PRIORI

PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Lebenszyklus

Geburt, Beschneidung, Heirat und Tod bilden die Ecksteine im Leben eines Madagassen und werden feierlich begangen. Diese einschneidenden Ereignisse helfen dem Einzelmenschen und der Gesellschaft, einen Weg durch das Leben zu finden. Die Richtung dieses Weges ist in vielen Fällen schon bei der Geburt vorgezeichnet: der Mensch muss sich den Bedürfnissen der Familienharmonie und Ahnentradition unterordnen. Diese Einbettung gibt Halt und bildet ein stabiles Netz in Zeiten der Krise, macht aber auch ein mögliches Ausbrechen oder einen Individualismus sehr schwierig.

Die Familie (fianakaviana) bildet den Kern der sozialen Organisation, basierend auf den Familienmitgliedern des Haushalts (mianakavy), denen ein Mann oder eine Frau vorsteht und die im ruralen Gebiet eine Arbeitsgruppe bildet. Diese soziale und wirtschaftliche Einheit ist sehr stark mit ihren verstorbenen Mitgliedern verbunden. Das Zusammenleben der Lebenden untereinander und mit den Verstorbenen wird von einer ganzen Reihe von fady bestimmt und geregelt.

Ein Schlüsselwort in der madagassischen Gesellschaft ist havana (Verwandter). Dies meint nicht nur den Verwandtschaftsgrad, sondern auch die Beziehung zu diesem Verwandten, die Rechte und Pflichten ihm gegenüber und bezeichnet auch das eigene Aufgehobensein im sozialen Netz der Verwandtschaft (havana mpifankatia). Ein Verwandter hat alle Rechte, ihm darf kein Wunsch abgeschlagen werden. Er kann auch jederzeit und beliebig lange Gastfreundschaft und Hilfeleistungen in Anspruch nehmen.

Im madagassischen Kontext gelten die Mitglieder der havana als die zuverlässigsten Leute, denn sie sind Verwandte aus einem Bauch (havana tena iray tampo). Wie schon früher, so gilt auch heute noch, dass einer Person, die nicht verwandt ist, auch nicht vertraut werden kann. In Madagaskar gibt es kein Konzept einer Vertrauensvereinigung zwischen Freunden oder Nachbarn. Sollte sich doch eine Vertrauensbeziehung heranbilden, wird der Nachbar oder Freund zum Verwandten erklärt. Als Ausnahme existiert der Brauch der Blutsbruderschaft (fatidra), die vor allem früher während der Eroberungszügen der Merina anlässlich von Friedensbesiegelungen zwischen ehemals verfeindeten Parteien geschlossen wurde und als sehr stark und verbindend angesehen wird. In havana wird man hineingeboren, fatidra kann willentlich mit einer nicht verwandten Person eingegangen werden und fast die gleichen Verpflichtungen beinhalten wie havana.

Im Idealfall von havana wohnen die Verwandten zusammen im gleichen Dorf oder jedenfalls in naher Umgebung und gewähren sich gegenseitig Hilfeleistungen aller Art.

Wenn ein Mitglied aus der Holztüre (Haus) in die Steintüre (Grab) tritt, bleibt es noch immer mit der Familie verbunden. Die Gräber befinden sich in unmittelbarer Umgebung der Häuser und Dörfer.

In der patrilinearen und patrilokalen Gesellschaft wird das Alter sehr respektiert. Als Zeichen davon werden den Alten viele Vorrechte eingeräumt und Gunstbezeugungen erwiesen. So erhalten sie die besten - das heisst fettesten - Fleischstücke beim Essen.

Die Greise werden durch ihre grosse Lebenserfahrung und durch ihre fortschreitende Nähe zu den Ahnen als Weise betrachtet. Sie haben das Recht zu verpflichtenden Befehlen. Die Jungen dürfen nichts ohne Genehmigung und Benediktion der Alten unternehmen.

Sie verwalten das Gedächtnis der Gruppe, sie sind Hüter der Traditionen und der kulturellen Werte und geben sie in oralen Erzählungen weiter. Die lovantsofina (das Erbe des Ohres) war während Jahrhunderten in der zumeist schriftlosen Kultur das einzige Mittel der Wissensweitergabe von Generation zu Generation.

