Worte
und Bedeutungen
Die
madagassische Sprache, im wesentlichen indonesischen Ursprungs,
aber durchsetzt von afrikanischen und arabischen Worten, kennt
eine blumige und stark deskriptive Ausdrucksweise. Dies äussert
sich nicht nur in Reden und in Poesie, sondern auch in
Wortbildungen wie beispielsweise für Sonne 'masoandro' (Auge
des Tages) und schlägt sich auch in Ortsnamen nieder.
Obwohl die Gründe der Namensgebung oft nicht mehr eindeutig
nachvollziehbar sind, lassen sich doch noch in sehr vielen Fällen
Wortelemente herausfiltern, die auf eine besondere Gegebenheit
der Örtlichkeit hinweisen. So beinhalten viele Ortsnamen
die Elemente 'be' (gross), 'vato' (Stein), 'hazo' und viele
mehr. Insbesonders das Wortelement 'hazo', das auf Wald und Holz
deutet, mag in jenen Gegenden verwundern, die heute abgeholzt,
nackt und kahl sind.
Madagassisch
ist die Nationalsprache und hat den Status der offiziellen
Sprache der Insel. Sie wird von allen Völkern der Insel
gesprochen und von einer Gruppe von alten Exil-Madagassen auf
den Komoren. Die Sprache gehört zum westindonesischen Zweig
der malayo-polynesischen Sprachfamilie. Die madagassische
Sprache ist zwar ziemlich uniform, trotzdem lassen sich zwei
oder drei Sprachgruppen unterscheiden: eine Variante im Westen
und Süden und eine weitere im Osten und im Zentrum und als
dritte Variante ein Gemisch aus den ersten beiden Dialektformen
im Norden.
Die
von den englischen L.M.S.-Missionaren zu Beginn des 19.
Jahrhunderts kodifizierte Sprache ist in Orthographie und
Grammatik dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr angepasst und
reflektiert zudem zu stark den lokalen Akzent der Merina. Die Küstenbewohner
sehen sich einmal mehr vom 'kolonialistischen' Gehabe der Merina
überfahren, denn Schulunterricht und Verwaltung bedienen sich
der Merina-Version des Madagassischen. Doch alle Versuche, das
literatursprachliche Muster zu verbessern, scheiterten bislang.
Eine 'Hochsprachversion' ist in Ausarbeitung, stösst
allerdings immer wieder an die Grenzen zwischen Hochländern
und côtiers. Doch auch die beiden Völker des Hochlandes
kennen bereits erhebliche Unterscheide in Wortinhalt und
Aussprache. So bezeichnen die Merina mit manga die blaue Farbe,
die Betsileo hingegen weiss, die Merina mit maitso grün und die
Betsileo damit schwarz.
Die
madagassische Vorliebe für Worte und Bedeutungen, für
feinsinnige Wortnuancen und für doppelbödige Wortspiele
findet in den Reden ihre vollendete Blüte. Die Redekunst der
kabary ist als eine traditionelle Form der oralen Literatur zu
sehen, die im madagassischen Leben fest verankert ist. Die Leute
lieben Rezitationen und Ansprachen (kabary), die sich oft zu
einem langen, sehr langen Diskurs entwickeln, in Afrika wird
dieser Wortschwall mit Palaver umschrieben. Ein kabary beginnt
immer mit einer langatmigen Entschuldigung des Redners, weil er
das Wort ergreift, wo er doch der geringste unter den Anwesenden
sei und nichts und gar nichts zu sagen habe. Danach werden die
Anwesenden begrüsst, mit allen Titeln und Namen und ihre Präsenz
wird wortkräftig bedankt. Der Kern der Aussage, der oft nur
einen geringen Teil des kabary einnimmt, wird dann weitschweifig
umkreist, langsam eingekreist, eingebettet in blumige und
bildhafte Wortwendungen. Der ungewohnte Zuhörer erkennt
inmitten der metaphorischen Andeutungen die eigentliche Aussage
kaum. Doch auch für den geübten Zuhörer bleibt immer ein
Freiraum für mögliche Interpretationen offen. Brillante
Reden sind Volkssport, verbale Expression gehört zu den
geschätzten Qualitäten eines geachteten Menschen.
