Unabhängigkeit:
Erste und Zweite Republik
Mit
Philibert Tsiranana trat am 26. Juni 1960 der erste Präsident
der neuen Republik Madagaskar sein Amt an. Der Leitspruch im
Staatswappen lautete: Fahafahana - Tanindrazana - Fandrosoana
(Freiheit, Vaterland, Fortschritt).
Als
Staatsflagge wurde ein senkrechter weisser Streifen gewählt,
rechts flankiert von einem oberen roten und einem unteren grünen
waagrechten Balken. (Die rot-weisse Flagge wurde bereits von den
Merina-Monarchen benutzt. Was zur Wahl dieser - für die côtiers
historisch belasteten - Farben für die neue Republik Madagaskar
führte, ist nicht bekannt.)
Unter
Tsiranana und gefördert durch eine stark präsidiale
Verfassung wurde Madagaskar sehr bald zu einem fast allmächtigen
PSD-Staat: die Beamten mussten dieser Partei angehören, die
PSD dominierte alle Gremien und Posten. Einzige nennenswerte
Opposition kam von den drei Abgeordneten der mit einem starken
kommunistischen Element durchsetzten AKFM. Doch die AKFM blieb
im wesentlichen eine Partei der Merina und der städtischen
Bevölkerung, insbesonders jener von Antananarivo. Auch sie
war nur verbal eine Oppositionspartei, ab 1965 stimmte sie zu
80% den politischen Entscheidungen der Regierungspartei PSD zu.
Vorschläge einer Annäherung des gemässigten
AKFM-Flügels an die PSD oder gar einer Fusion wies Tsiranana
energisch zurück, er zog einen Mehrparteienstaat vor, zumal er
darin ohnehin eine bequeme Dominanz ausübte. In den ersten
Jahren nach der Unabhängigkeit bestanden insgesamt 34
Parteien, die allerdings nur wenig strukturiert waren und eher
Splittergruppen gleichkamen.
Tsiranana
führte eine franzosenfreundliche Politik und wurde dafür von
der ehemaligen Kolonialmacht im Rahmen der französischen
Entwicklungshilfe mit tausenden von Experten, Beratern, Militärs,
Lehrern und Ärzten grosszügig unterstützt. 80% der ausländischen
Hilfe stammte aus Frankreich. Dieser finanzielle und personelle
Beistand war nicht uneigennützig, er diente genauso den französischen
Interessen. Madagaskar wurde im grösseren Rahmen in die
Aussen-, Wirtschafts- und Militärpolitik Frankreichs
eingebunden.
Madagaskar
gehörte der französisch dominierten Währungsunion
(Zone Franc) an und wurde somit von der Abwertung der französischen
Währung von 1969 ebenfalls betroffen. In Diégo-Suarez
unterhielt Frankreich eine grosse Militärbasis und hatte in
Ivato (bei Antananarivo) Fallschirmtruppen stationiert. Die
Mehrheit der Industrie und Handelsunternehmen befand sich in den
Händen von Europäern. Schulen und Hochschulen
richteten sich nach wie vor nach Lehrplänen gemäss dem
französischen Muster. Diese enge Liaison stiess auf
zunehmende Kritik.
Madagaskar
trat der 1963 gegründeten OAU (Organisation für afrikanische
Einheit) bei. Aussenpolitisch führte Tsiranana eher einen
konservativen Kurs innerhalb der französischen Richtlinien
und in Anlehnung an den Westen. Selten nur traf die Regierung
Tsiranana von Frankreich abweichende Entscheide, wie etwa als
Frankreich die Volksrepublik China anerkannte und mit Taiwan
brach, Madagaskar jedoch weiterhin Beziehungen mit Taiwan
aufrechterhielt.
1963
wurde ein Freundschaftsvertrag mit Israel unterzeichnet. Ebenso
wurden - unter Protesten -
Kontakte zu Südafrika hergestellt, aber auch Handelsverträge
mit der UdSSR, mit Rumänien und Polen. Die Ostblockstaaten
wurden allerdings politisch nicht anerkannt.
Das
Land blühte auf. Es konnte sich selbst ernähren, die französische
Währungsunion gab ihm eine Stabilität im Aussenhandel.
Aus den 200’000 Industriejobs von 1960 wurden in den folgenden
zehn Jahren 500’000. Die Inflation betrug um die 4%,
Verschuldung und Budgetdefizit blieben gering. Der Zivildienst
der Abiturienten erhöhte die Alphabetisierungsquote der
Landbevölkerung auf 85%.
Mit
der Unabhängigkeit wurden auch grosse Operationen zur
Anhebung der Landwirtschaftsproduktion gestartet. Diese Projekte
deckten ganze Regionen ab: SEDEFITA (Tulear; Baumwolle und
Reis), SAMANGOKY (gegründet 1961 im Süd-Westen am Unterlauf
des Mangoky), COMENA (Marovoay bei Mahajanga, Baumwolle, Reis
und Erdnüsse), SOMALAC (ab 1961 am Lac Alaotra zur Anhebung der
Reisproduktion), O.P.R. (Opération Productivité Rizicole auf
dem Hochplateau), SOMASAK (Moyen-Ouest; Bereitstellung von
Neusiedlerland). Ziel war der Anbau von Exportprodukten und die
Gewinnung von Baumwolle für die Stofffabriken in Antsirabe und
Mahajanga. Die Operation SAMANGOKY sollte 5000 landsuchenden
Migranten zu einer landwirtschaftlichen Existenz verhelfen.
Viele
dieser Agroprojekte nahmen aber unter den PSD-Verwaltern eine
politische Richtung. So weigerten sich die Bauern der O.P.R.,
Neuerungen wie den Reisanbau in Linie oder den Einsatz von Dünger
zu übernehmen. Diese Zurückweisung von neuen Technologien war
eine stumme Demonstration gegenüber dem Diktat der PSD. Die
Bauern formulierten diese Anti-PSD-Haltung auch in ihrem
Sprachgebrauch: so wurde der Dünger taivazaha (Mist der
Fremden) genannt.
Trotz
diesen - fremdfinanzierten - Aktionen für die ruralen Gebiete
suchte Tsiranana vor allem die Städte mit ihren Beamten und
der dünnen Schicht der städtischen Angestellten zu fördern.
Durch die Erhaltung der Kaufkraft dieses Bevölkerungsteils
hoffte er, den sozialen Frieden in den Städten zu sichern.
Bei
den Präsidentenwahlen von 1965 wurde Tsiranana mit 97%
wiedergewählt. Die Wahlen für die Legislative vom
September 1970 brachten der PSD 104 Sitze, die AKFM erhielt in
Antananarivo drei Sitze.
Damit
hatten sich Tsiranana und seine PSD eine solide Machtbasis
geschaffen und erhalten können. Doch in den Reihen der
Politiker und der Verwaltung hatte sich bereits das Unheil der
Korruption breit gemacht.