Die männlichen Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren bilden eine Lignage, deren Vorsitz der älteste der Männer oder die älteste Frau führt. Stirbt der Vater, geht die Autorität meist auf den ältesten Sohn (lahimatoa) über, der daraufhin den Ehrennamen zokiny (der Älteste) erhält.

Mehrere Lignages bilden einen Clan (foko), auch sie stammen von einem - weit entfernten - Ahnen ab. Der Clanchef wird ernannt und präsidiert den Rat der Alten (loholona). Von dieser Bezeichnung stammt das Wort fokonolona.

Dieser Clanchef wird je nach Region mpanjaka, ampanjaka oder tangalamena genannt.

Die Verwandtschaft wird nur mit wenigen Begriffen umschrieben. So kann als Bruder bezeichnet werden, wer die gleiche Mutter und den gleichen Vater hat, wer Cousin ist oder Grosscousin oder noch weiter weg verwandt ist. Dies führt bei Europäern zuweilen zu Missverständnissen über die Vielzahl an Brüdern und Schwestern eines madagassischen Bekannten.

Kinderlos zu leben ist für Madagassen ein unerwünschtes Schicksal. Falls dies eintrifft, wird das Ehepaar alles nur mögliche tun, um diese Tragik abzuwenden, so wird es einen oder mehrere ombiasy (Zauberer) besuchen und wird an Opfersteinen Gaben hinterlegen. Jede Schwangerschaft, auch von minderjährigen unverheirateten Mädchen, wird trotz der ökonomischen Nachteile freudig begrüsst. Unfruchtbarkeit (nomba) wird einzig auf die Frau zurückgeführt und nicht auch auf eine mögliche Zeugungsunfähigkeit des Mannes. Eine Geburtenkontrolle und Familienplanung wird im ruralen Gebiet kaum gemacht. Inzest ist häufig verbreitet.

Die Schwangere wird von besorgten Verwandten auf alle Aspekte der Schwangerschaft aufmerksam gemacht. Sie erhält spezielle Nahrung, zum Beispiel Rinderkutteln, um die Plazenta zu stabilisieren und eine Frühgeburt zu vermeiden. Insbesonders wird sie auf die zu beobachtenden fady hingewiesen. Sie darf bestimmte Pflanzfelder nicht durchschreiten. Sie darf keinen Ingwer essen, weil die Ingwerknollen verformten Gliedmassen ähneln und diese Deformierungen auf die Gliedmassen des Ungeborenen überspringen könnten. Sie und die Hausbewohner dürfen nicht auf der Schwelle des Hauses sitzen, weil dies den freien Durchgang während der Geburt behindern wird. Sie darf auch nicht mit Toten und Beerdigungen in Kontakt treten. 

Der Geburt wohnen nur Frauen bei, assistiert von einer Hebamme (renin-jaza). Gebären auf madagassisch heisst velona (leben), die Mutter lebt, entrinnt also dem Tod. Das Kind wird mit Fett eingerieben und in einigen Regionen wird dem Neugeborenen Salz auf die Zunge gestreut, um dadurch einem Leben in Misere entgegenzuwirken.

Die Hebamme erhält mehr Gehalt, wenn das Neugeborene männlich ist und somit tompon'anarandray ist, also Erbe von Namen und Güter.

Die Geburt von Zwillingen gilt als Unglück, früher - in einigen Regionen zuweilen heute noch - wurden die beiden Zwillinge sofort umgebracht. (Heute bringt die Methode des Ultraschalls Schwangere in arge Bedrängnis. So gehen viele Frauen der Südostküste auf das Hochland, gebären ihre Zwillinge und geben sie sofort zur Adoption frei.)

Die Plazenta wird ausserhalb des Hauses vergraben, im Norden bei einem männlichen Baby, im Süden bei einem weiblichen. Dann wird ein Astrologe oder Zauberer (mpanandro oder ombiasy) nach der Zukunft des Kindes befragt.

Durch eine kleine Zeremonie wird das Kind offiziell in die Gemeinschaft aufgenommen. Geschenke werden gebracht, so Hühner oder getrocknete Süsswasserkrabben, um daraus Suppe (rom-patsa) zu machen, damit sie die Muttermilch fliessen lässt. Auch Geldspenden werden als rom-patsa gebracht.

