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Die
Welt der Ahnen
Wer
auf dem Land seiner Ahnen lebt, fühlt sich als tompon-tany, als
Herr des Landes. Er sieht sich eingebettet in Sitte und
Tradition, umgeben von den Ahnen und in der Nähe seines
dereinstigen Grabes.
Die
Umwälzungen durch Kolonialpolitik, durch Unsicherheit und
Revolten, durch Landknappheit und Siedlungspolitik haben
allerdings dazu geführt, dass heute viele Leute nicht mehr in
ihrem angestammten Heimatland wohnen. Dies trifft insbesonders für
die Merina des Hochlandes zu, die aufgrund des Bevölkerungsdrucks
in zahlenmässig starken Kontingenten vor allem nach Westen
zogen. Trotzdem haben sie ihre Wurzeln in ihrer ursprünglichen
Region und ihrem Heimatdorf beibehalten, dem tanindrazana, dem
Land der Ahnen (razana), das für jene, die nicht mehr dort
leben, das Bindeglied mit der Vergangenheit in einer sich
dauernd verändernden Welt darstellt. Dort findet sich oft
auch das Familienhaus, das zuweilen viel stattlicher ist als das
Wohnhaus im Siedlungsgebiet. Der Weggewanderte fühlt sich noch
immer eher als Mitglied der Kirche seines tanindrazana als der
Kirche seines Wohnortes. Dorthin spendet er auch Geld und
dorthin geht er, wenn möglich, an Allerheiligen (1.
November), dem traditionellen Versammlungstag der Merina am
Familiengrab.
Der
wichtigste Ankerpunkt zum tanindrazana ist das dortige
Familiengrab. Im neuen Siedlungsgebiet sind die Weggewanderten
die voanjo (Samen), und bleiben dies auch noch nach
Generationen. Als voanjo führen sie ihr tägliches Leben,
finden ein Einkommen und bearbeiten Land oder betreiben ein
Geschäft. Doch fühlen sie sich dem Ursprungsdorf zugehörig,
auch wenn sie selber dort nicht geboren und aufgewachsen sind:
dort werden sie einmal begraben werden im Kreise der Ahnen, dort
sind sie zuhause.
Das
heisst, dass sich jemand nicht so sehr an einen Ort gebunden fühlt,
wenn dies nicht sein tanindrazana ist. Er selber fühlt sich
dort als Fremder, als vazaha.
Noch
heute wird ein Unbekannter gefragt, wo sein tanindrazana liegt.
Die Person wird also nicht gefragt, wo sie jetzt wohnt, sondern
wo die Ahnen wohnen. Dies dient in der indirekten madagassischen
Frageweise auch dazu, etwas über den sozialen Status des
Befragten zu erfahren. Denn mit dem tanindrazana, dem
Heimatdorf, ist eine traditionelle Gruppe (Clan) liiert, die je
nachdem einen höheren oder geringeren Status hat als jene
des Fragenden, und die aussagt, ob er aus einer freien Familie
stammt oder nicht.
Dieser
in der Vergangenheit wurzelnde Status hat zwei Aspekte: einen
geografischen und einen sozialen. Der geografische Aspekt
bezieht sich auf die regionale Herkunft einer Familie. Die
traditionellen sechs Distrikte von Imerina waren unterteilt in
eine Vielzahl von Clans. So etwa die Provinz Avaradrano in
Tsimahafotsy (von Ambohimanga), Tsimiamboholahy (von Ilafy) und
rund ein Dutzend weitere. Jede Region und somit die dort
wohnenden Familienclans hatten ein vorgegebenes Sozialprestige,
das für die Merina, vereinfacht, so aussah: die nördlich
von Antananarivo wohnenden Clans waren den südlich wohnenden
Clans sozial höher gestellt.
