Reis
Der
Reis nimmt in Madagaskar als Nahrungsmittel und als
Kulturelement eine überragende Rolle ein. Im Jahresdurchschnitt
besteht zwischen 55 und 65% der Nahrung aus Reis. Maniok steht an zweiter Stelle, wird jedoch als Nahrung der
Armen verachtet. Mais und Weizen spielen nur eine geringe Rolle.
Der
Reis ist heute nicht nur das wichtigste Nahrungsmittel, sondern
er nimmt auch im ganzen kulturellen Kontext eine Sonderstellung
ein. Das madagassische Lebensgefühl hängt mit dem Reis
zusammen: satt (voky) fühlt sich nur, wer Reis gegessen hat.
Von Kartoffeln oder Mais kann ein Madagasse nie voky werden.
Reis
ist keine endogene Pflanze, er
wurde eingeführt und zwar womöglich schon von den ersten
Einwanderern aus Indonesien.
Folgende
Beobachtungen stützen diese These. Im Nordwesten Madagaskars
zwischen Mahajanga und Diégo-Suarez - und nur dort - wird seit
alters her eine Reisart vom Typ indica gepflanzt, kiriminy
genannt, der sehr grosse Parallelen mit dem Reis in Bali und in
Vietnam aufweist. Und in dieser Gegend, so nimmt man heute an, landeten die
ersten Einwanderer vor vielleicht 1500 Jahren. Eine dem kiriminy
verwandte Sorte findet sich in Nordost-Madagaskar, in jener
Region also, in der sich weitere Einwanderer niederliessen. Dort
gibt es heute noch eine Reissorte, die den Namen 'Java' trägt.
Die
erhaltenen Dokumente der europäischen Seefahrer erwähnen
schon ab 1510 die Existenz von Reis in Madagaskar. In diesen
Berichten wird immer wieder betont, dass sich die Einwohner von
Reis ernähren.
François
Martin, der für die französische Siedlung von Fort-Dauphin
entlang der Ostküste Reis aufkaufte, gab im 17. Jahrhundert als
erster genauere Informationen über den madagassischen
Reisanbau. Danach betrieben die Bewohner Brandrodungsfeldbau.
Sie zündeten ein Waldstück an, bohrten mit einem Grabstock Löcher
in den Boden und warfen Reiskörner hinein. Das Loch wurde
danach mit dem Fuss zugeschüttet.
Etienne
de Flacourt, von 1648 bis 1658 Gouverneur in Fort-Dauphin,
beschrieb hingegen die direkte Aussaat der Körner in Sümpfe,
die vorher durch Rinder weichgetrampelt worden waren. Laut
Flacourt konzentrierte sich der Reisanbau hauptsächlich auf
die Ostküste, während der trockene Süden und der Westen
eher Viehzuchtgebiet waren.
Damit
wurden schon im 17. Jahrhundert die zwei heute noch gebräuchlichen
Produktionsmethoden beschrieben: Anbau von Bergreis (tavy) und
von Nassreis (horaka).
Laut
Flacourt und Martin wurden Brandrodung und die Arbeit mit den
Rindern von Männern erledigt, während die Frauen
Aussaat und Ernte besorgten. Diese Arbeitsteilung hat sich bis
heute erhalten.
In
welcher Art der Reis auf dem Hochland gepflanzt wurde, ist kaum
bekannt. François Martin erwähnte in seinem Reisebericht
von 1667, dass in der Gegend um den Lac Alaotra Wasserkanäle
zu den Reisfeldern führten. In
seiner Beschreibung von Antananarivo berichtete Mayeur im 18.
Jahrhundert von einer anderen Methode. Demnach wurden die
Reissetzlinge (ketsa) erst
in einem Anziehfeld belassen und dann als fusshohes Gras in die
Reisfelder umgepflanzt (repiquiert). Auch dies eine Arbeit der
Frauen. Diese Beobachtungen wurden durch spätere Reisende
bestätigt.