Seit den christlichen Zeiten gibt man den Kindern christliche Vornamen, gefolgt vom Familienname, der sich aus Elementen des Mutternamens und des Vaternamens zusammensetzen kann. Früher gab man dem Kind nur einen Namen. Dabei liess man sich vom Wochentag inspirieren, von einem besonderen Ereignis während der Geburtszeit, von Wünschen und Befürchtungen. Dies findet sich auch heute noch in sehr vielen Fällen. Doch das Neugeborene sollte niemals den Namen eines Verstorbenen erhalten. Hingegen erhalten Babys, deren Eltern ein Kind verloren haben, oft den Namen Solo, was Ersatz bedeutet. Die Eltern lassen sich auch oft durch Modewörter leiten, die etwa durch das Radio zu ihnen dringen. So gibt es inzwischen Kinder mit den Namen Sida (Aids) oder auch Chloroquine (Malariamedikament).

Es ist fady, das Baby zu bewundern und zu sagen, dass es schön und gesund sei. Dies würde die Toten eifersüchtig machen und sie veranlassen, negativ auf das Kind einzuwirken. Man wird also sagen, das Kind sei hässlich und schwach, eine Ratte oder Kuhdung. Allenfalls ist es erlaubt zu sagen, das Baby sehe aus wie ein kleines Hündchen oder wie ein Kätzchen.

Nach ein paar Monaten werden in einer Zeremonie die Haare des Kindes erstmals geschnitten, ein festliches Ereignis, dessen idealer Zeitpunkt vom mpanandro festgelegt wird und wozu ein Rind geschlachtet wird. Die abgeschnittenen Haare werden vergraben oder in einen Fluss geworfen, unfruchtbare Frauen behalten ein paar Haare in der Hoffnung, dass sie ihnen Fruchtbarkeit bringen.

Ein markantes Ereignis im Leben eines Jungen ist die Beschneidung (famorana), die überall in Madagaskar ausgeführt wird, ausser bei den Vezo  zwischen Tulear und Morondava und bei den Mikea-Waldnomaden in der Region von Morombe. Die Beschneidung macht den Jungen zum Mann (ny mandehilahy ny zaza). Die Mädchen werden nicht beschnitten, für sie gibt es keine Initiation, die den Eintritt in die Welt der Frauen markiert.

Der Ursprung der Beschneidung geht womöglich auf die islamisierten Einwanderer zurück. Sie wird als Befehl der Ahnen (didin-drazana) verstanden und muss somit zwingend ausgeführt werden. Ein unbeschnittener Mann gilt als schmutzig (maloto). Er darf auch nicht ins Familiengrab aufgenommen werden.

Die schmerzhafte Operation wird nicht gleich nach der Geburt, sondern erst im Alter von rund vier Jahren während der kalten Winterszeit von Mai bis September vorgenommen, doch auch hier wird der ideale Zeitpunkt vom mpanandro bestimmt. Die Beschneidung eines Jungen muss verschoben werden, wenn seine Mutter wieder schwanger ist. Oft werden mehrere Jungen miteinander beschnitten. So werden beim Volk der Antambahoaka alle sieben Jahre tausende von Jungen in einem kollektiven Fest (sambatra) beschnitten, wobei alle Jungen, die in der Zwischenzeit geboren wurden, kollektiv beschnitten werden.

Dieses festliche Ereignis wird von Tanz und Musik begleitet, die schon Tage vorher beginnen. Am Vortag jedoch legen die Verwandten Trauerkleider an, um aus dem Schlechten (Trauer) Gutes (Gelingen der Beschneidung) zu erwirken. Am Vorabend gehen junge Leute, deren Eltern noch leben, zum Fluss oder noch lieber zu einem Wasserfall, um in einer kleinen Kalebasse ranomahery (kräftiges Wasser) oder ranomasina (heiliges Wasser) zu holen. Die Gruppe tanzt und singt dabei, schwingt die mitgebrachten Zuckerrohrstengel in ausgelassener Stimmung.

Die ganze Nacht hindurch werden alte Beschneidungslieder gesungen. Vor der festgelegten Stunde, meist frühmorgens, muss der Junge siebenmal (sieben gilt als heilige Zahl) um das Haus gehen, manchmal wird er auch von Männern getragen. Die Frauen sind von der Zeremonie ausgeschlossen, sie haben das Essen zuzubereiten und die Matten zu knüpfen, die den Boden des Beschneidungszimmers bedecken.

Ein Bananenstrunk wird aufgestellt, darauf wird eine neue Schüssel gelegt, die mit Kuhdung und Ochsenfett gefüllt ist. Die Verwandten deponieren bei diesem Bananenstrunk Geldgeschenke für den Jungen.