Gleichzeitig
aber war die Merina-Gesellschaft früher in drei - ihrerseits in
verschiedene Gruppen unterteilte Kasten - geschichtet: andriana
(Adelige), hova (Gewöhnliche) und andevo
(Sklaven). Doch der Unterschied zwischen Adeligen und Gewöhnlichen
war verschwommen: einerseits gab es sehr viele andriana,
andererseits gehörten sie nicht alle zur herrschenden
Klasse. Zu Zeiten von Andrianampoinimerina waren etwa ein
Drittel der freien Bevölkerung andriana. Zudem wurden
zuweilen ganze Clangemeinschaften zu andriana erhoben - oder
verloren diesen Status. Der Begriff andriana muss eher
sozio-geografisch verstanden werden in dem Sinne, dass die in
bestimmten Gebieten lebende Bevölkerung einen höheren
Status hatte, ohne aber dadurch zwangsläufig über
politische Macht zu verfüge. Dies gilt allerdings nicht für
die höchste Schicht der andriana, der Zazamarolahy und der
Zanakandriana. Im Normalfall kann eine andriana-Familie auch
heute noch einen langen Stammbaum aufweisen, der bis zu den
mythischen Gründern der Monarchendynastien zurückgeht, während
die hova dies seltener können. Aufgrund dieses Prestiges
genossen die andriana - und geniessen noch heute - gewisse
Vorrechte: sie dürfen als erste eine Rede halten, sie werden
noch immer in besonderer Weise gegrüsst. Ihre Gräber
finden sich innerhalb der Dörfer, während die Gräber
der hova ausserhalb der Dörfer liegen. Bestimmte Arbeiten
waren früher einzelnen andriana-Gruppen vorenthalten, so etwa
die Bearbeitung von Zinn. Dies galt auch für die hova. So
durften nur die hova-Familien der Zanakdoria die Lamba mena für
die Toten weben.
Der
Unterschied zwischen andriana und hova ist also eher in ihrer
Position in der Hierarchie und ihrer Nähe zur
Merina-Monarchie zu sehen.
Während
die Differenz zwischen andriana und hova nie gross war, war sie
jedoch grundlegend gegenüber den andevo (Sklaven). Durch die
Kriegszüge, insbesonders in der Zeit von Radama I zu Beginn des
19. Jahrhunderts, kamen unzählige Sklaven nach Merinaland,
wo aber schon vorher Sklaven gehalten wurden. Sklaven wurden in
Imerina wie die kleinen Kinder ankizy genannt. Sie durften zwar
Familien gründen, deren Kinder blieben aber Sklaven. Die
Sklaven hatten keine Verwandtschaftsorganisation und keinen
Zugang zu den famadihana der Merina. Ihre Gräber waren nur
einfache Erdlöcher.
Die
Frage nach dem tanindrazana dient aber auch dazu zu entdecken,
ob die beiden nicht vielleicht verwandt sind. Denn die gleiche
tanindrazana bedeutet fast zwangsläufig auch eine, wenn
auch womöglich weit entfernte Verwandtschaft. Auch hier
sind die Nachkommen der ehemaligen Sklaven ausgeschlossen, denn
sie haben keine tanindrazana, sie sind sozusagen ohne Vorfahren,
ohne alte Heimat, ohne Referenzmöglichkeit. Das Verfügen
über eine tanindrazana heisst, dass man von freier Abstammung
ist.
Das
Land des tanindrazana darf nicht verkauft werden, kann aber in
Pacht vergeben werden. Das Siedlerland, in dem der Bauer bloss
voanjo ist, wird hingegen gekauft, verkauft, getauscht. Im
Heimatgebiet des tanindrazana liegt jedoch auch viel Land
unbearbeitet brach, wird aber auch nicht verkauft. Denn wer ein
Stück Land ein paar Jahre ohne Entgeld bearbeitet, kann sich
auf ein Gewohnheitsrecht berufen und das Land beanspruchen.
Daher ziehen es die Besitzer vor, das Land brach zu lassen, wenn
sie keinen zahlenden Pächter finden.
In
Verbindung mit dem tanindrazana hat der Totenkult eine
herausragende Wichtigkeit - insbesonders in Imerina - erhalten.
Der Tod ist nicht das Ende, sondern eine andere - höhere
und weisere - Art des Seins. Die Toten, besonders die
verstorbenen Könige, erhalten oft einen neuen Namen. Es ist
oft fady, den Lebendnamen eines Verstorbenen zu nennen.
Auch
in seinem Tod will sich der Verstorbene bei den Seinen wissen -
und nicht in einem fremden Land unter Fremden begraben sein. Das
Grab ist das Symbol eines Ahnensystems und eines
Verwandtschaftsnetzes, das Geborgenheit in alle Zeiten gibt. Der
Begriff tanindrazana beinhaltet zwangsläufig auch das
dereinstige Grab und das Grabmal der eigenen Ahnen. Grab und
tanindrazana sind zwei Aspekte derselben Realität. In einem
Grab im tanindrazana begraben zu sein, ist der Beweis der Zugehörigkeit
zu diesen Fixpunkten im Leben eines Merina.