Zudem
machten sich innerhalb der PSD Friktionen bemerkbar zwischen dem
liberalen Poeten Jacques Rabemananjara und dem sozialistischen
Nationalisten André Resampa. Der 1934 geborene und in Morondava
aufgewachsene Resampa, Gründungsmitglied und Parteisekretär
der PSD, hatte als Innenminister die häufigen
Krankheitsabsenzen des Präsidenten zwar zielstrebig
genutzt, um seine eigene Position zu stärken, verlor jedoch
gegen Ende der 1960er Jahre wieder einen Teil seines Einflusses.
Resampa wurde 1971 aufgrund eines dubiosen Verdachts eines mit
dem US-Botschafter geplanten Komplotts verhaftet und ohne
Gerichtsurteil in Haft belassen. Der US-Diplomat wurde
ausgewiesen.
Innenpolitisch
kam die Regierung Tsiranana nach zehn Jahren Alleinherrschaft
ins Trudeln. Ab 1969 hatten die Buschfeuer dramatisch
zugenommen, dies galt und gilt noch heute als alarmierendes
Zeichen und zerstörerische Demonstration der
Unzufriedenheit der Bauern. Im März 1971 begannen die
Medizinstudenten der Universität Antananarivo zu streiken
und zu randalieren.
Zu
Beginn der 1970er Jahre erlebte der Süden eine grosse Dürre,
auf die der Staat kaum reagierte, worauf sich im April 1971 ein
Aufstand formierte, politisch von der MONIMA unterstützt. Die
Viehhalter des Südens weigerten sich nachhaltig, eine vom Staat
auferlegte Viehsteuer zu zahlen, zudem wollten sie die
'freiwilligen' PSD-Parteibeiträge nicht weiter aufbringen.
Monja Jaona, Führer der vor allem im Süden vertretenen Partei
MONIMA, wurde verhaftet und die MONIMA aufgelöst. Die
Gendarmerie reagierte 1971 mit brutaler Gewalt, rund 1000 Leute
(nach anderen Angaben 3000) wurden im Süden umgebracht.
Noch
im Januar 1972 holte Tsiranana als einziger zur Wahl stehender
Kandidat 99,97% der Stimmen bei der Präsidentenwahl, die
ihn für eine dritte Amtszeit von sieben Jahren bestätigten.
Doch das Regime steckte bereits in einer tiefen Krise.
Dann
kam der Mai 1972, der den PSD-Staat innerhalb von wenigen Tagen
zu Fall brachte. Die Studenten und Gymnasiasten waren
unzufrieden mit der fortdauernden französischen Präsenz,
vor allem auch im Lehrbetrieb. Die Schulbücher stammten wie während
der Kolonialzeit aus Frankreich und behandelten 'unsere
Vorfahren, die Gallier'. Die Jugendlichen versammelten sich am
12. Mai vor dem Rathaus in Antananarivo zu einer grossen
Demonstration und weigerte sich, ihre Kundgebung aufzulösen.
In einer Blitzaktion wurden in der einbrechenden Nacht 400
Studenten verhaftet und auf die Gefangeneninsel Nosy Lava
verfrachtet. Am kommenden Tag (13. Mai) schoss die Polizei (F.R.S.)
auf die sich erneut formierten Demonstranten und tötete
rund 40 Menschen. Sofort wurde für den 15. Mai ein
Generalstreik ausgerufen und weitgehend befolgt. Diese
Angelegenheit war im Wesentlichen auf die Hauptstadt
konzentriert und mehr von Gymnasiasten als von Studenten
getragen. Tote gab es bei ähnlichen Konfrontationen auch in
Mahajanga.
Schon
am 18. Mai 1972 gab Philibert Tsiranana sein Amt aufgrund von
Protesten der durch den brutalen Polizeieinsatz schockierten Bevölkerung
und auf Druck der Militärs ab. Die Erste Republik fand
damit ein Ende. Das Nachfolgeproblem des trotz seiner
zunehmenden Intoleranz gegenüber der Opposition und seiner
Obsession, Madagaskar vor kommunistischer Subversion retten zu müssen,
charismatischen Führers war nicht geregelt. Daher ergaben sich
lange Fraktionskämpfe, bis sich nach drei Jahren mit
mehreren Regierungen der Fregattenkapitän Didier Ratsiraka
durchsetzen konnte, während das Land entlang einer latenten
Bürgerkriegsgefahr in eine profunde ökonomische Krise
schlitterte. Diese Zeit war durchsetzt von Streiks und
aufflackernden Aufständen, von drastischer Verarmung und
hoher Arbeitslosigkeit. Nach 1972 verdoppelte sich die
Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres, während der
Reispreis ebenfalls zweimal teurer wurde. Fabriken machten zu
oder gingen bankrott. Die Inflation betrug um die 20% pro Jahr.
Der
apolitische Merina und amtierende Armeechef General Gabriel
Ramanantsoa übernahm am 27. Mai 1972 die Regierungsgeschäfte
als Premierminister, während Tsiranana auf Wunsch von
Ramanantsoa, aber gegen den Willen der Studenten, nominell noch
Präsident blieb. (Tsiranana war kaum noch regierungsfähig,
seit 1969 war er immer wieder krank und mehrere Male
hospitalisiert. Tsiranana starb am 16. April 1977.)
Eines
der ersten Geschäfte des neuen Premiers war die Aufhebung
der Viehsteuer im Süden. Ramanantsoa stützte sich in der
Durchsetzung seiner Politik auf die Armee: er berief Militärs
in die Regierung und ernannte Offiziere als Provinzgouverneure.
Zudem versprach er, korrupte Beamte zur Rechenschaft zu ziehen.
Allmählich kehrte Ruhe ein, auch der Streik der Studenten
fand ein Ende. Um einen neuen Weg aus der Krise zu finden, wurde
im September 1972 ein Volkskongress (zaikabe) einberufen: rund
10’000 Delegierte aus allen Teilen Madagaskars berieten in der
Hauptstadt erstmals über eine gemeinsame Zukunft. Derweil riss
Aussenminister Ratsiraka auf der Weltbühne das Ruder radikal
herum und steuerte energisch eine antifranzösische und
prosowjetische Richtung an. Kontakte mit China und arabischen
Nationen wurden geknüpft, ebenso mit revolutionären
afrikanischen Staaten.
Die
durch radikalere Elemente entmachtete PSD suchte bei
verschiedenen Gelegenheiten die Konfrontation mit den
machthabenden Militärs und wiegelte auf einer ethnischen
Ebene die côtiers gegen die Merina auf. So kam es noch 1972 und
1973 in verschiedenen Orten zu Anti-Merina Aufständen,
unter anderem in Tamatave, wo die Geschäfte der Merina geplündert
und angezündet wurden. In den Schulen der Küste wurden
Merina-Kinder angefeindet. Eine neue Streikwelle legte Fabriken
und die Häfen von Manakara und Tamatave lahm.