Diese
Ansprachen werden bei Heiraten gehalten, bei Todesfällen,
in der Politik und auf der Strasse. Im Telefonbuch bieten
professionelle Redner ihre Dienste an und können für einen
Diskurs gemietet werden. Ebenso wie für künftige
Verwaltungsbeamte an der Universität und an Schulen Kurse für
das fachgerechte Vortragen von kabary gehalten werden.
Der
zufällige Hörer mag den Eindruck erhalten, dass die
Rede völlig improvisiert ist, dass der Redner seinen Worten
freien Lauf lässt. Dem ist jedoch keineswegs so. Der
talentierte mpikabary (Redner) untermalt seine Worte mit Gesten
und mit künstlichen Pausen. Daher sind die mpikabary zwar
geborene Redner, müssen sich aber immer wieder fortbilden und
sehr viel üben.
Traditionellerweise
war ein kabary eine königliche Verlautbarung, die das Volk
über die Entscheide des Herrschers informierte. Der König
liess seine Beschlüsse durch ein kabary vom Volk nachträglich
gutheissen und legitimierte sie dadurch. Später wurden
kabary auch gebraucht, um die Ecksteine des sozialen Lebens der
Gemeinschaft zu markieren: Geburt, Heirat, Begräbnisse.
Diese Tradition hat auch in der heutigen Zeit keineswegs an
Attraktion verloren, weder auf dem Land noch in der Stadt.
Doch
auch gelegentliche Ereignisse der Gemeinschaft verdienen
Ansprachen: Einweihung eines Schulhauses, einer
Dorfbrunnenanlage und vieles mehr. Diese kabary können sich
allerdings in einem etwas freieren Rahmen abspielen, während
die 'sozialen' kabary auch heute noch stark strukturiert sind
und relativ starren Formeln folgen müssen: dem Vorwort folgt
die Entschuldigung, das Wort zu ergreifen und erst dann der
eigentliche Inhalt, in dem der Redner sein wahres Talent
entfalten kann. Diese grobe Unterteilung kennt noch etliche
subtile Untergruppen. Trotz der rigiden Struktur sind auch diese
kabary dynamisch und adaptierbar, letztlich dem Genie des
Redners unterworfen.
Die
hira-gasy sind Volksdarbietungen von Tanz, Musik und Gesängen,
die festliche Anlässe - zumeist in den Dörfern des
Hochlandes - untermalen. Es sind im eigentlichen Sinn gesungene
Dramen. Die Vortragenden sind in uniformähnliche, lange
rote Mäntel und weisse Hosen gekleidet und werden von
Trommel, Klarinette, Geige und Akkordeon begleitet. (Diese
paramilitärische Kleidung soll auf den König Radama II
zurückgehen, der selber musisch tätig war, und den
Musikern ein Aussehen von hoher Autorität geben wollte und
sie quasi als musikalische Botschafter der Monarchie sah.) Die Männer
tragen platte runde Strohhüte mit einem schwarzen Band. Die Gewänder
der Frauen erinnern stark an das 19. Jahrhundert.
Nebst
den rein musikalischen Darbietungen sind auch Gesten, Mimik und
Tanz feste Bestandteile des hira-gasy. Eine Truppe besteht oft
aus Familienmitgliedern und umfasst zehn bis über zwei Dutzend
Männer und Frauen, die musizieren, singen und tanzen. Immer
jedoch steht der Truppe ein Redner (mpikabary) vor, der jede Präsentation
ankündigt und einführt. Oft stehen verschiedene Truppen in
stundenlanger Konkurrenz miteinander, wobei der Gewinner durch
die Gunst des im Kreis um die Truppen sitzenden Publikums
ermittelt wird. Diese Musik- und Theaterspektakel (mpilalao)
unter freiem Himmel finden insbesonders auf dem Hochland zu
jeder Zeit begeisterte Zuhörer. Zu sehen sind sie aber auch
in der Hauptstadt im Stadtteil Isotry, wo diese Darbietungen
jeden Sonntag im hira-gasy-Haus (Kianja Mitafon'Isotry) gezeigt
werden. Das abbruchreife Gebäude dieses Volkstheaters wurde
1992 sogar erneuert und so die Wichtigkeit dieser Kulturform
nachhaltig unterstrichen.