Hingegen
ist nicht bekannt, dass auch in den Küstenregionen Bewässerungskanäle
oder die Methode der Repiquage benutzt wurde.
Die
Frage, wie diese höherentwickelten Methoden der Bewässerung
entstanden sind, ist ungeklärt. Gelang es der Macht und
Entschlossenheit eines Königs, neue und intensivere
Anbaumethoden zu finden? Dies wäre in Merinaland denkbar
gewesen, doch mit der geringen Ausstrahlung der damaligen Kleinkönigreiche
kaum erklärbar.
Oder
aber führte der Bevölkerungsdruck zur Suche nach ertragshöheren
Methoden? Der Reisende Leguevel de Lacombe, der Madagaskar von
1823 bis 1830 bereiste, schätzte die Grösse von
Antananarivo auf 3000 Häuser, was
etwa 20’000 Bewohnern entsprochen haben mag. Mussten also effizientere Anbaumethoden gefunden werden, um
die wachsende Bevölkerung zu ernähren?
Oder
aber stammen die Hochlandbewohner nun doch von einer weiteren
Einwanderungswelle ab, die eine weiterentwickeltere Bewässerungstechnologie
mit sich brachte? Diese These deckt sich mit jener, die von zwei
Einwanderungswellen spricht. Danach war die zweite jene der
Merina und der Betsileo mit einem höheren
Organisationsgrad, kollektiver Arbeitsleistung und der Kenntnis von Bewässerungstechniken.
Die Pflanztechnik
und auch den Namen für den Reis (vary) hätten sie demnach
- womöglich - von Südindien mitgebracht.
Mit
dem Erscheinen der europäischen Seefahrer im 16.
Jahrhundert und vermehrt im 17. Jahrhundert und ihrem Bedürfnis
nach Nahrungsmitteln wurde der Reis in einigen Küstenregionen
zum gesuchten Tauschobjekt. Holländer, Franzosen, Engländer
und für einige Zeit auch die Portugiesen ankerten vor Ste.
Marie, in der Bucht von Antongil, vor Nosy Be und im Delta des
Flusses Mahajamba, um
Reis (und Rinder und Sklaven) gegen Stoffe, Gewehre,
Schiesspulver und Glasperlen zu tauschen.
Nicht
immer waren sich die Seeleute und die einheimischen Verkäufer
über das Tauschverhältnis einig. So war der anfangs
attraktive Markt für Glasperlen bald gesättigt, denn, wie
der holländische Gouverneur von Mauritius, Jan van der
Meersch, 1646 feststellte, nutzen sich die Glasperlen nicht ab.
So waren sie bald weniger gefragt, hingegen erfreuten sich
Gewehre, Schiesspulver und Wolldecken einer kaum zu stillenden
Nachfrage.
1780
war der Reishandel dank der unverminderten Nachfrage bereits gut
organisiert. Die Siedler auf Ile de France (Mauritius) und
Bourbon (La Réunion) waren auf die überlebenswichtigen
Reislieferungen aus Madagaskar angewiesen. Die wichtigsten
Verladehäfen waren Ste. Marie, Foulpointe und Antongil,
wobei Foulpointe der bedeutendste Hafen war. Dort
war der Reis auch billiger zu haben als im Westen, wo eher
Sklaven und Rinder getauscht wurden.
Auf
dem Hochland existierten dank kollektiver Urbarmachung von Sümpfen
grosse Reisgegenden und sogar Überschussgebiete in der
Gegend um Antananarivo, in Vakinankaratra und in Betsileoland. Der
herausragende Merina-König Andrianampoinimerina förderte
energisch den Anbau des Reises, von ihm stammt der Ausspruch:
'Der Reis und ich sind eins.' Damit
gab er dem Reis eine sakrale Bedeutung.