Auch
andere politische Parteien agierten gegen die ökonomisch
starken Merina, so unter anderem die MONIMA und die vom Betsileo
Manandafy Rakotonirina (ein ex-MONIMA Mitglied) 1972 gegründete
MFM. Die Merina-Elite hatte sich den Aufstieg dank ihrer
Ausbildung gesichert, die côtiers suchten ihn durch politische
Aktivitäten zu erreichen.
Im
Rahmen einer Dezentralisierung hob die Regierung 1973 unter
Anleitung von Innenminister Ratsimandrava die ruralen Gemeinden
auf und setzte binnen zwei Jahren über 10’000 Fokontany als
lokale Administrationsstrukturen ein. Innerhalb des Fokontany
waren fortan verschiedene Komitees (vatoeka) für die Verwaltung
und die ökonomischen Belange des Dorfes zuständig und
verstanden sich als 'Speerspitze der ruralen Revolution'. Die
vatoeka sollten auch als Handelsagentur auf Dorfstufe auftreten,
einerseits Produkte der Grundbedürfnisse an die Dorfbewohner
verkaufen und andererseits Landwirtschaftsprodukte aufkaufen und
sie an die Staatshandelsfirma weiterleiten. Damit wurde zwar an
traditionelle Organisationsformen angeknüpft, andererseits übernahm
der Staat zunehmend eine zentralisierte Rolle als Organisator
(z.B. Handels- und Transportmonopol) und als alleinige Instanz für
marktwirtschaftliche Belange (z.B. durch Preisfixierung und
Vermarktungsregelungen).
Die
dezentralisierten Administrativeinheiten waren seitdem die
Fokontany ('Dörfer'), Firaisam-pokontany (ex-Préfectures),
Fivondronam-pokontany (ex-Cantons) und Faritany (ex-Provinzen).
Im Land gibt es über 11’373 Fokontany und um die 2000
Firaisam-pokontany.
Zudem
wurde unter Ramanantsoa die 'malgachisation' initiiert, die
ihrerseits zu Demonstrationen der Schüler gegen eine zu krasse
und schnelle 'malgachisation' führte. (1976 wurden etliche
Ortschaften und Städte umbenannt: aus Tananarive wurde
Antananarivo, Tamatave zu Toamasina; Fort-Dauphin zu Tôlanaro.
Diese neue Namensgebung hat sich aber nicht generell durchsetzen
können.) Madagassisch wurde zur offiziellen Sprache, auch für
den Schulunterricht. Nur noch ein äusserst kleiner
Prozentsatz der Schüler lernte eine Fremdsprache. Ausländische
Unternehmen wurden malgaschisiert. Die Merina waren ob den
erfolgten Nationalisierungen zufrieden, kreideten jedoch
ihrerseits eine Bevorzugung der côtiers bei der Besetzung von
Stellen an.
Im
Mai 1973 trat Madagaskar nach Verhandlungen des Aussenministers
Ratsiraka aus der CFA - Währungsunion aus. Und am 1.
September 1973 verliessen die französischen Truppen -
darunter auch die in Diégo-Suarez stationierte Fremdenlegion -
das Land. Damit war auf nationaler und internationaler Ebene ein
eindeutiger und radikaler Schlussstrich unter die koloniale
Vergangenheit gezogen. (Allerdings blieb Madagaskar auch
weiterhin von französischen Finanzquellen abhängig.)
General
Gabriel Ramanantsoa überstand zwar einen Putschversuch vom
Silvester 1974, ausgeführt von Einheiten der GMP (Groupe Mobile
de la Police; jene die 1972 auf die Studenten geschossen
hatten). Doch nach drei Jahren Amtszeit wurde er durch Voten der
von Tsiranana und Resampa gegründeten rechtslastigen PSM (Parti
Socialiste Malgache; ex-PSD), und von den Linksparteien MONIMA
und MFM zu Fall gebracht. So übergab er die Regierungsgeschäfte
am 5. Februar 1975 dem Gendarmerie-Oberst Richard Ratsimandrava
(der sich am 13. Mai 1972 geweigert hatte, den Schiessbefehl auf
die demonstrierenden Studenten zu geben). Der bisherige
Innenminister und dem radikalen Flügel zugehörende
Ratsimandrava war die treibende Kraft für die Installation der
neuen Basisorganisationen (Fokontany etc.) gewesen. Doch sechs
Tage darauf (am 11. Februar) wurde der 41-jährige Merina
von einem fünfköpfigen
Kommando erschossen. Beteiligt waren Leute aus der GMP, die
genaue Implikation von Resampa (ex-Minister der PSD) - und auch
Tsiranana - wurde nie publik. Resampa wurde zwar verhaftet, kam
aber beim folgenden Prozess, der als Jahrhundertprozess
deklariert wurde und fast drei Monate dauerte, ungeschoren
davon, wie die rund 300 vermuteten (darunter Commandant George
Istasse und Colonel Bréchard Rajaonarison) Drahtzieher ebenso.
Verurteilt wurden lediglich die drei Überlebenden des
Attentats. (Auch Didier Ratsiraka kam später in den
Verdacht, diesen Politmord bestellt zu haben. Die Affäre
wurde nie von unabhängigen Instanzen untersucht.)
Das
daraufhin formierte 18-köpfige Militärdirektorat übernahm
die Macht, verhängte einen generellen Ausnahmezustand und
erliess eine sofortige Pressezensur. Vier Monate später, am
15. Juni 1975, ernannte das Direktorat den bisherigen (seit
1972) 38-jährigen Aussenminister Didier Ratsiraka zum
Staatschef. Diese 'Ernennung' wurde von verschiedenen Seiten als
Palastrevolte oder gar als Staatsstreich bezeichnet. (Ratsiraka
stammt aus einer Merina-Familie, wuchs jedoch in Vatomandry an
der Ostküste auf. Aus politischem Kalkül gibt er sich als côtier
aus.)
Das
Militärdirektorat gründete auch den CSR (Conseil Suprême
de la Révolution), bestehend aus neun Offizieren, die
entsprechend der Verfassung als 'gardiens de la révolution
socialiste Malagasy' den Ministern übergeordnet waren. Als
weitere Struktur entstand der Conseil Militaire de Développement
(CMD), dessen Aufgabenkreis im Verlauf der folgenden Jahre
zunehmend unklarer wurde.
Der
von stark sozialistischen Idealen geprägte Fregattenkapitän
Ratsiraka berief - mit einer Ausnahme - Zivilisten als Minister.
Nach nur zwei Tagen im Amt verstaatlichte Ratsiraka Banken und
Versicherungen, dann die Schiffslinie SMTM, die Raffinerie SMR (Société
Malgache de Raffinage) und das führende französische
Handelshaus, die Compagnie Marseillaise de Madagascar. (Schon
1973 war die SONACO als staatliche Aussenhandelsagentur gegründet
worden, ebenso wie die SINPA für den Innenhandel und die SINTP
für den Baubereich.) Die US-Satellitenbeobachtungsstation in
Arivonimamo westlich von Antananarivo wurde im Juli geschlossen.