In
anderen Landesteilen spielt das orale Vortragen von
Volksweisheiten, Sprichwörtern und Liebesgedichten
ebenfalls eine grosse Rolle. So sind die sôva - insbesonders
bei den Tsimihety und den Bara - als oralliterarische Begleitung
von Volksfesten nicht wegzudenken. Auch diese Darbietungen sind
keine Spontanpoesien, sondern ebenfalls durchstrukturierte Präsentationen
von Lebensweisheiten, die allerdings auf die momentane
Grundstimmung der Festbesucher Rücksicht nehmen. Der
Vortragende ist meist ein älterer Mann, der seine gesamte
Lebenserfahrung in seine Rede einfliessen lässt. Die
Sakalava kennen in gleicher Art die antso und die jijy, die
Antandroy die beko und die Betsileo die isa, sowie die rija, ein
typischer Gesang und Tanz der Betsileo.
In
alle Darstellungen, ob Reden oder hira-gasy, sind Sprichwörter
(ohabolana) eingebaut, die aus dem reichen Schatz an
Volksweisheiten stammen. Jeder Madagasse kennt unzählige
Sprichwörter und Sinnsprüche, die er zu bestimmten Anlässen
einstreut und die vom Publikum als das aufgenommen werden, was
sie sind: jahrhundertealte Weisheit der Ahnen. Inzwischen
existieren viele Bücher (von englischen und norwegischen
Missionaren, von Forschern und Linguisten) mit tausenden von
ohabolana. Die erste Kollektion von ohabolana publizierte Ellis
im Anhang seiner Geschichte Madagaskars, Sammlungen von Sprichwörtern,
Mythen und Königsreden weiterer Missionare (Dahle, Cousins)
folgten. 1881 veröffentlichte J. A. Houlder eine
Aufzeichnung von Sprichwörtern und versuchte durch sie, die
madagassische Kultur zu durchleuchten und zu verstehen.
Die
hain-teny sind gedichtartig erweiterte Sprichwörter, die
allerdings keine Floskelwörter enthalten. Die Verslängen
sind rhythmisch und kurz, voll von Humor, Weisheiten und
unverhofften Wendungen. Die Bilder nehmen Bezug auf die Schönheiten
und Eigenheiten von Landschaften und Natur. Erotische
Andeutungen und Liebeserklärungen gehören ebenfalls
dazu. Oft treten zwei Kontrahenten gegeneinander an und suchen
sich in einer Art literarischem Wettbewerb in Kenntnis und
Vortragen der hain-teny zu übertreffen. (Viele der heutigen
madagassischen Schriftsteller lassen sich von den hain-teny
inspirieren.)
Wichtig
ist auch das Einflechten von Worten der Ahnen (tenin-drazana),
die von ewiger Gültigkeit sind, weil sie eben von den Ahnen
stammen. Oft werden diese Worte auch berühmten Königen
zugesprochen, insbesonders Andrianampoinimerina, und erhalten
damit fast einen göttlichen Aussagewert.
Jahrhundertelang
war die madagassische Literatur Lovantsofina, das Erbe der
Ohren. Dieser reiche Schatz an Sagen und Geschichten, Weisheiten
und Sprichwörtern wurde nicht aufgeschrieben. Einzig die in
arabischer Schrift geschriebenen Sorabe überlieferten Gedanken
in schriftlicher Form, allerdings sind diese Schriftstücke
weniger historisch exakte Wiedergaben von Ereignissen, sondern
beinhalten eher magische Formeln, Gebete und allenfalls
Genealogien. Der Grossteil der Bevölkerung jedoch gab ihre
Kenntnisse und ihre Stammbäume in oraler Tradition von
Generation zu Generation weiter.
Doch
mit den Missionaren gelangte im 19. Jahrhundert die Schrift nach
Imerina und damit auch die Kunst, orale Äusserungen zu
fixieren, historische Gegebenheiten zu Papier zu bringen und
auch eigene Gedanken der Nachwelt mitzuteilen. Der erste
Autor, dessen historisch wertvolles Werk erhalten blieb, war
Raombana. Er (1809 - 1855) hatte in England studiert und war später
Sekretär der Königin Ranavalona I. Auf 8000 Seiten
hielt er in englischer Sprache die Geschichte der Herrschaft der
Königin Ranavalona I, seine eigenen Beobachtungen und
kritischen Kommentare fest.