Gräber
bilden die Garantie einer Kontinuität in einer sich ständig
wechselnden Welt. Sie sind der Anker in einem turbulenten Meer
voller Gefahren. Sie sind sichtbares Zeichen für die Präsenz
der Ahnen, die ihrerseits Bezugspunkt, Quelle von Weisheit und
von richtungsweisenden Wahrheiten sind.
Die
Mehrheit der Gräber werden von Generation zu Generation
weitervererbt, doch kann auch beschlossen werden, ein neues Grab
zu bauen. Dieser Entschluss kann ein Familienzwist zum Ursprung
haben oder den Wunsch, den im irdenen Leben erworbenen Wohlstand
auch demonstrativ umzusetzen und sich und seiner Familie dadurch
ein Denkmal zu setzen. Die Position des Grabes wird vom ombiasy
bestimmt, ebenso wie der Zeitpunkt und der Rhythmus des Baus. So
darf beispielsweise während des Heranwachsens von Reis kein
Grab gebaut werden, denn Reis heisst Leben und Geburt, Grab
heisst Tod und Zerstörung. Ein Grab soll nicht im Norden
des Dorfes stehen, wo Wärme und Freude herrschen, sondern
auf der südlichen, traurigen Seite. Ebenso darf der Schatten
des Grabes nie auf das Dorf zeigen, was Unglück und zerstörerische
Kräfte heraufbeschwören würde. Ist die Grabstätte
nach einer Bauzeit von mindestens einem Jahr beendet, darf es
nicht leer stehen. So wird erst einmal ein Bananenstrunk als
Leichenersatz hineingelegt, denn ein Sprichwort sagt: ein leeres
Grab ist hungrig. Es würde sich also unweigerlich jemanden der
Lebenden holen.
In
Imerina sind die Gräber in den tanindrazana solide
Strukturen, aus Stein und Zement erbaute quadratische Gebilde,
die mannshoch aus dem Boden ragen. Zum Teil sind sie stark
verziert, werden in Stand gehalten und sind oft besser gepflegt
als die Wohnhäuser. Im Süden Madagaskars weisen die Gräber
der Mahafaly holzgeschnitzte Stelen auf, die Episoden aus dem
Leben des Verstorbenen erzählen. Auf andere Gräber des
Südens sind Bildgeschichten aufgemalt, die markante Ereignisse
des Toten darstellen. Diese Gräber finden sich oft weit vom
Dorf entfernt. Die Gräber der Sakalava sind mit Holzpfosten
umgeben. einige der Pfähle tragen holzgeschnitzte
Skulpturen, die Vögel oder geometrische Figuren darstellen
oder Männer und Frauen, etliche davon zeigen erotische
Szenen. Die Gräber der Tanala und Betsimisaraka sind
hingegen versteckt, die Wege dorthin werden absichtlich nicht
gepflegt, um nicht dem Tod den Zugang zum Dorf zu zeigen. Die
Antaimoro und Antaifasy belassen ihre Toten in Holzhäusern,
während die Bara Höhlen in den Bergen nutzen.
Der
Hauptteil des Grabes der Merina bildet eine unterirdische
Grabkammer, deren Eingang mit einem Stein verschlossen ist.
Dieser Grabeingang findet sich nie auf der Westseite, wohingegen
die Haustüren immer gegen Westen zeigen. Die Errichtung eines
Grabes ist mit hohen Kosten verbunden, die im Normalfall weit höher
liegen als der Bau eines Wohnhauses. Denn, so sagen die Merina,
im Grab wird man weit länger wohnen, als in einem Haus.
Zudem können Investitionen in ein Grab keine Eifersucht und
keine Verzauberei bewirken, was aber bei herausgeschmückten Häusern
jedoch leicht passieren kann. Die Gräber der neueren Zeit
haben eine ebenerdige Kammer, Steintüre und eine Art Vorhof,
der mit einem Eisengitter abgeschlossen ist.
Gräber
können von Generation zu Generation weitervererbt werden.
Die Erben sind nahe Verwandte, die in diesem Grab dann auch
beigesetzt werden. Verstorbene Männer werden normalerweise
im Grab ihres Vaters beigesetzt, allenfalls im Grab der Mutter.