1976 wurden die im Lande tätigen Ölfirmen
verstaatlicht und die SOLIMA als staatliches Monopolunternehmen
für den Treibstoffhandel gegründet. Die Grossplantagen wurden
ebenso enteignet wie die Grundstoffindustrie. Ziel war, die
französische Vorherrschaft in diesen Bereichen zu brechen.
Ratsiraka
fand auch Zeit, sein boky mena (rotes Buch) zu schreiben, das am
26. August veröffentlicht wurde, nachdem er es während
einer Woche am Radio vorgelesen und eingehend erklärt
hatte. In diesem den nordkoreanischen Idealen nacheifernden Werk
wurde vor allem die Dezentralisation im Rahmen der fokonolona
(Bewohner der Fokontany) beschrieben, der Sozialismus wurde zur
Staatsdoktrin erklärt und die ethnischen Spannungen sollten
durch eine nationale Einheit aufgehoben werden. Ratsiraka
versprach Agrarreformen, aus der Armee sollte eine Armee für
die Entwicklung des Landes werden. Zur Ausführung des Programms
wollte er die Jugend wie auch die Frauen mobilisieren. Im Jahr
2000, so versprach Ratsiraka, werde die nationale Ökonomie
fähig sein, die Bedürfnisse der Bevölkerung
abzudecken. Zudem sollte spätestens bis zu diesem Jahr
jeder Madagasse kostenlosen Zugang zu Krankenpflege und
Schulunterricht haben, besser und ausgewogener ernährt
sein, korrekt wohnen und fliessendes Wasser zumindest in
unmittelbarer Umgebung finden, Strom haben, eine sportliche und
kulturelle Infrastruktur vorfinden. Jedem wurde eine Arbeit
versprochen, die Diskrepanz zwischen reich und arm und Stadt und
Land sollten laut boky mena sehr vermindert sein in dieser
sozialistischen Gesellschaft des Jahres 2000.
Mit
dem Referendum vom 21. Dezember 1975 wurde seine 'Charte de la Révolution
Socialiste Malagasy' (enthalten im boky mena) zu 94,66% vom Volk
angenommen, 90% der 3,7 Mio. Stimmberechtigten waren zur Urne
gegangen. Somit wurde diese Charta mit einer starken präsidialen
Regierungsform als neue Philosophie der ab 31. Dezember 1975 gültigen
Zweiten Republik, der Demokratischen Republik Madagaskar,
legitimiert und Ratsiraka dadurch zum Präsidenten gewählt.
(Albert Zafy hatte die Nein-Losung zu den drei Fragen des
Referendums ausgegeben: Nein zu Ratsiraka, Nein zum boky mena,
Nein zur vorgeschlagenen sozialistischen Verfassung).
Laut
dieser Verfassung wird der Präsident alle 7 Jahre direkt
vom Volk gewählt. Neben dem Präsidenten amtiert der
Oberste Revolutionsrat (CSR; Conseil Suprême de la Révolution),
wobei zweidrittel der 18 CSR-Sitze vom Präsidenten ernannt
werden. (Die Anzahl der CSR wurde auf 22 und 1989 schliesslich
auf 27 erhöht: der CSR wurde im Laufe der Jahre ein
Parkhaus für einflussreiche Politiker, die nicht ausgeschaltet
werden konnten und mit einem hochdotierten Posten beschwichtigt
wurden.)
Die
Leitmotive Madagaskars wurden 1976 folgendermassen abgewandelt:
Tanindrazana - Tolom-piavotana - Fahafahana (Vaterland,
Revolution, Freiheit)Aus dem 'Fortschritt' der Ersten Republik
wurde die 'Revolution' der Zweiten Republik.
Die
fünf autorisierten Parteien (AREMA, MONIMA, VONJY, AKFM, MFM)
wurden am 29. Dezember 1976 zur 'Front National pour la Défense
de la Révolution Malagasy' (FNDRM oder auch FNDR genannt)
zusammengefasst. Ratsiraka hatte die AREMA
am 19. März
1976 gegründet und wurde deren Generalsekretär. Doch die
'Vorhut der madagassischen Revolution' (AREMA) entwickelte sich
zunehmend zur Hofpartei des Ratsirakaclans und verfügte zu
Glanzzeiten über 90’000 Mitglieder. Zudem wurden die
Satellitenparteien und die FNDR auch von AREMA-Leuten
unterwandert. Die MONIMA zog sich 1977 aus der FNDR zurück.
(Die MONIMA stiess aber 1981 wieder dazu und Monja Jaona wurde
CSR.) Im gleichen Jahr (1977) 'gewann' die FNDR mit der
Einlistenwahl 96% der Stimmen und übernahm die Kontrolle in den
sechs Faritany (Provinzen).
Hochgesteckte
Ziele sollten - jedenfalls auf dem Papier - dem Land 5,8%
Wirtschaftswachstum geben, bis ins Jahr 2000 sollte das
PIB pro Einwohner (damals 346 US-$) verdoppelt werden.
Ein
umfangreiches Investitionsprogramm sollte diesen ehrgeizigen
Sprung nach vorn ermöglichen: 1978/79 wurden ganze
Fabrikanlagen schlüsselfertig bestellt (Lederverarbeitung, Düngerfabrik,
Ölmühlen). Zudem wurden die Gebäude der sechs neuen
Universitäten als Fertigteile importiert. Teuer war auch
der in diesem Jahr getätigte Kauf eines Jumbo Jets (Boeing
747) für die Air Madagascar, wie auch 1500 Lastwagen und
etliche Schiffe gekauft wurden. Allein 1979 wurden 70% mehr
Gelder für Investitionen aufgewendet als im Jahr zuvor.
Ausser
einer dramatischen Auslandsverschuldung (1990 um die 4
Milliarden US-$) trug diese Politik mit dem Schlagwort 'investissement
à outrance' nichts ein: die Aussenverschuldung vervierfachte
sich allein zwischen 1978 und 1980.
Die
von flammenden ideologischen Reden begleitete Revolution brachte
nicht die erwünschten Früchte. Ratsiraka hatte die Franzosen
aus dem Lande geworfen, ebenso wie die Amerikaner und stützte
sich auf die sozialistischen Länder des Ostens, auf China
und Libyen, ohne allerdings eine allzu enge Beziehung
einzugehen. Nordkorea jedoch entwickelte sich zu einem besonders
bevorzugten Bruderland, das Elitesoldaten als Leibwächter für
Ratsiraka schickte und ebenso mithalf, den neuen Präsidentenpalast
von Iavoloha, zehn Kilometer südlich der ähnlich gebauten
rova (Königinnenpalast), zu bauen. Der Prunkbau wurde nach
etlichen Jahren Bauzeit 1989 eröffnet. Die Presse, zu einem
wortreichen Schweigen verurteilt und wagte sich kaum über die
enge Grenzlinie der Ratsiraka-Zensur hinaus.