Die
ersten umfassenden Aufzeichnungen über Madagaskar stammten
allerdings von ausländischen Autoren: Flacourt im 17.
Jahrhundert und dann vor allem Rev. William Ellis, Sekretär
der London Missionary Society, der schon 1838 eine Geschichte
Madagaskars publiziert hatte, 15 Jahre bevor er selber Fuss auf
die Insel setzte. Dabei hatte er sich auf Berichte der
Missionare gestützt, die seit 1818 in Madagaskar tätig
waren.
Ein
grosses Verdienst um die Niederschrift oraler Traditionen kommt
Père Callet zu, der 1873 die Tantaran'ny Andriana (Die
Geschichte der Könige) aufgeschrieben hatte. In diesem
monumentalen Werk sammelte er alle Legenden der Merina-Könige
und ihres Volkes und schuf damit ein Dokument von unschätzbarem
Wert.
Mitte
des 19. Jahrhunderts gab es eine Art Inflation an Schriften.
Neben Raombana und Callet schrieben auch madagassische Autoren
eigene Texte, so etwa die religiösen Manuskripte von
Ramarosandratana um 1837/38, ein Wörterbuch von 1825 mit
dem hova-Vokabular von Prinzessin Ravao, madagassische Übersetzungen
von französischen Fabeln durch Père Rahidy, dem ersten
madagassischen Priester. Dann aber auch juristische Texte, wie
beispielsweise der 'code des 305 articles' von 1881. Der von
Galliéni 1896 exekutierte Pastor Rainandriamampandry
hinterliess ebenfalls geschichtliche Werke und Niederschriften
über die madagassische Sprache und Volkstradition.
Die
ersten poetischen Werke auf Madagassisch waren religiöse
Lieder und Psalme, inspiriert von der protestantischen Kirche.
Insbesonders nach der Öffnung Madagaskars unter Radama II
und seinen Nachfolgerinnen entstanden christliche Lieder, die ab
1870 in etlichen Sammelbänden erschienen.
Die
religiöse Ausrichtung nahm bald auch profanere Züge an: so
war eines der beliebtesten Liedergedichte eine Ode gegen den
Alkohol.
Viele
Texte wurden jedoch nicht publiziert, einige wurden später
gefunden und veröffentlicht, andere gingen vergessen, ohne
je einem grösseren Publikum vorgestellt zu werden.
Doch
vor dem 20. Jahrhundert entstand kein Roman. Der erste
publizierte Roman 'andraozikely' (An die kleine Rose) von
Alphonse Ravoajananary, erschien 1906 in einer Zeitung.
Der
Entwicklungsprozess einer eigenständigen madagassischen
Literatur wurde allerdings durch die koloniale Sprachpolitik,
die primär auf die französische Sprache ausgerichtet
war, unterbunden. Daher finden sich in der madagassischen
Sprache noch heute viele Begriffe und Fachworte in
malgaschisiertem Französisch. Diese Entlehnungen haben zur
negativ zu verstehenden Bezeichnung 'fralgache' (französisch-madagassisches
Gemisch) geführt.
Die
eigentliche madagassische Literatur in schriftlicher Form begann
erst im 20. Jahrhundert und blühte besonders in den 1930er
Jahren auf. Geburtshelfer dazu waren die Zeitungen. Alle
Zeitungen vor 1900 erschienen unter kirchlicher Leitung, ausser
der 'GAZETY MALAGASY', dem Organ der königlichen Herrscher.
Die Zeitungsseiten waren voll mit Texten aus der Bibel, dann
zunehmend auch mit christlich inspirierten Geschichten mit
moralischem Hintergrund zur Erbauung der Christengemeinde. So
hatte die berühmteste Zeitung 'TENY SOA' (gegründet 1866 durch
die L.M.S.) den Inhalt gleich zum Titel: 'gute Rede.' Diese
L.M.S.-Zeitung, die von 1866 bis 1952 existierte, publizierte
unzählige Geschichten, die meist von einem Menschen
handelten, der sich vom korrekten christlichen Weg abbringen
liess und eine exzessive Phase der Sünde durchlief, bevor er
kurz vor dem endgültigen Ruin wieder auf den Weg zurückfand -
oder arm, verbittert und einsam starb. Die Autoren dieser
erbaulichen Geschichten waren meist Pastoren oder Lehrer in
christlichen Schulen.