Er
forcierte den Reisanbau auch durch die Anordnung von kollektiven
Arbeiten an Kanälen und Dämmen und durch eine
Steuerabgabe in Form von Reis. Dieser ökonomische
Dirigismus führte dazu, dass in Merinaland in normalen Jahren
genug Reis vorhanden war. Der Überschuss ernährte die
Metropole Antananarivo und ein stehendes Heer, das die Grenzen
von Imerina immer weiter ausdehnte. Ein Export zu den Häfen
war aufgrund der schlechten Verkehrswege nicht möglich.
Anders
in Betsileoland, dort wurden vor allem Knollenfrüchte (Maniok)
gegessen, während der Reis vorwiegend exportiert wurde.
Mit
Radama I, der 1817 und 1820 mit den Engländern einen
Vertrag zur Abschaffung des Sklavenhandels unterzeichnete und
gleichzeitig eine aktive Expansionspolitik betrieb, begann die
Ausdehnung des Reisbaus durch die militärischen Stützpunkte.
Die Merina-Garnisonen mit oft mehreren hundert Soldaten mussten
sich selber ernähren, daher pflanzten die Soldaten im
Umkreis ihrer Festungen unter anderem auch Reis an. So fand der
Reis als Kulturgut der Merina-Okkupanten allmählich auch
Eingang in die Anbau- und Essgewohnheiten anderer Völker.
Die Kontrolle weiter Gebiete durch die Merina und die erhöhte
Sicherheit führte auch zu Migrationen aus den dichter
besiedelten Gebieten des Hochlandes in Gegenden mit mehr
Landreserven. Die Migranten förderten die weitere
Verbreitung des Reisanbaus.
Ste.
Marie, französisch seit dem Vertrag mit Betia 1750, hatte
als Reislieferant zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Bedeutung
mehr. Erst die Einführung der Gewürznelken durch französische
und kreolische Colons verhalf der Insel wieder zu einem
Aufschwung.
Die
Häfen der Westküste hatten im 18. Jahrhundert als
Reislieferanten noch eine gewisse Rolle gespielt, verloren sie
jedoch im 19. Jahrhundert, hielten aber die Position als
wichtige Rinderlieferanten und illegale Sklavenexporteure. Nur
Nosy Be behauptete sich als Reislieferant.
Die
Hafenstadt Tamatave hatte durch die Merina-Monarchen an
Bedeutung gewonnen und exportierte in den 1840er Jahren 2000 bis
3000 Tonnen Reis pro Jahr, Foulpointe und Fort-Dauphin je nur
noch etwa 150 Tonnen. Ste. Marie keinen mehr. Nosy Be
exportierte um die 500 Tonnen. Die
grossen Produktionszentren auf dem Hochplateau blieben mangels
Transportmöglichkeiten weiterhin vom Export ausgeschlossen.
Mit
dem Einmarsch der Franzosen 1895 und der Annexion von 1896
änderte sich die Organisation der madagassischen
Landwirtschaft. Beträchtliche Landkonzessionen wurden den
Colons aus Frankreich und La Réunion zugestanden, die nicht nur
Vanille und Zuckerrohr anpflanzten, sondern auch grosse Ebenen
mit Reis (Mahabo, Marovoay, Lac Alaotra).
Parallel
zur Niederlassung der Colons fand eine erneute interne Migration
statt, vor allem Richtung Westen. Diese Wanderungen trugen
einmal mehr zur Verbreitung des Reises bei. Für viele Leute im
'brousse' (im Busch; umgangssprachlich für rurale Gebiete)
bildeten Knollenfrüchte nach wie vor die Hauptnahrung. Noch
1930 ernährten sich die Antandroy im wesentlichen von
Hirse. Reis blieb für sie ein Luxusprodukt.
1905
waren 300’000 Hektaren mit Reis bepflanzt und ergaben
400’000 Tonnen Ertrag, 1951 wurden 700’000 ha bewirtschaftet
und warfen eine Million Tonnen Reis ab. Die
Produktion nahm zwischen 1948 und 1959 um 400’000 Tonnen zu
dank der gezielten Propagierung des Reisanbaus in Linie gegenüber
der freien Aussaat. Diese Methode bringt 200kg/ha mehr ein. Der Gebrauch von Dünger
erhöht die Produktion um weitere 300 bis 900 kg/ha. Jäten bringt weitere 200 kg/ha. Durch diese Techniken könnten
3000 kg/ha ungeschälter Reis (Paddy) geerntet werden, statt wie noch
heute üblich ein Drittel oder die Hälfte davon.