Die Operation findet im Haus unter Beisein von nur Männern statt. Der Chef der Familie richtet gegen die Nordostecke des Hauses ein Bittgebet an die Ahnen (razana) und an Gott (Zanahary). Dort sind eine Flasche Rum, Wasser, Zuckerrohrstengel und die Kalebasse mit dem ranomasina deponiert. Ein wenig Rum wird für die Ahnen verspritzt, der Rest wird von den Anwesenden getrunken. Das Wasser wird über den oder die zu Beschneidenden gesprüht. Das ranomasina wird auch vom Chirurgen benutzt, um seine Hände und das Messer zu waschen. Oft wird für die Operation noch ein Bambusmesser benutzt. Die Operation wird von einem traditionellen Beschneider (rain-jaza) ohne Betäubung ausgeführt, in den Städten oft auch von einem Arzt.

Nach der Operation wird der Penis mit ranomasina begossen und mit Bananenmus beschmiert. Die Vorhaut wird zusammen mit einer Banane vom Vater - oder vom Bruder des Vaters - gegessen. Der Junge wird in ein traditionelles, grosses Hemd (malabary) gekleidet, das speziell für die Zeremonie angefertigt wurde, und draussen beginnen die Leute zu jubeln: ein neuer Mann ist entstanden.

Der Junge erhält Geschenke. Um Gott und den Ahnen zu danken, wird ein Rind geopfert - sofern sich die Familie diese Auslage leisten kann. Ein grosses Festessen beendet die Zeremonie.

Mädchen als Quelle der Nachkommen erhalten mit dem Erreichen des heiratsfähigen Alters einen kommerziellen Wert. Hat das Mädchen bereits Kinder, so wird dies als Beweis seiner Fruchtbarkeit angesehen und somit ist das Mädchen umso begehrter.

Die Initiative geht von den Eltern - oft der Mutter - des heiratsfähigen Sohnes aus, der in ruralen Gebieten im Alter von 15 bis 17 Jahren bereits in der landwirtschaftlichen Arbeit voll tätig ist. Geht er noch zur Schule, wird etwas zugewartet. Doch das hindert nicht, bereits Umschau zu halten und Vorgespräche zu führen. Derweil wird dem Jungen bereits ein Stück Land gegeben, das er eigenständig bearbeitet und dadurch der nominelle Besitzer der Früchte wird. Die Ernte wird zwar noch immer im gemeinsamen Haushalt der Eltern gelagert und verbraucht. Das heiratsfähige Mädchen hingegen erhält vor der Hochzeit nichts.

Die Eltern suchen eine geeignete Kandidatin in einer Familie, deren Herkunft, sozialer und ökonomischer Stand ihnen angemessen erscheinen. Wichtig ist die interne Heirat in der Grossfamilie (havana), nicht zuletzt auch daher, weil somit das vererbte Land in der Familie bleibt. Zudem kommen insbesonders bei den Merina noch die Standesunterschiede zwischen fotsy (Freie) und mainty (Sklaven) zum tragen, ebenso wie religiöse Elemente. Da die fotsy protestantisch und traditionellerweise ranghöher sind, sind Heiraten mit mainty, die katholisch und Abkömmlinge ehemaliger Sklaven ohne Heimaterde (tanindrazana) sind, sehr selten. Die Kinder einer solchen Ehe würden das Recht auf das fotsy-Grab in der Heimaterde (tanindrazana) verlieren. Ebenso besteht eine Heiratsschranke zwischen andriana und hova, sie ist jedoch durchlässiger geworden. Es werden etliche Geschichten und Märchen von unglücklich Verliebten erzählt, die diese Schranken nicht beachteten und in Unglück und Tod endeten. Es kann vorkommen, dass ein noch keine 10 Jahre altes Mädchen schon einem künftigen Ehemann versprochen wird.

Doch auch zwischen den verschiedenen Ethnien existieren latente Heiratsschranken. So begegnen die Küstenvölker den Merina nach wie vor mit viel Vorsicht, was sich auch in den Eheverbindungen niederschlägt. Heute noch hegen viele Sakalava eine tiefe Abneigung gegen die Merina, ihre früheren Feinde. Heiraten zwischen Sakalava und Merina sind selten und wenn, dann heiratet ein Merina-Mann eine Sakalava-Frau. Gegenüber den Betsileo verspüren die Sakalava hingegen keinen Groll.