Zu
Ende der Merina-Monarchie existierten in Madagaskar um die zehn
Zeitungen. Von 1886 bis 1938 kamen 179 Zeitungstitel auf den
Markt, etliche gingen allerdings nach wenigen Nummern wieder
ein. Doch die Presse unterlag unter der Kolonialregierung einer
strikten Zensur, die von 1901 bis 1938 in Kraft war und erneut
von 1940 bis 1945 - seltsamerweise nur für die auf madagassisch
geschriebenen Texte, die 48 Stunden vor der Drucklegung der
Zensur vorgelegt werden mussten. Der Kampf gegen diese
restriktive Zensurmassnahme war eines der Hauptthemen der
madagassischen Nationalisten.
Trotz
der Erschwernisse und Risiken öffneten die Redaktoren ihre
Seiten den Schriftstellern und Intellektuellen und unterstützten
Talente mit Ratschlägen. Dadurch entstand eine erste Blüte
an Texten, deren Autoren noch unter der Merina-Monarchie geboren
waren und die alle auf madagassisch schrieben. Diese Poeten
werden heute die zokiny (die Älteren) genannt. Dazu gehörten
Ny Avana (1891-1940), Kodac Ramandiamanana und viele weitere. Für
die meisten, auch für Ny Avana, war es unmöglich, ihre
Werke in Buchform zu publizieren.
Die
Verhaftungen und Verbannungen von V.V.S.-Aktivisten (1915) liess
diese Blüte jäh absterben, die Mehrheit der Poeten wurde
verbannt, so Ny Avana auf die Komoren. Fünf Zeitungen wurden
von der Kolonialbehörde verboten.
1922
wurde eine Amnestie für die V.V.S.-Verurteilten erlassen. Die
zurückgekehrten Autoren machten sich enthusiastisch daran, die
literarische Szene neu zu beleben, gründeten Zeitungen,
publizierten Texte und leiteten jüngere Schriftsteller an. Doch
ihre Texte enthielten sich jeglichem politischen und
ideologischen Inhalt: die Autoren wandten sich 'dem Menschen'
zu, seinen physischen und psychischen Leiden. Ebenso besangen
sie eine unerfüllte Nostalgie (embona sy hanina) und huldigten
der Erde der Ahnen (tanindrazana). Die Texte und Gedichte der
1920er Jahre waren voll Enttäuschung und Pessimismus. Ein
Gedicht von Ny Avana hiess: 'ireo ora mangidy' (Augenblicke der
Bitternis). Und sie waren durchzogen von einer sehnlichen
Todeserwartung: 'miandry anao', ich erwarte dich, hiess ein Text
von Jasmina Ratsimiseta. Die Schreibenden konzentrierten sich
auf die verlorenen Werte (hitady ny very), auf ein von Schmerzen
und Leiden erfülltes Leben. Und gleichzeitig auf eine Rückbesinnung
auf das madagassische Erbe, auf die Reinheit der Sprache und auf
ihre poetische Beherrschung.
Diese
Grundstimmung wurde auch von den Jüngeren aufgenommen, jenen,
die ab 1900 und somit unter der Kolonialadministration geboren
wurden. Auch diese Zeilen waren gefüllt mit Todesgesang und
Herzensschmerz, Naturbeschreibungen und Wehmut. Unter diesen jüngeren
Poeten befand sich auch Jean-Joseph Rabearivelo, der in dieser
Tristesse eine Meisterschaft erlang: sogar sein Selbstmord kann
als letzte poetische Geste gesehen werden, die Tat als Weiterführung
der Worte. Andere gingen zwar nicht soweit, aber auch sie
begehrten den Tod als Befreier: 'valiha simba' (zerbrochene
Valiha) hiess ein Gedicht von Rafanoharana, und damit gab er
sich poetisch dem Tode hin.
Diese
zandriny (die Jungen) hatten französische Schulen besucht,
waren somit zweisprachig und schrieben in beiden Sprachen, während
die älteren - so auch Ny Avana - durchgehend auf
madagassisch geschrieben hatten. Daher liessen sich die Jungen
auch von der französischen Literatur inspirieren und fanden
in der Romantik eine sinnesverwandte Dichtung. Die älteren
waren noch eher von den englischen Missionaren und der
britischen Kultur beeinflusst, die jüngeren entfremdeten sich
durch die französische Schulbildung zusehends von der
britischen Tradition.