Aussenpolitisch
suchte sich Ratsiraka zum Sprecher der Dritten Welt zu machen
und zum Anwalt gegen Kapitalismus, gegen Imperialismus und gegen
die USA. Madagaskar sollte nicht weiter der 'Flugzeugträger'
fremder Mächte im Indischen Ozean sein: Ratsiraka weigerte
auch gegenüber der UdSSR, die von den Franzosen verlassene
Marinebasis in Diégo-Suarez zur Verfügung zu stellen und
machte sich für eine Entmilitarisierung des Indischen Ozeans
stark. Die UNO-Vorstösse der UdSSR jedoch fanden so gut wie
immer die Unterstützung Madagaskars - so verurteilte Madagaskar
auch nicht den Einmarsch der UdSSR vom Dezember 1979 in
Afghanistan. Die UdSSR lieferte Waffen und Rohöl, Militärausbildner
und Industrieprodukte und finanzierte das Studium von mehreren
tausend Madagassen an sowjetischen Universitäten.
Doch
fünf Jahre nach seiner Machtübernahme hatte Ratsiraka das Land
ruiniert: das Bruttosozialprodukt stagnierte, die Investitionen
nahmen drastisch ab, Fluchtgelder wurden ins Ausland verschoben,
der Schwarzmarkt blühte auf und dies nicht nur für Devisen,
sondern auch für Grundprodukte wie Reis, Zahnpasta und Seife.
Das ineffiziente Transportmonopol liess die Versorgung der Städte
zusammenbrechen. Real war das Prokopfeinkommen um 30% gesunken.
Die Bauern zogen sich angesichts der vom Staat festgesetzten -
tiefen - Preise und der Ineffizienz der Handelsagenturen in eine
zunehmende Subsistenz zurück und dies auf Kosten der Versorgung
der städtischen Bevölkerung. Zwar hatte Ratsiraka
versucht, die Verarmung der Bevölkerung durch eine
wachsende Auslandsverschuldung abzumildern, doch 1981 war
Madagaskar bankrott. In ihrer Not rief die Regierung 1981 den
Internationalen Währungsfond (FMI/IMF) und die Weltbank zu
Hilfe, die ihr klassisches Programm verschrieben: sofortige
Abwertung der Währung, Reduktion der öffentlichen
Ausgaben, starke Kontingentierung der Importe, Abschaffung der
subventionierten Preise, neue Zolltarife. Die ersten Rezepte der
internationalen Bankagenturen wurden von der schockierten
madagassischen Verwaltung nicht respektiert, mehrere neue
Verhandlungsrunden mussten eingeschaltet werden. Erst ab 1982
entwickelte sich Madagaskar zum 'Musterschüler' der Weltbank,
weil die vereinbarten Anpassungen Jahr um Jahr durchgepaukt
wurden - auch trotz massiver interner Konflikte.
Einzelne
Länder - Algerien, Libyen, Indien - sponsorten ebenfalls
Finanzhilfen, doch die Darlehen der westlichen Institutionen und
die bilaterale Hilfe aus Frankreich, USA, BRD, Schweiz und Japan
waren weitaus gewichtiger. Mehrere Länder strichen
madagassische Schulden in Milliardenhöhe. Auch die europäische
Gemeinschaft begann als multinationaler Geldgeber eine wichtige
Rolle zu spielen. Ausgehend von den Lomé-Abkommen mit ihren
Handelsvorteilen wurden auch Rahmenkredite gesprochen, die
Projekte der ländlichen Entwicklung, Infrastruktur und
Agrarwirtschaft betrafen.
Innenpolitisch
war die Insel nicht frei von Spannungen und Zusammenstössen.
In Mahajanga gab es heftige Konfrontationen zwischen Madagassen
und Komorern im Dezember 1976. Studentendemonstrationen in
Antananarivo im Mai 1978 verursachten drei Tote. In den dürregeplagten
Zonen des Südens flackerten Revolten in den Jahren 1978 und
1979 auf. Krawalle in Antananarivo hinterliessen im Februar 1981
fünf Tote und kamen im November 1981 erneut zum Ausbruch.
1984
hielt die 'Affäre Kung-Fu' die Hauptstadt in Atem. Unter
aktiver Unterstützung oder zumindest wohlwollender Tolerierung
der Regierung war zu Beginn der 80er Jahre die TTS (tanora-tonga-saina;
die arbeitslosen, jungen Bewussten) entstanden, eine Art
Stadtguerilla aus Arbeitslosen - oder eher einer Gruppierung von
städtischen Jugendbanden. Dagegen setzten sich die in
Kampfsportgruppen organisierten Kung-Fu zur Wehr. Diese
Jugendlichen nahmen sich die Kung-Fu-Filmhelden zum Vorbild und
fühlten sich den Parteien MONIMA und MFM nahe. Am 4. September
1984 wurden die Kung-Fu verboten. Tags darauf belagerten mehrere
hundert aufgebrachte Kung-Fu-Anhänger das für dieses
Verbot zuständige Jugendministerium und setzten es in
Brand. Der Konflikt schwelte weiter. Am 4. Dezember 1984 töteten
die Kung-Fu rund 50 Anhänger der TTS in einer
Strafexpedition in Soarano, einem Stadtteil von Antananarivo.
Die Armee verhielt sich neutral, die Gendarmerie schritt nicht
ein. Sieben Monate später, am 1. August 1985, fuhren Armee
und Polizei vor dem Hauptquartier der Kung-Fu auf mit der Begründung,
dort werde ein Staatsstreich vorbereitet. Die darauf folgenden
schweren Auseinandersetzungen verursachten 20 Tote.
1986
wüteten heftige Aufstände in Tamatave, als versucht wurde,
die Betrügereien und illegalen Aktivitäten rund um den
Hafen zu stoppen. 1986 brachen wiederum Gewaltanwendungen an der
Universität Antananarivo aus, als die Regierung begann, die
für Studenten bestimmten Wohnquartiere von den Nichtstudenten
zu säubern. Ebenso sollte die Studentenzahl um 20%
reduziert werden. Erneute Ausschreitungen im Februar 1987
verursachten 3 Tote.
Auch
im Süden entlud sich 1986/87 der Volkszorn erneut angesichts
von Hunger und Nahrungsmittelknappheit. Im Oktober 1986 meldete
Monja Jaona, dass seit 2 Jahren 40'000 Leute vor Hunger
gestorben seien und sich 30’000 Hungerflüchtlinge in den
Norden abgesetzt hätten.
Schlimme
Ausschreitungen gegen die Indo-Pakistaner zogen sich vom Februar
bis März 1987 hin - wie schon im November 1986 in Tamatave.
