwächung durch die Nachfolger ein, erst die Königin
Ravahiny, die von 1780 bis 1808 regierte, brachte wieder
Stabilität in Boina, gestützt auf den Handel, der jetzt
auf Mahajanga konzentriert war. Die Königin besuchte
Andrianampoinimerina in Antananarivo und erlaubte ihm, über die
Handelsstadt von Boina, Mahajanga, Sklaven zu exportieren und
Waffen einzuführen. Andrianampoinimerina betrachtete sie als
Vasalle, während die Sakalava dies eher umgekehrt sahen.
Königin
Ravahiny war die letzte grosse Herrscherin der Sakalava, denn
auf dem Hochland waren mit Beginn des 19. Jahrhunderts die
Merina erstarkt und expandierten gegen die Küste hin, um einen
direkten Zugang zum Aussenhandel und zu Feuerwaffen zu erlangen.
In
den Häfen waren die Antalaotra tätig, reiche swahili-Händler,
die mit königlichen Privilegien ausgestattet waren und
praktisch das Handelsmonopol besassen. Ihre Schiffe fuhren
Afrika an und segelten entlang der Westküste Madagaskars. Die
arabischen Händler und die Antalaotra waren bis zum 18.
Jahrhundert in der Boina-Gegend tätig. Die Europäer
konzentrierten sich eher auf die West- und Süd-West Küste.
Die
Macht der Sakalava-Könige war unumschränkt und beruhte
auf einem gottähnlichen Status. Der König war heilig,
begleitet von einem Zauberer und Wahrsager (moasy) und von
Beratern (ranitrampanjaka). Das Königtum war vererbbar. Die
Bestattungen nahmen mehrere Tage in Anspruch, die verstorbenen
Herrscher wurden in königliche Grabstätten (doany)
begraben (doany bedeutet einerseits königliches Grab aber
auch königlicher Hof). Die berühmtesten doany befinden
sich in Maneva, Mahabo, Mahajanga, Marovoay und in
Belo-sur-Tsiribihina. Doch im riesigen Sakalavaland existieren
noch viele weitere Grabstätten von ehemaligen Königen.
Die
Grabstätte (doany) ist von einem Palisanderzaun umgeben und
wird auch heute noch von einem Wächter (vatobe) betreut. Im
Hof der doany steht ein kleines Haus, in dem in einem Zebuhorn
die königlichen Reliquien (dady) aufbewahrt werden (Zähne,
Haare, Fingernägel). Die verstorbenen Könige werden
von den Sakalava noch als lebend betrachtet, wobei die dady ein
Überleben des Königs auf Erden garantieren und seine
Kraft weiterleben lassen. Daher verlangen die dady ab und zu,
dass man ihnen die Umgebung, die Familie und die Gräber
zeigt. Die Reliquien werden in regelmässigen Abständen
in Öl getränkt und in Wasser gebadet. Diese Zeremonie
wird im Sakalavaland fitampoha (königliches Bad) genannt.
Diese Elemente weisen stark auf ostafrikanische Königsrituale
hin.
Aus
dieser Logik heraus hat ein lebender König ohne dady keine
Legitimation zum Regieren. Und weil es im Sakalavaland noch
immer traditionelle Könige und Adelsfamilien gibt, ist der
gelegentliche Erbstreit um die dady auch verständlich.
Generell
haben die Ahnen bei den Sakalava einen hohen Stellenwert. Heiler
und Zauberer wachen über das Wohl der Gemeinschaft, die sehr
viele fady beachten muss. Das Besessenheitsphänomen der
tromba ist weit verbreitet: jemand - oft eine Frau - beginnt in
Trance zu tanzen und zu zittern, hat Halluzinationen und kann
Weissagungen machen und Heilungen vornehmen. Dies wird als
Manifestation eines Verstorbenen - oft eines Königs -
interpretiert.
Die
Sakalava sind auch heute noch in ihrem Selbstverständnis
vor allem Viehzüchter. Sie deplazierten sich leicht, ihre von
Wehrzäunen umschlossenen Dörfer und Höfe werden
bei Bedarf einfach verlegt.
Für
ihre Toten bauen sie holzumrandete Grabmäler, die mit
geschnitzten Stelen verziert sind, die Vögel,
Menschenfiguren und sexuelle Darstellungen zeigen.
Die
Sakalava leben auf einem Viertel der Fläche Madagaskars
zwischen Tulear und Sambirano in einem schwach besiedelten
Savannenland (oft weniger als 10 Einw / km2).
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