Gleichzeitig
zu dieser Öffnung nach aussen hin wandten sie sich
ebenfalls den alten Zeiten zu und studierten intensiv die
madagassische Sprache. Linguistische Diskussionen füllten die
Zeitungsseiten, ebenso wie Analysen über alte Gedichte und
Sprichwörter. So wurden auch europäische Dichter übersetzt,
um zu zeigen, dass die madagassische Sprache mit gleicher
Wortgewalt gleiche Schwingungen auslösen konnte wie andere
Sprachen.
1931
erschien mit ny FANDROSOAM-BAOVAO (der neue Fortschritt) die
erste Zeitung, die sich ausschliesslich mit Literatur und Kunst
beschäftigte. Derartige Initiativen hatte es schon vorher
gegeben (beispielsweise 1923 mit der Zeitschrift 18° LATITUDE
SUD) und gab es auch nach dem Eingehen der inzwischen
politisierten FANDROSOAM-BAOVAO 1959 immer wieder.
1932
wurde ein erster Literaturpreis vergeben. Romane entstanden,
viele waren Beschreibungen des fihavanana (Harmonie) der
madagassischen Gesellschaft, etliche spielten sich in einer
romantisierten Merina-Monarchie ab.
In
den 1930er Jahren kamen auch die bokim-draimbilanja (Werke für
vier Münzen) auf den Markt, was den Dreigroschen-Erzeugnissen
entsprach. Diese romanhaften Erzählungen mit seichtem
Inhalt können kaum zur Literatur gezählt werden,
fanden aber ein lesehungriges Publikum.
Erst
in den 1930er Jahren wurden die Publikationen wieder politischer
und die Ideen radikaler. Der Lehrer und Politiker Ralaimongo
hatte die freie Meinungsäusserung auch für die
madagassischen Texte gefordert und ab 1934 publizierte er
politische Artikel, ohne sie vorgängig der Zensur
vorzulegen. Erst 1937 wurde die Pressezensur aufgehoben.
Die
typischen Autoren der Zwischenkriegszeit publizierten in
madagassisch und auf französisch und übersetzten europäische
Dichter auf madagassisch. In die eigenen Texte waren Weisheiten
aus der Bibel, Sprichwörter und hain-teny eingeflochten.
Zu
dieser Zeit (1932) entstand mit 'die unbekannte Schwester' auch
der erste madagassische Roman, der auf französisch
geschrieben war.
Der
bekannteste und bislang als grösster madagassischer Autor
gefeierte Vertreter dieser Epoche ist Jean-Joseph Rabearivelo.
Er wurde wahrscheinlich 1903 als Sohn einer noblen, aber
verarmten Familie in Antananarivo geboren und arbeitete als
Sekretär, Zeichner, Bibliothekar und Korrektor. Der junge
Rabearivelo war schwermütig, melancholisch, dunkel, leidend und
schied 1937 freiwillig aus dem Leben. Er gilt schlechthin als
der Poet des Todes.
Er
schrieb auf madagassisch und auf französisch und vor allem
Gedichte. Die Bewegung mitady ny very (auf der Suche des
Verlorenen) unter Ny Avana gab ihm ein Stück Heimat. Und so
schrieb er Gedichte voll Heimatbeschreibungen, mythischer
Vergangenheitsbesingung und durchzogen von einer unstillbaren
Melancholie. Seine Inspiration entnahm er der tanindrazana
(Vaterland; Erde der Ahnen): mit grosser Inbrunst beschrieb er
Blumen und Bäume, Berge und Flüsse, aber ebenso Gräber,
Tod, Nacht und Schatten. Damit schuf Rabearivelo eine eigene
Version der malgachitude, die wie die négritude Afrikas, eine Rückkehr
war zu den Quellen der Tradition, der Heimaterde und der alten
Volksweisheiten und Legenden.