Betroffen waren vor allem die Städte Antsirabe,
Fianarantsoa, Tulear und Farafangana. Häuser wurden angezündet,
Geschäfte geplündert. Man sprach von 14 Toten, die genaue
Zahl der Opfer wurde jedoch nie bekannt. Viele Inder - etliche
davon mit französischen Pässen - flohen daraufhin nach
La Réunion. 56 Personen wurden vor Gericht gestellt und mit bis
zu 5 Jahren Schwerarbeit bestraft.
Spannungen
um Landbesitz zwischen zwei Ethnien in der Region von
Farafangana machten sich im Oktober 1990 durch heftige
Konfrontationen Luft.
Und
immer wieder brachen rotaka (kollektive Plünderungen und
gewalttätige Zerstörungen aufgrund einer
Massenhysterie) aus, sei es im Zusammenhang mit erwähnten
Vorfällen oder sei es in der Folge eines Fussballspiels
(1987) oder eines Konzerts (1989).
Die
Bischofskonferenz der FFKM (ökumenischer Kirchenrat) vom
November 1981 beunruhigte sich angesichts der generellen
Degradation der sozialen und ökonomischen Situation und der
Zunahme von Banditismus, Unsicherheit und Korruption im Land. Im
Jahresbericht von 1983 erhob Amnesty International schwere Vorwürfe
gegen die Regierung: politische Gefangene würden ohne
Gerichtsurteil festgehalten, in den Gefängnissen komme es
zu Folter und es herrsche eine schlechte Behandlung. Der
Vertreter von Amnesty International war im Februar 1982 des
Landes verwiesen worden.
1982
hinterliessen in Diégo-Suarez gewalttätige Manifestationen
fünf Tote. Die Bevölkerung klagte den Provinzchef an, künstlichen
Mangel an Grundbedürfnisprodukten wie Seife, Reis und Zucker zu
erzeugen und die Waren auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Ebenso
warfen die Viehhalter der Provinz Tulear der Zentralregierung
vor, die dahalo (Viehdiebe) zu unterstützen und als
Unsicherheit streuende Elemente zu nutzen. Ratsiraka antwortete
mit einem massiven Einsatz von Militär, der gemäss
Monja Jaona mehr als 65 Leuten das Leben kostete. (Das Phänomen
der dahalo hatte in der Unsicherheitsperiode nach 1972
zugenommen und machte sich erneut in den 80er Jahren verstärkt
bemerkbar. Monja Jaona initiierte schliesslich ein kollektives
Engagement (dinan'ny mpihary) der Dorfgemeinschaften, das zu
einem verstärkten gemeinsamen Vorgehen gegen die Viehdiebe
animieren sollte. (Dass hohe Funktionäre und Militärs
hinter den Viehdieben standen, machte im Oktober 1988 die Affäre
Keliberano sichtbar, als die dahalo in diesem Ort bei Ambalavao
mit Kalachnikovs ein Taxi-Brousse attackierten und zehn Tote
hinterliessen.)
Mehrere
Male (Juni 1989, 13. Mai 1990, August 1990) wurde die
Radiostation in Antananarivo besetzt und Ratsiraka als abgesetzt
erklärt. Diese misslungenen Aktionen blieben Symbole der
Unzufriedenheit und verursachten Tote (Mai 1990), direkte Folgen
hatten sie jedoch keine.
Die
Regierungszeit unter Ratsiraka kannte etliche Vorkommnisse, die
dubios und nie geklärt wurden. So wurde der Chef der Präsidentengarde,
Colonel Kamisy, am 31. Mai 1984 in der Militärakademie von
Antsirabe erschossen. Oder am 24. Mai 1986 fanden alle 14
Insassen bei einem Flugzeugabsturz den Tod, darunter der General
Hubert Andrianasolo und der Konteradmiral Guy Sibon. Am 26. Juni
1987 starb General Rakotonirainy während der offiziellen
Militärparade des Nationalfeiertages: Gerüchte brachten
den Tod des Generalstabschefs sofort mit einem Attentat in
Verbindung.
Unklar
blieb auch die zwielichtige Affäre um den belgischen Geschäftsmann
Paul Mathieu wie auch die Hintergründe zur Ausweisung des
deutschen Geschäftsmanns E. Zwetkow, dem die Einreise - und
seine Verteidigung vor Gericht - untersagt wurde. Beide waren
wohl in unheilige Allianzen mit der Machtelite verstrickt - und
aus irgendwelchen Gründen gescheitert.
Im
November 1982 gewann Ratsiraka die direkten Präsidentenwahlen
mit 80,17% gegen seinen einzigen Herausforderer Monja Jaona. Das
madagassische Verfassungsgericht hatte drei weitere Kandidaturen
(darunter jene von Professor Albert Zafy) nicht bewilligt.
Zugelassen waren nur Kandidaten der FNDR (AREMA, MONIMA, MFM,
VSM, VONJY, AKFM, UDECMA). Nach der Wahl erhob Monja Jaona
schwere Vorwürfe wegen Wahlbetrugs und Manipulation, rief zu
einem Generalstreik auf und forderte einen neuen Wahlgang.
Unverzüglich verlor er seinen Posten als CSR und wurde in einem
Militärcamp - erneut - interniert. (Der 75-jährige
wurde erst acht Monate später wieder freigelassen. 1989
liess er sich von Ratsiraka wieder zum CSR ernennen.)
Gleichzeitig fanden in mehreren Städten Zusammenstösse
zwischen den Anhängern der Partei MONIMA und
Ratsiraka-treuen statt, die mehrere Tote forderten, und ein
dubioser Komplott gegen Ratsiraka wurde 'aufgedeckt'.
Das
Bruttonationalprodukt pro Kopf sank von 370 US-$ (1979) auf 295
US-$ (1983) ab. Die frühen 1980er Jahre waren sehr hart für
die Bevölkerung. Der Konsum pro Kopf sank um 20% zwischen
1980 und 1984; Ersatzteile und Rohmaterialien waren kaum mehr zu
haben, die Schlangen vor - fast leeren - Geschäften wurden
immer länger. Ein immer grösserer Schwarzmarkt - auch
für Produkte des täglichen Gebrauchs - begann zu florieren
und das Akzeptieren von Bestechungsgeldern wurde zur
Lebensnotwendigkeit der Beamten. Zudem schaffte es das Land
nicht mehr, sich zu ernähren. Allein 1983 mussten 183’000
Tonnen Reis eingeführt werden. Die Aussenhandelsschulden
beliefen sich 1983 auf rund 1500 Millionen Dollar. Natürlich
profitierte ein kleiner Kreis um Ratsiraka von diesem Regime:
Verschiebungen, Schmuggel und Transaktionen machten auch vor
Mord und Totschlag nicht Halt.