Frauen entweder im Grab ihres Ehemannes oder im Grab ihrer
Mutter. Kinder werden im Familiengrab des Vaters bestattet,
jedoch nicht in jenem der Mutterfamilie. Man kann allerdings das
Grab wählen, in dem man dereinst beigesetzt werden will.
Dieser Entscheid wird noch zu Lebzeiten gemacht und dies hat
gleichzeitig Investitionen für den Unterhalt des Grabes zur
Folge. Zur Organisation des Grabunterhalts wird eine Person
bestimmt, die Chef des Grabes genannt wird.
Aber
nicht alle können in einem monumentalen Grab beigesetzt
werden. Ausgeschlossen werden Personen, weil sie sozial
verstossen sind (z.B. unfruchtbare Frauen, Hexen), aus Mischehen
(mainty und fotsy) stammen, krank sind (Lepra, Pocken) oder zu
Lebzeiten das Geld zum Unterhalt des Grabes nicht aufbringen
konnten. Ebenso darf ein unbeschnittener Mann nicht ins
Familiengrab aufgenommen werden. Diese Toten werden in normalen
Erdgräbern beigesetzt und bleiben dort. Solche Gräber
werden Eingangsgräber (fasana mandrosoa) genannt. Doch
niemand will alleine begraben sein.
Die
Vorstellung, was nach dem Tod geschieht, ist heute durchmischt
mit christlichen Glaubensinhalten. Dass aber die Geister von
Verstorbenen und Vorfahren im Lande der Lebenden weiterhin aktiv
sind, wird allgemein geglaubt. Generell jedoch sind die Toten
Mittler zwischen Gott und den Lebenden und sollten als Fürsprecher
der Lebenden auftreten. Trotzdem herrscht in Madagaskar eine
grosse Angst vor Geistern, insbesonders in der Nacht. Die Seele,
die sich ab dem fünften Altersjahr herausbildet, lebt nach dem
Tod als individualisierter Geist (ambiroa) weiter, doch bald
wird dieser Geist in die anonyme Gruppe der anderen ambiroa
aufgenommen. Nach dem Tod besucht dieser Geist sein ehemaliges
Haus und die Familie oder wandert über die Hügel und hält
sich in der Nähe des Grabes auf. Daher meiden allein
wandernde Leute die Gräber. Und daher reden viele
Madagassen nachts mit sich selber, als Abwehrmittel gegen
Geister aller Art. Ein ambiroa kann auch in Träumen
erscheinen. Ihm wird zuweilen ein Opfer oder ein Bittopfer
dargebracht, doch ein eigentlicher Kult existiert nicht für
diese Geister, obwohl ihnen zuweilen an speziellen Orten wie
Steinen, Quellen oder Hügeln Opfer (Rum oder Hühner)
dargebracht werden.
Die
Nacht wird auch beseelt durch Geister (angatra) als
Manifestation von nicht personalisierten Toten.
Naturgeister (lolo) zeigen sich in Form von
Schmetterlingen und Motten - oder ihrem seidendünnen Hauch. Früher
gab es noch das Konzept der fanahy (Seele), die sich nach dem
Tode zum Berg Ambondrombe im südlichen Imerina begab. Doch die
Missionare deuteten diese Seele um, nun geht die fanahy entweder
in den Himmel oder in die Hölle. (Die christlichen Kirchen
bezeichnen mit fanahy auch den Heiligen Geist.)
Wer
stirbt, wird oft schon am folgenden Tag, aber nie am Dienstag
oder Donnerstag, begraben. Die Bestattung in einem Holzsarg wird
von den anwesenden Familienmitgliedern und Bekannten und
Freunden ausgeführt. Hier kommt die Nachbarschaftshilfe und der
Gemeinschaftsgeist von nichtverwandten Dorfbewohnern sofort und
deutlich zum Vorschein. Sie übernehmen die Organisation der
Bestattung, sodass sich die trauernden engeren
Familienmitglieder der Totenwache widmen können. Die Frauen
lösen ihr normalerweise gebundenes und geflochtenes Haar.
Auch nicht direkt betroffene Frauen weinen mit als Zeichen ihres
Mitgefühls. Die Leiche wird in der Nordostecke des Hauses
aufgebahrt. Die Familienangehörigen halten Leichenwache während
der Nacht, während sich die Dorfangehörigen auf der
Westseite vor dem Haus aufhalten. Dies soll verhindern, dass
Hexen (mpamosavy) den Leichnam durch die Fenster und Türe
stehlen.