Trotz
der Hinwendung zu Ahnen und heimatlicher Erde liess sich
Rabearivelo auch von fremden - französischen - Autoren
inspirieren, insbesonders von Baudelaire. Er sprach ebensogut
französisch wie madagassisch, beide Sprachen waren für ihn
Vehikel für Ideen und Gefühle, doch für ihn sprach die eine
'zur Seele', die andere 'zum Herzen'. Trotzdem bevorzugte er die
französische Sprache. Sein sehnlicher Wunsch, Frankreich zu
besuchen und auch dort als Kulturschaffender anerkannt zu
werden, erfüllte sich nicht. Der verheiratete Rabearivelo,
Vater von fünf Kindern, scheiterte an seiner madagassisch-französischen
Doppelwelt und den Sehnsüchten seines Poetenherzens. Die
Anerkennung als einer der bedeutendsten Poeten des Landes kam
erst Jahrzehnte nach seinem Tod. Seine in etlichen Zeitungen und
Zeitschriften publizierten Gedichte wurden sehr viel später
unter viel Mühe ausgegraben, einige ruhen wohl noch immer
vergessen in längst vergilbten Zeitschriften.
Rabearivelo
nahm auch die alte orale Literaturform der hain-teny auf, die
vor allem in Merinaland gepflegt wurde und noch wird, ebenso wie
der Poet Flavien Ranaivo.
Der
aus einer aristokratischen Merina-Familie stammende Flavien
Ranaivo, 1914 geboren und in traditionellem Umfeld in der Nähe
von Antananarivo aufgewachsen, studierte Archäologie, wurde
madagassischer Repräsentant der UNESCO, schliesslich
Direktor im Informationsservice während der Ersten Republik
und wählte das freiwillige Exil in Frankreich nach 1972. Er
war wohl der vielfältigste der madagassischen
Schriftsteller: er schrieb Gedichte, lieferte Beiträge über
die madagassische Literatur und verfasste archäologische
Studien. Seine Gedichte (vor allem die Sammlung 'Der Schatten
und der Wind') lehnen sich stark an die hain-teny der
madagassischen Volkstradition an, zuweilen sind sie gar wörtliche
Übersetzungen. Daher wird ihm auch vorgeworfen, die
Volkstradition nur zu kopieren und eigentlich bloss ein
eloquenter Übersetzer von madagassischen Originalen in die
französische Sprache zu sein.
Während
sich Rabearivelo in melancholischem Herzensschmerz ergoss und
Ranaivo wortgetreu übersetzte, schrie der kämpferische
Rabemananjara seinen Weltschmerz hinaus.
Jacques-Félicien
Rabemananjara, 1913 in Maroantsetra als Sohn eines
Merina-Landbesitzers und einer Betsimisaraka-Adeligen geboren
und Schüler der Jesuiten in Antananarivo, war in der
Administration tätig, während des Zweiten Weltkrieges
hielt er sich in Frankreich auf und kam politisiert zurück und
war 1946 einer der Gründer und Generalsekretär der
politischen Organisation MDRM. Als Dichter gab er der
madagassischen Literatur einen neuen Impuls durch eine politisch
engagierte Literatur. Er schrieb vor allem Gedichte, in denen er
die Üppigkeit, die Farben und Formen seiner tropischen
Heimat besang. Er verfasste auch politisch-patriotische
Gedichte, dichtete gegen die kolonialen Ungerechtigkeiten an,
schrieb für ein madagassisches Bewusstsein und für eine
selbstbewusste malgachitude in Anlehnung an die négritude von
Senghor.
Doch
Rabemananjara begnügte sich nicht mit poetischem Zeilenschaum,
er war politisch stark engagiert und wurde als einer der
Organisatoren des Aufstandes von 1947 angeklagt und zum Tode
verurteilt. Sein berühmtes Gedicht 'antsa' (Loblied auf Gott)
schrieb er 1948 im Gefängnis von Antananarivo in Kenntnis
der baldigen Hinrichtung. Im letzten Moment wurde er allerdings
begnadigt und zu Schwerarbeit auf die Strafinsel Nosy Lava
verbannt, dann bis 1960 aus politischen Gründen nach Frankreich
in ein Gefängnis bei Marseille geschafft. Erst 1956 wurde
er entlassen, jedoch unter Überwachung gestellt. Doch sein
langes Gedicht 'antsa' blieb als Schrei erhalten.
In
der Ersten Republik hielt er verschiedene Ministerposten und
galt als designierter Nachfolger von Präsident Tsiranana.
Mit dem Fall der Ersten Republik 1972 ging er ins freiwillige
Exil und blieb dort. In der Folge schrieb er vornehmlich auf
französisch: Gedichte, auch Theaterstücke und Tragödien.