In
den 1960er Jahren stagnierte die Reisproduktion um 1,2 Mio
Paddy. 1965 musste
Madagaskar sogar 100’000 Tonnen Reis importieren.
Madagaskar
war während Jahrhunderten ein Exportland von Reis. Heute
wird nur noch der Luxusreis bester Qualität (vary lava)
exportiert, jener, der auch in Carolina (USA) zu finden ist. Womöglich stammt der Reis in Carolina aus Madagaskar,
denn in einem Bericht von 1699 steht, dass ein Kapitän
Reiskörner einem Mr. Woodward übergab, der sie mit grossem
Erfolg in den Sümpfen um Charleston pflanzte, worauf der Reis
in der ganzen Provinz Verbreitung und später Weltruhm fand.
Der
grösste Teil der Ernte wird von den Bauern selbst
konsumiert. Durch die verschlechterte Wirtschaftslage in den
1980er Jahren sahen sich immer mehr Bauern genötigt, nicht
nur den Überschuss zu verkaufen, sondern auch einen Teil
ihrer eigenen Jahresration. Bis 1974 wurde der Aufkauf von Reis
durch grosse Firmen besorgt, die den Bauern auch Kredite
vergaben und Industriewaren verkauften. Ab 1974 bis 1983 übernahm
der Staat per Dekret das
Reismonopol als Aufkäufer und Verteiler durch die
Nationalisierung dieser Firmen und der Schaffung des
Monopolunternehmens SINPA. Zudem wurde der Reispreis künstlich
nieder gehalten, um die Löhne in den Städten ebenfalls
niedrig halten zu können. Doch
das System war ineffizient, die Reisproduktion sackte ab, ein blühender
Schwarzmarkt etablierte sich sehr bald. Die Bauern zogen sich
mangels Anreiz in eine zunehmende Subsistenz zurück. 1983 wurde
der Handel mit Paddy liberalisiert und
1986 das Monopol der Staatsfirma SINPA aufgehoben.
Die Reishändler wurden angehalten, den Bauern
einen Mindestpreis von 90 FMG/kg zu bezahlen. Zugleich wurde ab
1986 die Politik des 'stock-tampon' (Pufferlager) lanciert, um
massive Verteuerungen und allzu grosse Schwankungen des
Reispreises abzufedern. Die
staatlichen und vom Ausland finanzierten Reislager sollten
steigende Preise abfangen und Spekulationen verhindern. Diese
Initiative fand bei den - städtischen - Konsumenten zwar
Anklang, doch die
Reisspekulanten sahen sich in ihren Aktivitäten gehindert.
Zudem stiess die Marktspaltung auf erhebliche Probleme, vor
allem logistischer Art.
Obwohl
der Reis die Hauptproduktion der madagassischen Bauern
darstellt, wurde Madagaskar in starkem Mass ab 1978 zum
Reisimporteur, 1982 wurde ein Rekord von 342’000
Tonnen importiert, was damals 15% des totalen
Reisbedarfs und 13% der verfügbaren Menge an
Grundnahrungsmitteln und
20% der Importausgaben entsprach. Nach
1982 nahmen die Reisimporte wieder ab: 1986 waren es 162’000
Tonnen, 1988 nur noch 36’000 Tonnen und
1989 wieder 73’000 Tonnen.
1992
wurden 2,45 Mio. Tonnen Paddy geerntet, was 1,48 Mio. Tonnen
geschälten Reis ergab. Damit war Madagaskar - theoretisch
jedenfalls - gerade eben Selbstversorger. Doch
die jährliche Bevölkerungszunahme von um die 350’000
Menschen verlangt eine Produktionserweiterung von 70’000
Tonnen pro Jahr, also um die 35’000 ha mehr Reisland.