Sämtliche
Arbeiten auf Feldern und im Dorf werden eingestellt, hingegen
muss ein reichhaltiges Essen, wenn möglich mit
Ochsenfleisch, gekocht werden. In einigen Gebieten schneiden
sich die Leute die Haare oder kämmen sie nicht mehr. (Starb
in früheren Jahrhunderten ein König, mussten sich alle
Untergebenen die Haare schneiden.) Am Morgen wird die Leiche
bestattet, meist vor dem Dorf auf einem Hügel, ausser wenn
gerade eine Transportmöglichkeit gefunden ist, die den
Leichnam in die Heimat schafft. Es ist allerdings selten, dass
eine frische Leiche so transportiert wird. Diese Bestattung ist
eine Angelegenheit des fokonolona, denn es bleibt keine Zeit,
die weit verstreuten Angehörigen zusammenzurufen, obwohl es
oberste Pflicht ist, die Verwandten so schnell wie möglich
vom Tod zu informieren. Schwangere Frauen und unbeschnittene
Jungen dürfen an der Beerdigung nicht teilnehmen. Diese
Sofortbestattung ist von geringerer Bedeutung als die
Zweitbestattung (famadihana) und kostet auch weniger.
Das
Haus des Verstorbenen wird in den Regionen des Südens
abgebrannt und zerstört. In anderen Regionen wird das
Sterbehaus sich selbst überlassen.
Die
Leiche wird im Familiengrab bestattet, falls der Verstorbene im
tanindrazana lebte, oder sie wird provisorisch in der Erde
vergraben, wenn der Verstorbene ein voanjo war. Kinder unter fünf
Jahren, Kinder des Wassers (zazarano) genannt, dürfen nicht ins
Familiengrab beigesetzt werden, sie werden temporär
bestattet und sollten möglichst bald anlässlich der
famadihana ins Familiengrab gebettet werden. Eine temporäre
Bestattung im tanindrazana findet auch für einen Erwachsenen
statt, wenn das Familiengrab während des Jahres schon
einmal geöffnet worden war, denn ein Grab darf nie zweimal
im Jahr geöffnet werden.
Das
Ziel eines jeden Madagassen ist es allerdings, im Familiengrab
in der Heimat beigesetzt zu werden. Dazu muss die schon im
Erdgrab provisorisch beigesetzte Leiche wieder ausgegraben
werden und zum Familiengrab transportiert werden. Befand sich
die verstorbene Person nicht mehr im tanindrazana, werden die
Überreste, oft nur noch Knochen, in einem kleinen Holzsarg
in die Heimat transportiert und im Familiengrab beigesetzt.
Diese Rückführung der sterblichen Überreste geschieht
zuweilen erst mehrere Jahre nach dem Tod und hängt im
wesentlichen von der Verfügbarkeit von Geldmitteln der Familie
ab. In den kalten Wintermonaten sieht man alle Tage Taxi-Brousse
mit aufgesteckten madagassischen Fahnen: dies zeigt an, dass das
Fahrzeug auch einen Toten mitführt. Das Gesetz erlaubt das
Abhalten von famadihana nur in den kalten Monaten von Juli bis
September.
Die
Feier der famadihana wird etwa alle drei bis fünf Jahre
veranstaltet, je nach der Finanzlage der Familie. Meist
erscheint ein Toter einem Familienmitglied im Traum und sagt
ihm, dass er kalt und Hunger habe. Dies ist der eindeutige
Hinweis, dass eine famadihana fällig ist, was dann auch vom
ombiasy meist bestätigt wird. Wiederholt sich der Traum,
gerät die Familie unter einen richtiggehenden psychischen
Druck, die famadihana zu organisieren, obwohl die Finanzen dazu
womöglich nicht vorhanden sind. An der famadihana nehmen
alle Familienmitglieder teil, es ist ein grosses Fest mit
erheblichen Ausgaben.
Das
Wort famadihana heisst 'umdrehen' oder auch 'deplazieren' und
kann auf deutsch mit 'Leichenwende' oder 'Totenumbettung'
umschrieben werden. Die Herkunft dieses Brauches, der
vornehmlich auf dem Hochland gepflegt wird, ist unklar.