Im
Rahmen ihres Sanierungsprogramms verlangte die Weltbank, den Gürtel
um den bereits hungernden madagassischen Bauch noch enger zu
schnallen. Der Währungsfond veranlasste 1981 die Abwertung
des FMG um 15%. 1983 wurde ein Programm der Strukturanpassung
(PAS) unter Führung der Weltbank in die Wege geleitet: der
Markt und die Preise wurden liberalisiert und die Währung
sukzessive abgewertet. Die Inflation von 32% (1982) betrug ab
1984 um die 10%, erfuhr aber 1988 nochmals eine Hausse von 26%.
Statt öffentliche Investitionen in Grossprojekte
industrieller Art zu tätigen, flossen nun Staatsgelder in
die Rehabilitation von Landwirtschaft und Transport.
Die
madagassische Währung (FMG) wurde auch nach dem Austritt
aus der französischen CFA-Währungsunion von 1973 zu
einem Fixkurs von 50 FMG gleich 1 FF gehandelt. Dadurch wurde im
Laufe der Jahre ein künstlicher Kurs aufrechterhalten, der
keineswegs mehr der ökonomischen Realität entsprach.
Dieser drastischen Überbewertung des FMG machte die
Weltbank ein Ende. Seither gleitet der FMG unaufhörlich abwärts,
springt manchmal (wie 1987) durch eine brüske Abwertung gar
eine ganze Stufe tiefer. Von 1982 bis 1987 verlor der FMG gegenüber
dem FF 440% an Wert. Für einen französischen Franken (FF)
mussten 1990 275 FMG bezahlt werden, 1993 waren es bereits um
die 350 FMG. Der FMG blieb weiterhin nicht konvertierbar mit
anderen Währungen. Je nach Situation blühte ein aktiver
Schwarzmarkt für die heissbegehrten Devisen. (Der Währungshandel
wurde ab 1975 von der Zentralbank (Banque Centrale de Madagascar)
geleitet: diese Bank publizierte seit 1975 keinen jährlichen
Aktivitätsrapport mehr.)
Zu
Beginn der Liberalisierung existierten 167 Unternehmen und drei
Banken, alle unter sozialistischem Staatsmanagement - und kaum
eine der Firmen war rentabel. FMI und Weltbank erarbeiteten ein
Gesundungsprogramm für diese Unternehmen, was dazu führte,
dass etliche davon an private Investoren verkauft wurden und
erst einmal personalmässig gesundgeschrumpft wurden.
Die
Opfer interner Misswirtschaft und externer Sanierungsbemühungen
waren enorm: sinkende Kaufkraft, eingefrorene Löhne,
zunehmende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung,
Verelendung der untersten Schichten, Arbeitslosigkeit,
Unterbeschäftigung, Korruption. In den urbanen Zonen, die
1,6 Mio. Leute in den sechs grössten Städten umfassen,
gab es zu Beginn der 1990er Jahre 250’000 Arbeitslose. Die
Kindersterblichkeit verdreifachte sich von 1980 bis 1987. 1987
lebten 46% der Bevölkerung von Antananarivo unter der
absoluten Armutsgrenze. Sie überlebte nur, dank einem rigorosen
Verzicht und einem Zurückstellen von elementarsten Wünschen.
Andere hielten sich durch eine Überlebensstrategie mit
einer breiten Palette von Aktivitäten über Wasser: von
Doppeljobs über Kleinsthandel, Bettelei, Betrügereien bis hin
zu Prostitution und Diebstahl.
Und
die Perspektiven wurden trotz Programmen und Hilfeleistungen
nicht besser. Madagaskar sank in die Kategorie der ärmsten
Länder ab, die sozialen Probleme - insbesonders im städtischen
Bereich - verschärften sich.
Viele
Fachkräfte und Intellektuelle wanderten aus. 1992 wurde
geschätzt, dass um die 100’000 Madagassen in Frankreich
lebten. Gähnender Absentismus der Angestellten in Büros
und Ministerien wurden zur Tagesordnung.
Zeichen
einer erneuten Annäherung an den Westen begannen sich ab
1985 zu manifestieren. 1985 besuchte Ratsiraka erstmals
Washington. (Die USA unterhielten erst wieder ab 1980 eine
Botschaft in Madagaskar, nachdem der Botschafter 1971
ausgewiesen worden war.) Auch die Briten öffneten 1980
wieder ihre Botschaft, die sie 1975 geschlossen hatten.
Am
14. Juli 1986, dem französischen Nationalfeiertag, war
Ratsiraka an der Militärparade in Paris präsent. (Auch
für Ratsiraka, wie für die Mehrheit der Madagassen, war und
ist Paris schlichtweg die Hauptstadt Europas, ja der ganzen
Welt.) Das französische Kriegsmarineschiff 'Jeanne-d'Arc'
besuchte erstmals wieder seit 1972 den Hafen von Tamatave, die
Mannschaft wurde von Ratsiraka mit allen Ehren empfangen.
(Ratsiraka hatte sich inzwischen zum Konteradmiral und 1983 zum
Admiral ernennen lassen.)
Ab
1983 waren wieder 526 französische Coopéranten (Techniker
und in der Mehrzahl Lehrer) in Madagaskar tätig. (1970
waren es 1500 gewesen.) Frankreich war inzwischen auch wieder
der grösste Handelspartner Madagaskars geworden.
(Frankreich war auch während der strammsozialistischen
Phase immer einer der wichtigsten Handelspartner geblieben.) Präsident
Mitterrand besuchte Madagaskar im Juni 1990, empfing
oppositionelle Kräfte, und brachte als Geschenk die
Streichung von Schulden mit. Im August 1990 kam Präsident
de Klerk für ein paar Stunden, was noch im gleichen Jahr zur
Aufnahme einer direkten Fluglinie zwischen Antananarivo und
Johannesburg führte und im Januar 1991 zur Schliessung des seit
1982 bestehenden Lokalbüros des ANC in Antananarivo. (Ein Jahr
vorher, im April 1989, besuchte erstmals ein Papst die Insel.
Johannes Paul II blieb vier Tage und wurde von einer stürmischen
Menge empfangen. Der Papst konferierte auch mit Vertretern der
Opposition - und dies im Wahljahr 1989.)
Regional
schloss sich Madagaskar 1984 mit den Inseln Mauritius,
Seychellen und La Réunion in der 'Commission de l'Océan
Indien' zu einer lockeren Kooperationsrunde zusammen, zu der
1986 auch die Komoren stiessen. Fassbare Ergebnisse wurden nicht
erzielt - ausser den - unregelmässig ausgetragenen - Jeux
des Iles, eine Art Miniolympiade der Inselstaaten im westlichen
Indischen Ozean.