Die
Liberalisierung des Aussenhandels (Import und Export)
konfrontiert Madagaskar mit einer heiklen Frage: einerseits möchte
man die Reisbauern zu mehr Produktion animieren, das heisst
einen höheren Preis bezahlen, andererseits sollen
Zollschranken nicht einen künstlich hochgehaltenen Reispreis
subventionieren. Der Liberalismus der Weltbank steht gegen den
Protektionismus zum Wohle der Bauern - und der Händler.
Durch genügende Marktanreize sind die Bauern durchaus gewillt,
mehr zu produzieren, doch sie sind international nicht
konkurrenzfähig. Der aus Thailand und Vietnam stammende
Importreis wird billiger nach Antananarivo geliefert als der
Reis aus dem nur 280 Strassenkilometer entfernten Überschussgebiet
des Lac Alaotra.
So
dient der Reis vor allem dem Eigenkonsum der Bauern, nur 4% bis
12% der Reisproduktion wird vermarktet. Die
Bauern haben keinen Anreiz, mehr als nur ihr Subsistenzniveau
abzudecken. Man schätzt, dass der Reis allein 40 - 50% des
landwirtschaftlichen BIP ausmacht.
Das
grosse Problem liegt im geringen Hektarertrag der madagassischen
Reisfelder. Die Gründe dazu sind vielfältig. Zum einen
sind die Bauern infolge der niedrigen Preise und der grossen
Evakuierungsprobleme in etlichen Gebieten ohne Strasse kaum zu höheren
Erträgen und somit zu Mehrarbeit motiviert. Zudem sind
viele Reisenklaven von wenigen Händlern abhängig, die
den Preis schamlos diktieren. Unzählige Bauern sind bei
'ihrem' Reishändler stark verschuldet. Zudem verkauft der
Grossteil der Bauern den Reis unmittelbar nach der Ernte, um -
einmal im Jahr - zu etwas Bargeld zu kommen. Bäuerliche
Genossenschaften zur Selbstvermarktung der Produkte finden sich
selten und nur im Ansatz, obwohl durch diese Eigeninitiative die
Monopolstellung der Zwischenhändler umgangen werden könnte.
Ebenso sind Getreidespeicher unter eigener Dorfverwaltung
selten, obwohl sie vor der neuen Ernte eine Überbrückungshilfe
bieten und gar neues Saatgut liefern könnten. So sind die
Bauern in der 'période de soudure' (der Nahtstelle zwischen dem
Ende des Reisvorrats und dem Einbringen der neuen Ernte)
weiterhin gezwungen, Reis zu einem viel höheren Preis zu
kaufen: als Nahrung für sich und oft gar auch als Saatgut. Auch
heute noch ist für viele Bauern die Zeit des Hungers vor der
neuen Ernte eine bittere, jährliche Realität. In ihrer
Not ernten sie oft schon den noch unreifen Reis.
In
Madagaskar existieren weiterhin die beiden Methoden des
Nassreisanbaus und des Bergreisanbaus durch Brandrodungsfeldbau
(tavy). Der tavy ist an sich verboten, weil er ökologisch
nur schwer reparierbare Schäden (Erosion und Zerstörung
des Waldbestandes) hinterlässt. Zudem müssen die schnell
erschöpften Felder alle paar Jahre gewechselt werden. Der
vor allem an der Ostküste praktizierte tavy bringt nur den mageren Ertrag von 800 kg pro
Hektare. (Aufgrund von tavy verschwinden dagegen jedes Jahr 300’000
Hektaren Wald.)
Der
Nassreisanbau wirft einen höheren Ertrag ab, verlangt aber
einen grösseren Arbeitsaufwand, besonders wenn er, wie in
Betsileoland, auf kleinen Reisterrassen betrieben wird. (Die
Reisterrassen der Betsileo sind zuweilen nur gerade einen Fuss
breit. Dies ist als Zeichen von knappem Land zu bewerten.) Zudem
muss der Wasserhaushalt der Felder genau abgestimmt und laufend
kontrolliert werden. Um ein Kilo Reis zu erhalten, sind 2000
Liter Wasser notwendig. Auch
hier liegt der madagassische Bauer weit über den Normen anderer
Länder.