Eine
famadihana ist oft eine Kombination aus zwei Aktionen:
einerseits wird ein Verstorbener aus seinem temporären Grab
herausgenommen und ins neue Familiengrab beigesetzt,
andererseits werden die im Familiengrab befindlichen Skelette
herausgenommen, in neue Lamba mena und frische Bastmatten
gewickelt und wieder ins Familiengrab getan.
Wird
ein in der Fremde Begrabener hergebracht, muss er mindestens
zwei Jahre tot sein, damit sich das Fleisch zersetzt hat und der
Tote somit eine 'trockene Leiche' (faty maina) ist. Auch im
traditionellen Glauben gilt, dass der Tote trocken sein muss, um
Segen zu erteilen. Und Segen erteilen ist die Hauptaufgabe der
Toten.
Eine
Gruppe von Verwandten übernimmt die Organisation der famadihana,
die lange und gründlich vorbereitet wird. Zudem müssen die oft
weitverstreuten Verwandten benachrichtigt werden. Diese
Organisationsgruppe wird Besitzer des Festes (tompon'jama)
genannt. Insbesonders muss Geld gespart werden, denn Tücher müssen
gekauft und Transporte bezahlt werden. Und natürlich müssen
die unzähligen Gäste bewirtet werden, am besten mit
Fleisch von Rindern mit einer bestimmten Fellzeichnung. Eine
famadihana kostet eine Unmenge Geld, wofür die Leute oft Vieh
oder Land verkaufen müssen. Diese Ausgaben werden nur noch von
der Investition in den Bau eines Grabmals übertroffen. Doch
alle diese Ausgaben werden als keine Belastung angesehen, obwohl
sie eine Familie an den Rand des Ruins und in Schulden stürzen
können. Doch jeder ist überzeugt, dass diese Investitionen
in Form von Segen und Wohlwollen der Ahnen zurückgezahlt
werden.
Die
famadihana ist eine Angelegenheit der Familie, die teilnehmenden
Familienmitglieder werden Kinder der Toten (zaza'drazana)
genannt. Ein Astrologe gibt den idealen Termin für die
famadihana bekannt, ebenso wie er die günstige Farbe für die
Lamba mena bekanntgibt. Die Farbe des Leichentuchs Lamba mena
(rotes Tuch) ist im übertragenen Sinn als Gegensatz zu den
weissen Kleidern der Lebenden zu verstehen. In Wirklichkeit können
die benutzten Lamba mena irgendwelche Farben haben. Die
einzelnen Familien kleiden sich auch gleich, zum Beispiel in
blau-weiss gestreifte Hemden.
Am
ersten Tag versammeln sich die Verwandten, die ersten Rinder
werden geschlachtet. Am Vortag der Zeremonie beginnen die Frauen
schon am Morgen zu tanzen und zu klatschen. Anwesend ist auch
ein Orchester aus Trommel, mehreren Klarinetten und Trompeten.
Die allmählich - oft von weither - eintreffenden Gäste
werden begrüsst, jeder bringt einen Umschlag mit Geld mit, die
Summe wird sorgfältig notiert, denn bei einer nächsten
famadihana muss dem Spender die gleiche Summe zurückgegeben
werden. Die eintreffenden Gäste werden im Hof der Gastgeber
mit Fleisch und Reis verköstigt.
Am
zweiten Tag stellen sich die zaza'drazana auf das Grabmal und
rufen die Geister (ambiroa) an und nennen die Namen der Toten,
die am folgenden Tag exhumiert werden.
Den
ganzen Tag und die Nacht hindurch wird getanzt, Rum getrunken
und die Gesellschaft wiegelt sich einem tranceartigen Zustand
zu.
So
beginnt die eigentliche Zeremonie in einem Zustand von
quasi-Extase, denn der Kontakt mit allem Toten und dem Übernatürlichen
ist letztendlich eine angstmachende Angelegenheit, insbesonders
wenn dies mit dem Familiengrab verbunden ist. Denn das Grab ist
ein Konzentrationspunkt von Energie und Macht der Ahnen. So kann
jemandem ein Finger abfallen, wenn er auf ein Grab zeigt. (Daher
krümmen die Madagassen immer ihren Zeigefinger, wenn sie in die
Ferne zeigen: es könnte sich ja irgendwo ein Grab
befinden.)