Bei den Vorabklärungen können aber auch etwaige Präferenzen des Sohnes oder der Tochter miteinbezogen werden. Eine Heirat aus reiner Liebe ist - in traditioneller Umgebung jedenfalls - wohl eher selten. Nur in der städtischen Bevölkerung ist es inzwischen möglich, den Ehepartner selber zu wählen, doch die Wahl kann auf vehementen Widerstand der Familie stossen.

In Siedlergebieten mit stark durchmischter Bevölkerung kann es aber vorkommen, dass durch Heirat eher eine lokale Nachbarschaftsbeziehung gestärkt, als jene des havana unterhalten werden soll. Solche Ehen werden eingegangen, auch wenn dadurch unter Umständen der Zutritt zum Grab im tanindrazana verwehrt wird. In diesem Fall wird im neuen Land ein neues Familiengrab erbaut. Man beruft sich aber weiterhin auf das Heimatland (tanindrazana), obwohl man durch die erfolgte Heirat ausserhalb des havana effektiv das Recht dazu nicht mehr hat.

Für die Abwicklung der Heiratsvorbereitungen wird der Beistand eines Vermittlers angefragt. Oft ist dies jemand, der sowohl mit der Familie des Sohnes als auch mit der Familie der ersehnten Braut verwandt ist. Keines der beiden wird gezwungen, die Wahl der Eltern und ihres Vermittlers anzuerkennen, obwohl sie sich doch eher dem Wunsch der Eltern beugen werden.

Innerhalb des Clans wird endogam geheiratet. Generell gilt die Formel: je verwandter, umso besser. Dabei gilt es allerdings, eine bestimmte Grenze zum Inzest hin nicht zu überschreiten. So ist die Heirat zwischen Nachkommen von zwei Schwestern verboten. Als idealste Kombination gilt die Heirat zwischen den Enkeln eines Grossvaters und seiner Schwester. Der wichtigste Grund dieser Verwandtenheirat ist das Behalten von Land und Gut in der Familie, sodass dass Erbe nicht weggeht (lova tsy mifindra). Dadurch wird die Aufstückelung von Land verhindert und an Aussenstehende keine Landrechte vergeben. Denn die Kinder erben Land, Rinder und Geld unabhängig von ihrem Geschlecht. Traditionellerweise erhielt das älteste Kind leicht mehr als die jüngeren, die Jungs etwas mehr als die Mädchen. Heutzutage wird das Erbe meistens gleichmässig aufgeteilt.

Noch heute wird nach diesen traditionellen Regeln geheiratet, ausser in städtischen Gebieten und in gebildeteren Kreisen. Die heranwachsende Jugend und ihre mögliche Heiratswahl wird jedoch im ruralen Gebiet weiterhin als potentielle Gefahr für die Zerstückelung der Familiengrundstücke (tanindrazana) gesehen.

Bei den diskreten Vorabklärungen ist der Beizug eines mpanandro wichtig, der die Chancen und Risiken der Ehepartner und ihre Kompatibilität abwägt.

Sind seine Prognosen positiv, und sind die beiden Elternteile mit der Verbindung einverstanden, begeben sich die Eltern des Sohnes - oder eine Abordnung davon - ins Haus der Eltern der künftigen Braut, um offiziell um die Hand des Mädchens zu fragen. An einem festgelegten Tag, oft donnerstags wie bei den Betsileo, dem Tag des Mannes, oder einem Freitag, dem Tag der grossen Persönlichkeiten, macht sich die Delegation (mpangataka) zur Familie der jungen Frau auf, wo sie von Vertretern der Brautfamilie zu einer Heiratsdiskussion - einer genauen Untersuchung (dinidinika) - empfangen wird. Die Besucher sagen etwa folgendes: Wir sind gekommen, um euch um Nachkommen zu bitten. Diskutiert werden die Bedingungen der Heirat und dabei vor allem die gegenseitige Mitgift.

Diese Reden und Gegenreden sind eine Art Handel, in der beide Parteien versuchen, möglichst viel zu erhalten und wenig zu geben. Dabei sind aber die Vertreter des Bräutigams von vornherein in einer schwächeren Position. Die auserwählte Braut wird bei diesen Verhandlungen nicht beigezogen.