Die
Felder werden im September/Oktober vor dem Beginn der ersten
Regen vorbereitet. (Der Pflanzkalender variiert um mehrere
Wochen je nach Gegend und Höhenlage.) Man sticht die Erde
um und lässt sie durch Zeburinder weichtrampeln. Dann
werden die Reiskörner ausgesät: entweder direkt aufs
Feld (archaische Methode) oder in sehr enger Folge in
Anziehbeeten (ketsa) eines
Pflanzgartens, der meist üblichen Methode. Die Jungpflanzen der
Anziehbeete werden nach 30 bis 40 Tagen, wenn sie etwa fusshoch
sind, repiquiert, also auf die eigentlichen Reisfelder
verpflanzt, meist in beliebiger Anordnung oder - als bessere
Methode - in Linien, um das Jäten der Unkräuter zu
erleichtern. Der Reis muss, um genug Zeit zum Wachsen zu haben,
bis Dezember gesetzt sein. Im April/Mai kann geerntet werden.
Die Halme werden mit Sicheln geschnitten und zum Trocknen
ausgelegt. Auf dem Dreschplatz werden die Ähren von Hand über
einen Stein geschlagen - oder es werden Rinder über die
ausgebreiteten Ähren gejagt. Die
Reiskörner werden im Erdgeschoss des Hauses gelagert, oft
in einer kellerartigen Vertiefung, dem Reisloch. Vor dem Konsum
werden die Hülsen von den Reiskörnern (Paddy) getrennt:
Madagassen lieben den 'vary fotsy' (weissen Reis) über alles,
obwohl durch die Abtrennung der vitaminreichen Aussenhaut ein
wesentlicher Teil des Nährwerts verloren geht.
Ein
Kilo Paddy (ungeschälter Reis, also das Reiskorn mit Hülse)
ergibt im Durchschnitt 660 Gramm geschälten Reis. Diese
Ausbeute von 66% hängt jedoch von der Feineinstellung der
Enthülsungsmaschine ab, falls maschinell gearbeitet wird.
Meist
teilen mehrere Bauern eine Quelle oder einen Bach und müssen
sich daher für ein koordiniertes Vorgehen in der Wasserzufuhr
absprechen. Da die Reisterrassen und der Wasserlauf meist auf
ein kleines Tal limitiert sind, gelingt diese gemeinsame
Verwaltung des Wassers zumeist problemlos. Schwieriger gestalten
sich Verwaltung und Unterhalt von grösseren Bewässerungssystemen.
Das
Landwirtschaftsministerium unterscheidet drei Arten von bewässerten
Reisfeldern: die 'micro périmètres' (MP) haben eine Fläche
von weniger als 5 ha; die 'petits périmètres' (PM) sind Flächen
von 100 bis 200 ha und die
'moyens und grands périmètres' (MGP) weisen 1500 bis 30’000
ha auf. Von den 570’000 ha bewässerten Reisfeldern
Madagaskars machen die MP total 350’000 ha (61%) aus, die PP
60’000 (11%) und die MGP 160’000 ha (28%). Diese
Zahlen zeigen die vornehmlich kleinbäuerliche Struktur des
Reisanbaus.
Grosse
Perimeter finden sich in der Region um den Lac Alaotra mit
70’000 ha und in
der Nähe von Mahajanga mit 17’000 ha (FIFABE). Diese
Überschussgebiete beliefern vor allem die städtische
Bevölkerung mit Reis. (Die
Region des Lac Alaotra weist eine landwirtschaftliche Potenz von
700’000 Hektaren auf, wovon 100’000 ha für den Reisanbau
irrigierbar wären, aber nur zu einem Teil effektiv genutzt
werden.)