Die
Verwandten machen sich singend und begleitet vom Orchester zum
Grab auf, verbunden mit mehreren Halten. Die Prozession nähert
sich dem Grab aus der Richtung und zur Zeit (meist um halb drei
Uhr nachmittags), die der Astrologe - immer jemand aus der
weiteren Familie - vorausgesagt hatte. Mit dabei ist auch die
madagassische Flagge, die an der Nordostecke des Grabes in die
Erde gesteckt wird. Junge Männer beginnen dann, die Erde
vom Eingang des Grabes freizuschaufeln. In dieser Erde sind
magische Objekte verborgen, die später wieder eingegraben
werden. So findet sich auch ein geschlossenes Vorhängeschloss,
das bewirkt, dass die Geister des Grabes nicht hinausfliehen können.
Dann wird der Eingangsstein entfernt und ein paar männliche
Familienmitglieder gehen in die begehbare Grabhöhle hinein.
Auf dem Grab steht das Organisationskomitee, das jeweils laut
ausruft, welcher Tote nun aus dem Grab getragen wird, wobei die
ältesten Skelette als erste hinausgetragen werden. Die im
Grab befindlichen Männer umwickeln die Skelette mit einer
neuen Bastmatte, dann werden die Knochenbündel herausgetragen
und den Frauen übergeben, die sie auf den Schultern tragen und
tanzen. Sorgsam legen sie das Bündel auf eine neue Bastmatte
auf die Erde und öffnen die verwesenen alten Lamba mena.
Ist der Tote schon lange gestorben, wird die Restmasse mit den Händen
zerkleinert, alle Verwandten drängen sich heran, um daran
teilzunehmen. Die nahen weiblichen Verwandten der jüngst
Verstorbenen werden richtiggehend gezwungen, die Knochen zu berühren.
Frauen werden als Träger der verwandtschaftlichen Emotionen
gesehen, durch ihre Berührung bestätigen sie das Band der
Verwandtschaft. Es ist allerdings nicht erlaubt zu weinen, alle
müssen fröhlich und ausgelassen sein.
Dieser
direkte physische Kontakt mit den Verstorbenen ist eine
Angelegenheit der Verwandtschaft; Freunde und Nachbarn halten
sich als Zaungäste weiter entfernt vom Grab auf.
Nach
den Berührungen werden die Bündel auf die Oberschenkel der in
Reihen nebeneinander sitzenden Frauen gelegt, die diese wie
Kinder wiegen und danach mit den neuen Lamba umwickeln. Die
Anzahl der Lamba ist unterschiedlich und hängt vom Reichtum
der Familie ab, ebenso die Qualität der Stoffe: wer es sich
leiten kann, benutzt die teuren Seidenlambas. Es können über
ein dutzend Lamba sein, die pro Toten aufgewendet werden. Da
aber eine famadihana meist für eine Person im speziellen
gemacht wird, erhält dieses Kochenbündel die grösste
Anzahl Lamba. Alle diese Toten sind als Personen mit Namen und
Verwandtschaftsgrad bekannt. Doch die älteren Skelette, von
denen oft nicht mehr viel übriggeblieben ist, werden zusammen
in ein Lamba gewickelt und sind nicht mehr individuell bekannt.
Sie sind die Ahnen schlechthin.
Dann
werden die neugewickelten Bündel von den Frauen auf den
Schultern siebenmal um das Grab getragen, indem sie tanzend vor-
und zurückgehen. Die Furcht ist verschwunden, die Bündel
werden gar in die Luft geworfen, sodass zuweilen einzelne
Knochen herausfallen, die dann fast achtlos wieder in die
Bastmatte geworfen werden. Dieser Nichtrespekt ist in krassem
Widerspruch zum angstvollen Respekt, bevor die Knochen berührt
werden. Doch das Knochenberühren hat gezeigt, dass der Tote
wirklich tot ist und der Disrespekt bestätigt dies.
Dann
werden die Bündel wieder in das Grab geschafft, die ältesten
zuerst, sie werden auf den Ehrenplatz in der Nordost-Ecke
gelegt. Die benutzten Matten werden aus dem Grab geworfen, wo
die Frauen sich darauf stürzen und versuchen, ein Stück zu
erhaschen und mit nach Hause zu nehmen, denn diese Mattenstücke
sind hochgeschätzt und erhöhen die Fruchtbarkeit.