Kernstück der Diskussionen bildet der Brautpreis, vody-ondry (Hüftfleisch des Schafes) genannt, den der Bräutigem dem Vater des Mädchens überreichen muss. Dieser symbolisch zu verstehende Ausdruck zeigt eine Respektbezeugung des jüngeren, untergebenen gegenüber einer älteren, ranghöheren Person. Der Brautpreis wird in Form von Geld bezahlt, das der Vater der Braut dann seinerseits an seine vielen Verwandten weiterverteilen muss. Diese Bezahlung kann als Kompensation für den Arbeitsausfall des Mädchens durch die Heirat verstanden werden. Die Mitgift der Braut hingegen besteht aus materiellen Sachen wie Essgeschirr, Matratzen und Haushaltsgütern.

Diese Mitgift als Startkapital für den gemeinsamen Haushalt ist normalerweise mehr wert als das Geldgeschenk des Bräutigams an den Brautvater. Doch falls die Ehe bricht, nimmt die Frau ihre eingebrachte Mitgift wieder mit, während der Ehemann sein Geld nicht mehr zurückerhält.

Sind diese Aspekte geregelt, wird der Heiratstermin ausgemacht, wobei die Familie der Braut den Astrologen um einen günstigen Termin anfragt. Am Heiratstag wird der Bräutigam auf seinem Weg zum Haus der Braut von Verwandten begleitet, nicht aber von seinem Vater. Er hat die ausdiskutierte Summe des Brautpreises dabei, aber auch neue Kleider für die Braut, Schmuck und einen Sonnenschirm.

Doch vor dem Dorf der Braut muss die Gruppe erst einmal warten. Und damit beginnt eine ganze Serie von Beleidigungen und Erniedrigungen, welche die Gruppe des Bräutigams während der Zeremonie hinnehmen muss. Denn weil sie um etwas bittet (die Braut), ist die Delegation in einer schwächeren Position gegenüber jenen, die etwas geben. Werden die Bittsteller endlich eingelassen, müssen sie auf der Südwestseite des Raumes sitzen, der Seite der Sklaven. Dann beginnen die Verhandlungen, die allerdings nicht direkt auf die Heirat und den Grund des Besuchs hinweisen sollen. Diese Reden (kabary) ziehen sich Stunden hin, während der die Bräutigamsleute nichts zu essen oder trinken erhalten. Stütze dieses Gesprächs ist ein geübter Redner (mpikabary), denn die Bitten und Gespräche müssen eloquent und in blumiger, formaler Sprache langatmig vorgetragen werden, wobei die Rede von Sprichwörtern, Bibelsprüchen und alten Weisheiten durchsetzt ist. Die beiden Seiten regeln dabei die Konditionen der Heirat, so etwa, dass die Kinder im Fall einer Scheidung bei der Mutter bleiben dürfen. Oder dass sich der Bräutigam verpflichtet, der Brautfamilie durch Arbeit oder Geld beizustehen.

Nach den Reden wird das vody-ondry zusammen mit einem Quarz (Zeichen von Fruchtbarkeit) und ein paar Stücken eines Wasserkruges als Symbol von Häuslichkeit offiziell übergeben, damit sind die beiden als Ehepaar anerkannt.  Dann erst wird die Braut in den Raum geführt, sie trägt alte, zerrissene Kleider, und in ihr Haar wurde von ihrer Mutter kleine Plättchen geknüpft, der traditionellen Haartracht der unverheirateten Mädchen. In einer schmerzhaften Prozedur werden die Plättchen von Frauen aus der Familie des Bräutigams entfernt, das Haar ausgebürstet und zum Knoten der verheirateten Frau geformt. (Ethnologen meinen, dass diese schmerzhafte Prozedur der Beschneidung der Jungen gleicht und den Übergang von Mädchenwelt in Frauenwelt kennzeichnet, was durch den Kleidertausch noch unterstrichen wird.) Dann zieht die Braut die von ihrem Ehemann mitgebrachten Kleider und Schmuck an. Das Paar wird gesegnet, die Ahnen werden um Schutz gebeten, ihnen werden sieben Jungen und sieben Mädchen gewünscht, ebenso wie Wohlstand und viele Besitztümer.

Ein Essen beendet die Zeremonie. Dabei wird von den Eltern der Braut ein Ochse geopfert.