Die
nationale Reisproduktion schwankt zwischen 2 bis 2,5 Mio Tonnen
pro Jahr, damit
steht Madagaskar an 15. Stelle der reisproduzierenden Länder.
Trotzdem muss Reis im
Wert von 10 - 20 % der totalen Importe eingeführt werden.
Der
Hektarertrag ist gering: ein traditioneller Bauer erwirtschaftet
eine bis zwei Tonnen Reis pro Hektar, der Landesdurchschnitt
beträgt 1,84 t/ha
und liegt damit unter dem durchschnittlichen Ertrag der
asiatischen Reisbauern. Die
Reisproduktion des madagassischen Bauern ist arbeitsintensiv und
weist hohe Produktionskosten auf, die oft ebenso hoch sind wie
der erzielte Verkaufspreis, manchmal gar höher. Auch
auf dem Hochplateau braucht ein Bauer trotz des günstigen
Klimas 300 Manntage, um 2050 kg/ha Reis zu erhalten. Diese
beträchtlichen Arbeitsleistungen verlangen oft die
Zuhilfenahme von Taglöhnern.
Die
Anbaumethode ist noch weitgehend archaisch: der Stichspaten (angady) verlangt eine grosse Arbeitsleistung
ebenso wie das Weichtrampeln der Erde mit Rindern. Das
freie Aussäen des Reises vermindert den Ertrag. Düngung
findet nicht statt. Reis wird nach wie vor in Monokultur
angebaut. Dies laugt den Boden aus, ohne ihm neue Nährstoffe
zuzuführen.
Das
Einführen von Pflügen (opération charrue) war nicht
erfolgreich, dies zum Teil auch, weil die Pflüge für die Verhältnisse
der Bauern zu teuer sind. (1986 waren zwar viermal mehr Pflüge
im Einsatz als 1970.) Ebenso
gelangt die Methode des Setzens der Reisschösslinge in
Reihen und das Entfernen der Unkräuter zwischen den Reihen
nur schwerlich zum Durchbruch.
Auf
der im Umlauf stehenden Zehntausender-Banknote, der bis November
1992 grössten Stückelung des madagassischen Papiergeldes,
ist auch heute noch eine Reisszene abgebildet, die Frauen beim
Repiquieren zeigt. Dass diese mühsame Arbeit von Frauen ausgeführt
wird, stimmt. Aber die gebückten Frauen stossen die fusshohen
Reisschösslinge in beliebiger Anordnung in den unter Wasser
stehenden Boden. Es ist anzunehmen, dass jeder Bauer mindestens
einmal im Jahr eine 10’000er-Note (Wert 2002: rund 2,5 sFr /
weniger als 2 Euro) in die Hände kriegt und den grünen
Geldschein auch betrachtet: die Gravur wirkt nicht gerade im
Sinne einer Propagierung für den ertragshöheren Anbau in
Reihen. Auch in der direkten Umgebung von Antananarivo wird in
einzelnen Dörfern heute noch die Direktaussaat betrieben.
Die
Reisernte geschieht mit der Sichel. Ein Verlust von bis zu 20%
entsteht während der Ernte und dem Transport, beim Dreschen
und Trocknen.
Die
Methode des Fruchtwechsels in Gegensaison, der Anbau von anderen
Produkten (vor allem Leguminosen) während der Brachezeit für
Reis, wird noch eher zögernd und nur in wenigen Gegenden
betrieben. Einzig in der Region Antsirabe wurde mit Getreide als
Gegensaison zu Reis einiger Erfolg erzielt.
Die
Landwirtschaft und insbesonders der Reisanbau ist kaum
mechanisiert. Nur in der Region des Lac Alaotra, der mit
70’000 ha Reisfeldern ein
traditionelles, aber gefährdetes Überschussgebiet
darstellt, ist eine mechanische Anbaumethode verbreitet. Dort
werden auch Erträge von 2,2 bis 3 t/ha erreicht. In
den meisten anderen Gebieten liegen die Erträge wesentlich
darunter. Ein Einflussfaktor stellt auch die oft mindere Qualität
des Saatgutes dar. Die vier staatlichen Zentren schaffen es
nicht, genügend qualitativ hochstehendes Saatgut zu
produzieren. Sie stellen im Jahr 1500 Tonnen Saatgut bereit: der Bedarf
liegt jedoch um die 100’000 Tonnen. Zudem
kamen die Forschungen für ertragshöhere Reisarten in den
1980er Jahren praktisch zum Stillstand.