Die
Art und Weise des Abhaltens einer famadihana kann beträchtliche
Variationen aufweisen je nach Ort und Region, aber auch je nach
dem Reichtum der Familie. Es ist ein farbenfrohes Ereignis, alt
und jung nehmen daran teil. Einzelne zeigen trotzdem tiefe
Trauer und suchen aufkommende Tränen zu unterdrücken.
Eine
famadihana wird gemacht, weil es der Brauch der Ahnen ist und
daher gut ist. Es ist auch eine Art Potlach, ein Umverteilen von
Besitz (innerhalb der Familie), denn von den reicheren wird
erwartet, dass ihre famadihana weitaus grosszügiger
veranstaltet wird als jene von ärmeren Leuten. Zudem werden
die Toten durch eine famadihana 'glücklich' gemacht und können
daher um Segen gebeten werden. Eine famadihana nimmt auch die
Schuld (tsiny) vom Menschen. Tsiny sammelt sich an durch den
Kontakt mit der heutigen Welt, die durch die vielen Änderungen
der neuen Zeit eben nicht mehr jene der Ahnen ist, jene des
fomban-drazana. Ein Sprichwort sagt: Die Ohren jenes, der die
Sitten der Ahnen ändert, faulen ab. Zudem gilt nicht nur im
Umgang mit den Ahnen, dass wer Gutes tut, auch Gutes zurückerhält.
Dieses Prinzip der direkten Reziprozität (tody) von guten
und schlechten Taten ist tief verankert im madagassischen
Bewusstsein.
Die
famadihana bringt aber auch die Toten der Familie zusammen, wie
das Sprichwort sagt: jene, die in einem Haus leben, sollten in
einem Grab beerdigt werden. Das heisst, dass Verwandte im
gleichen Grab sein sollten, um damit die Gebräuche der
Ahnen (fomban-drazana) - das Ideal - wiederherzustellen. Wie früher,
als die Verwandten im gleichen Dorf in ihrer Heimat lebten.
Eine
symbolische Herführung eines in der Fremde Gestorbenen wird
auch gemacht, wenn der Tote nicht in die Heimat zurückgebracht
werden kann oder sein Körper vermisst wird. Dann wird ein
Stein aufgerichtet, der diese Person repräsentiert. Dieser
Stein wird auch in die famadihana einbezogen, vor ihm wird
ebenso zur Musik des Orchesters getanzt. Der Stein wird mit
weissen Tüchern umbunden, Honig und Rum wird darüber gegossen.
Doch
das Ritual der famadihana wird nicht überall im Land gemacht,
bei den Sakalava beispielsweise nicht - auch nicht für Könige.
Denn Könige sterben nie, auch ein physischer Tod hindert
den königlichen Geist nicht, sich trotzdem noch zu
manifestieren. Er tut dies in Form der tromba und sucht sich
einfach einen lebenden Akteur, um sich zu äussern.
Nur
wenige modernisierte Familien in den Städten führen die
famadihana nicht mehr aus, da sie sich entschieden haben, das
Geld lieber für die noch Lebenden zu benutzen.
Ganz
anders verläuft die Bestattung im Süden, wo ein riesiges
Steinmonument für den - männlichen - Toten erstellt wird,
und die Hörner mit dem Stirnbein der während der
Feierlichkeiten getöteten Rinder auf das Grab gelegt
werden. Die Teilnehmer der Bestattung werden danach auch
interessiert gefragt, wie viele Rinder beim Begräbnis
geschlachtet wurden. (Heute wird zudem oft auf dem Grab
vermerkt, wie viel die Grabstätte und die Beerdigung in
Geld gekostet haben.) Die Mahafaly stecken zu den Rinderhörnern
etliche geschnitzte Stelen (aloalo) auf das Steinmonument. Zudem
wird die Umfassungsmauer oft mit geometrischen Mustern verziert
- oder gar wichtige Lebensetappen des Verstorbenen bildlich
dargestellt. Bei der Herstellung der aloalo und der
Bildgeschichten vermischen sich allerdings oft die Phantasie des
Künstlers mit den tatsächlichen Lebensschwerpunkten des
Toten. Die Sakalava hingegen verzieren ihre holzumzäunten
Gräber mit Vögeln, geometrischen Plastiken und
erotischen Schnitzereien. Auch diese Gräber, wie jene des Südens,
werden ihrem Schicksal überlassen und zerfallen im Laufe der
Jahrzehnte.
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