Die junge Ehefrau zieht daraufhin ins Dorf ihres Mannes und nimmt vom Elternhaus ihre Mitgift, ein paar Bastmatten, Körbe, Kochutensilien und einen Korb Reis mit. Begleitet wird sie nebst der Delegation des Ehemannes noch von ihrem Vater, aber nie von ihrer Mutter.

Bevor sie in das Haus des Bräutigams eintritt, umrundet sie es im Uhrzeigersinn drei- oder siebenmal. Dann wird ausgiebig gegessen und das Ereignis nochmal durchbesprochen, insbesonders der mpikabary führt seine Reden nochmals vor. Während dieses Festessens werden die jungen Brautleute von der ältesten Frau des Haushalts mit einem Löffel Reis, vermischt mit Honig und Milch als Zeichen von Wohlstand, dreimal rituell gefüttert. Damit sind sie iray trano (ein Haus). Dasselbe wiederholt sich eine Woche später im Hause der Brauteltern.

Diese traditionelle Heirat wird in ruralen Gebieten nicht immer standesamtlich besiegelt und noch weniger in der Kirche, denn dies verlangt zusätzliche, beträchtliche Auslagen.

In sehr vielen Fällen wohnt das Paar im Dorf des Ehemannes, doch wenn er ins Dorf der Frau zieht, ist dies für ihn keine Schande. Oder aber das Paar lässt sich an einem anderen Ort nieder. Diese Wahl ist stark von der ökonomischen Lage der Ehepartner abhängig: der Lage der Reisfelder und eventuell dem Ort des Arbeitsplatzes.

Die junge Ehefrau behält aber ihre Landrechte in ihrem Elterndorf, überlässt sie jedoch zur Bewirtschaftung ihren im Dorf verbliebenen Geschwister unter Abgabe eines Geldbetrags oder eines Teils der Ernte. Ebenso überlässt sie einen allfälligen Rinderbesitz unter Obhut ihres Bruders.

Rinder und Land bilden eine Art Versicherung für die Frau, falls sie im Fall einer Scheidung wieder selbst für sich aufkommen muss. Dieses Land darf nie verkauft werden. Es wird an die Kinder der Frau weitervererbt, die ihr Landrecht behalten, auch wenn sie das Land selber nie bearbeiten. So ergeben sich komplizierte Vernetzungen von Landnutzung und Landrecht, von Verboten des Landverkaufs, die für Aussenstehende fast unmöglich zu durchblicken sind. Für das Dorf aber kann dies heissen, dass fruchtbares Land, aufgrund von irgendwelchen unklaren Rechtsverhältnissen, brach liegt.

Geht die Heirat in Brüche, verbleiben die Kinder normalerweise bei ihrer Mutter. Während einer Schwangerschaft ist es fady sich zu trennen, denn dies würde das Kind verletzen.

Innerhalb der Ehe herrscht eine relativ klare Arbeitsteilung: der Mann ernährt die Familie, holt das Brennholz und versorgt die Rinder. Die Frau kümmert sich um Haus, Essen, Kleidung und Kinder, holt Wasser und betreut das Kleinvieh. Dabei muss sie jedoch auf den Reisfelder ebenfalls die schwere Arbeit des Umsetzens der Reisschösslinge erledigen und bei der Ernte helfen. In vielen Fällen verwaltet die Frau das Bargeld. In städtischen Verhältnissen ist es keineswegs unüblich, dass auch die Frau einer Lohnarbeit nachgeht oder eine kleine Epicerie führt und die Kinder unter Obhut eines Verwandten oder eines Kindermädchens überlässt.

Insbesonders an der Küste bleibt aber der Bruder der engste Vertraute der Ehefrau. Auf die Frage: Wenn eine Piroge kentert und du nur entweder deinen Bruder oder deinen Ehemann retten kannst, antwortet die Hochlandfrau, dass sie ihren Ehemann retten würde, die Küstenfrau hingegen würde ihren Bruder in Sicherheit bringen.

Früher war Polygamie besonders in aristokratischen Familien üblich, dabei hatten die Hauptfrau und ihre Kinder mehr Rechte und Erbteil als die Nebenfrauen und ihr Nachwuchs. Heutzutage leben die meisten Madagassen in monogamen Verhältnissen, was aber nicht heisst, dass die Partner - zuweilen häufig - gewechselt werden, insbesonders dort, wo sie eher auf informeller Basis zusammenleben.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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Franz Stadelmann

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