Zwei
Ernten pro Jahr sind nur in wenigen Gegenden möglich, so in
der 20’000 ha grossen
Ebene Betsimitatatra um Antananarivo: der Reis der ersten Saison
(vary hosy; vary aloha) und
der Reis der zweiten Saison (vary vakiambiaty ).
Mit
einem jährlichen Konsum von etwas über zwei Millionen
Tonnen Reis gehören
die über elf Millionen Madagassen - nach Birma - zu den grössten Reisessern pro Kopf der Erde. Pro
Jahr verbraucht eine Familie mit acht Kindern 1650 kg weissen
Reis, was im kleinbäuerlichen Rahmen dem Ertrag von 1,5 ha
Reisfeldern entspricht.
Eine
Person isst im Jahr 130 kg bis 180 kg geschälten Reis, das
heisst 350 bis 500 Gramm pro Tag. 1989
standen - rein rechnerisch - pro Person 131 kg Reis zur Verfügung.
Die
UNO-Organisationen rechnen mit einer Tagesration von 400 Gramm als
Minimalbedarf pro Person. Auf ein Jahr umgerechnet ergeben sich
somit 146 Kilo beziehungsweise 221 Kilo Paddy (ungeschälter
Reis). Diese Menge müsste ein Bauer ernten (plus 5% als Rücklage
für das Saatgut der kommenden Saison), also 232 Kilo Paddy.
Eine
Studie in Antananarivo zeigte 1993 jedoch, dass ein
durchschnittlicher städtischer Haushalt mit 6,5 Personen
den Reisbedarf nicht decken kann. Pro Person stehen lediglich
108 kg Reis pro Jahr zur Verfügung. 31% des Familieneinkommens
wird dafür aufgewendet.
Ein
'durchschnittlicher' Bauer hat 1,2 ha Reisfelder zur Verfügung
und erwirtschaftet darauf mit traditionellen Methoden nur wenig
mehr als 1200 kg Paddy, was fünf bis sechs Personen während
eines Jahres ernährt. Jedes Familienmitglied mehr und jede
Ernteverminderung bedeutet zwangsläufig Hunger und Not.
Reis
dominiert die Landwirtschaftsflächen, insbesonders auf dem
Hochland. In allen Provinzen wird auf über 60% der
landwirtschaftlichen Fläche Reis
gepflanzt, nur in Tulear machen die Reisfelder 41% aus. Doch
insgesamt sind nur um die 2% der Gesamtfläche Madagaskars
mit Reis bepflanzt.
Das
ganze Leben der Madagassen dreht sich um das Reiskorn. Reis ist
ein kulturelles Objekt von mythischer Bedeutung. Unzählige
Sprichwörter nehmen darauf Bezug. Und sehr viele Tabu (fady)
sind im Umgang mit dem Reis zu beachten.
Der
traditionelle Kalender war entsprechend den Phasen des
Reiswachstums unterteilt. In
früheren Zeiten wurde die Länge eines Weges mit der Anzahl
Reistöpfe angegeben, die während dieser Zeit
nacheinander zum kochen gebracht werden können, wobei 'ein Reis kochen' etwa einer halben Stunde entspricht.
Der
Reis wird vollständig gar gekocht, pappig und weich soll er
sein. Dann wird zu der durch das Anbrennen im Topf entstandenen
Kruste (ampango) etwas
Wasser zugeschüttet und erneut aufgekocht. Daraus entsteht
ranovola: das etwas rauchig schmeckende Reiswasser wird bei
jeder Mahlzeit getrunken.
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