Innenpolitisch
schafften es die Politiker in den 1980er Jahren immer weniger,
gegenüber dem Volk ein Mass an Glaubwürdigkeit zu repräsentieren
und ein Verantwortungsbewusstsein für das Gesamtwohl
wahrzunehmen. Das politische System degradierte ebenso wie das
wirtschaftliche und das soziale. Ratsiraka glaubte sich immer
wieder von Komplotten und Attentätern bedroht. So wurden
1982 mindestens zwei 'Komplotte' entdeckt und mehrere Männer
zu Schwerarbeit verurteilt, darunter Gaston Ramaroson, einer der
Direktoren des Familienunternehmens SAVONNERIE TROPICALE. (Er
wurde erst 1993 vom neuen Präsidenten Albert Zafy
amnestiert.) Eine undurchsichtige Rolle begann der
Staatssicherheitsdienst DGI (Direction Générale des
Investigations) zu spielen, insbesonders unter der Führung von
Christopher Raveloson-Mahasampo, des Schwagers von Ratsiraka.
Raveloson wurde 1986 Verteidigungsminister. (Die Frau von
Ratsiraka, Céline, und ihre Schwester Hortense
Raveloson-Mahasampo spielten ebenfalls unlautere Rollen in
Politik, AREMA und dem Holding PROCOOPS, einer
Handelsgesellschaft, die von der AREMA und Ratsiraka praktisch
als Privateigentum betrachtet wurde.)
Zudem
gingen Parteien wie MONIMA, MFM und VONJY auf deutlichere
Distanz zum Präsidenten, der - um Zeit zu gewinnen und
wieder festeren Boden unter die Füsse zu erhalten - die
Legislativwahlen um ein Jahr auf 1989 verschob. Noch rechtzeitig
vor den Wahlen hob er die bislang autoritäre Pressezensur
auf.
Die
Wahlen von 1989 wurden von der nichtstaatlichen Organisation
CNOE (comité national d'observation des élections) beobachtet.
Die CNOE-Präsidentin Madeleine Ramaholimihaso erklärte,
dass ein demokratisches Wahlsystem zwar existiere, jedoch nicht
eingehalten werde.
Damals
gewann Ratsiraka die Präsidentenwahlen zum dritten Mal für
eine Amtsperiode von sieben Jahren. Er erhielt 62,71% der
Stimmen gegenüber 19,32% für Manandafy Rakotonirina (MFM),
14,92% für Jérôme Morajoma Razanabahiny (VONJY) und 3,03% für
Monja Jaona (MONIMA). 17,40% der Wähler blieben abstinent.
Ratsiraka hatte die Stimmen vor allem in den ruralen Zonen
erhalten, in den Städten, deren Wahllokale durch die CNOE
kontrolliert wurden, erhielt er bloss 45%. Natürlich wurden
gleich nach der Wahl Betrugsvorwürfe laut. Ebenso wie der
Ratsiraka-treuen AREMA vorgeworfen wurde, unter Leitung von
Hortense Raveloson-Mahasampo Terroreinheiten (brigades spéciales)
ausschwärmen zu lassen, um den Wahlgängern Angst
einzujagen.
Bei
den Parlamentswahlen (Assemblée Nationale Populaire) im
gleichen Jahr (1989) erhielt die Regierungspartei AREMA 120 der
total 137 Sitze; MFM erhielt 7 Sitze, VONJI 4, AKFM-Renouveau 3;
AKFM 2 und MONIMA 1 Sitz. In Antananarivo erhielt die AREMA
bloss 30%, in anderen Städten 45 bis 60% der Stimmen. Die
Absenz war gross: 25% landesweit und 35% in den Städten.
Die
anschliessenden Lokalwahlen für die Fokontany,
Firaisam-pokontany, Fivondronana und Faritany erlebten einen
Absentismus von um die 50% im Landesdurchschnitt. Die Bevölkerung
boykottierte die sie am direktesten betreffenden Wahlen: mit der
Wahl von Ratsiraka und der Stimmenmehrheit für die linientreue
AREMA sah die Hälfte der Wähler wohl die Würfel für
die kommenden Jahre einmal mehr gefallen.
In
diese Zeit der Wahlgänge fällt auch die Aufweichung
der FNDR und die Aufsplittung der 'traditionellen' Parteien in
mehrere Fraktionen: die MONIMA spaltete sich, ebenso wie die
AKFM. Auch die AREMA kannte grosse innere Spannungen, die zu überbrücken
dem Präsidenten und Parteivorsitzenden Ratsiraka kaum
gelang. Insbesonders handelte er sich Kritik auch in den eigenen
Reihen ein, als sein 'Guru' und Berater, Désiré Ramelison,
1990 mit seiner faschistischen Gruppe (sakelimihoajoro) an die
Öffentlichkeit trat und von der AREMA als 'organisation spécialisée'
anerkannt wurde.
Aus
dem Restbestand der auseinandergebrochenen FNDR und noch immer
um den AREMA-Kern herum formierte sich 1990 die MMSM (mandatehezano
miaro ny sosialisma malagasy; mouvement des militants du
socialisme Malagasy). Damit war die Ratsiraka-Partei nicht mehr
die tonangebende allesumschlingende Politorganisation wie in der
Zeit der FNDR, sondern im Zuge der Atomisierung der politischen
Landschaft nur noch eine unter vielen - und von etlichen Seiten
attackiert. Im Januar 1990 gab es nicht weniger als 32 Parteien
im Land. Als Verteidigungsstrategie schlug Ratsiraka zwar eine
Revision des Grundgesetzes vor, wollte aber mit Vertretern der
Kirche (FFKM) nicht verhandeln. Durch diese immobile Haltung förderte
er noch, was bereits gärte: die unzufriedenen Kräfte
begannen sich im Pool der 'forces vives' zu organisieren.
(Interessanterweise hatte sich im Ausland nie eine
ernstzunehmende madagassische Opposition gebildet, obwohl
etliche Gruppierungen zu verschiedenen Zeiten diese Rolle für
sich beanspruchten.)
Das
Realeinkommen zu Beginn der 90er Jahre betrug 25% weniger als
jenes zehn Jahre zuvor, doch 1989 war das erste Jahr seit 1972,
in dem die Bevölkerung - laut den Statistiken - nicht noch
weiter verarmte.
Die
Rezepte der Weltbank liessen zwar den Reisanbau ansteigen und
die Exportausgaben reduzieren, doch die industrielle Produktion
zeigte nicht die erhoffte Zunahme. Die Kaufkraft lag weiterhin
unter einer tolerierbaren Schwelle.
Weite
Teile der Bevölkerung waren ohne Hoffnung und machten sich
keine Illusionen mehr: Madagaskar war zu einer Bananenrepublik
degradiert, in der Korruption herrschte und Betrügereien an der
Tagesordnung waren. Alle waren zu kaufen: Polizei und
Zollagenten, Richter und Steuerbeamte, von Direktoren und
Personalchefs bis hin zu den Lehrern, die Abiturzeugnisse
vergeben. Die Politiker flogen - trotz ihrer Worte - wie Motten
um die Macht und wurden durch die gekonnten Intrigespiele des
Altmeisters Ratsiraka mit Posten und Positionen gekauft - oder
ebenso schnell wieder entlassen. Einzig die Kirche stand als
moralische Instanz unbefleckt über diesem unergründlichen
Morast.
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