Von Frankreich aus lancierte er poetische Attacken gegen das
Ratsiraka-Regime, erreichte aber seine bitternackte Wortgewalt
von 'antsa' und weiteren Gefängnisgedichten nicht mehr.
Rabemananjara wurde Mitarbeiter der einflussreichen Zeitschrift
PRESENCE AFRICAINE, die ab 1947 in Paris erschien und sich
schnell als Sprachrohr der schwarzen Welt durchsetzte.
Rabemananjara kam 1992 in seine Heimat zurück und liess sich
als Präsidentschaftskandidat aufstellen. Mehr als ein paar
honorable Prozente konnte er jedoch nicht auf sich vereinen.
Rabearivelo,
Ranaivo und Rabemananjara gelten als die Symbolfiguren der
malgachitude. Sie wurden vom Senegalesen Léopold Sédar Senghor,
der in den 1930er Jahren die Bewegung der négritude weitgehend
beeinflusste, als die drei einzigen madagassischen Dichter in
seine 1948 erschienenen, wegweisenden 'Anthologie de la nouvelle
poésie nègre et malgache de langue française' aufgenommen.
Natürlich
produzierten zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1947 eine
Vielzahl weiterer Poeten literarische Werke, meist Gedichte, die
sich um die Insel drehen, ihre Hügel und Blumen, Dörfer
und Bewohner und ihre Hauptstadt, die in der Mitte thront. Dann
aber auch Poesien, die eine verklärte Vergangenheit
aufleben lassen, eine mythische Quelle der Kraft suchen und die
Erde der Toten auferstehen lassen. Etliche Dichter schrieben
ausschliesslich in ihrer Muttersprache und erreichten - wenn überhaupt
- nur geringe Auflagen und somit ein weit kleineres Publikum,
was allerdings nichts über die Qualität ihrer Arbeiten
aussagt. Dazu gehört Jean Verdi Salomon Razakandrainy (1913
- 1978), der unter dem Pseudonym Dox Gedichte und Theaterstücke
verfasste. Auch seine Texte sind durchwoben von Traurigkeit,
Schwermut und Tod.
Eine
Vielzahl an europäischen Schriftstellern beschäftigte
sich seit hundert Jahren und mehr mit der exotischen Insel im
Indischen Ozean. Zum Teil erstellten sie eher profane Berichte
im Stil von tagebuchartigen Reisebeschreibungen, wie sie Ida
Pfeiffer und viele mehr hinterliessen. Andere schrieben Romane,
die einen Hauch des Edlen Wilden vermitteln, gewürzt mit etwas
Erotik und viel Idylle. Oder aber historische Romane über die
Colons, über die Könige des 19. Jahrhunderts oder über
das Leben der Piraten. Etliche dieser Werke lassen sich mühelos
ins überhebliche Gedankengut der Kolonialisten einreihen. So
schrieb ein deutscher Autor 1930: 'Bei diesem geschichtslosen
Volk hat der Augenblick Ewigkeit.'
Die
ideologisch überschatteten Jahre der Zweiten Republik liessen
das kreative Schaffen der Madagassen zwar nicht ersterben,
behinderten es aber zusehends. Insbesonders die Veröffentlichungsmöglichkeiten
nahmen ab. Zwischen 1975 und 1991 wurden nur 36 bekannte Werke
geschaffen, wobei bloss 7 veröffentlicht wurden. Wieviele
weitere noch in Truhen und Schubladen ruhen, ist nicht abschätzbar.
Zuweilen nehmen sich allerdings Studenten die Mühe, über die
unveröffentlichten Autoren Arbeiten zu schreiben und so die
unter dem Schemmel stehende Literatur doch etwas anzuleuchten.
In
Madagaskar beträgt die durchschnittliche Auflage eines
Werkes 1500 Exemplare. Manchmal schafft es ein Autor, oft zu
eigenen Kosten, sein Werk - in der Mehrheit Gedichte - zu
publizieren. Gedichte bleiben die bevorzugte Stilrichtung der
madagassischen Poeten, Romane werden nur selten geschrieben.
Sogar Rabearivelo hatte nur zwei historische Romane über die
Merina-Monarchie geschrieben.
Nebst
der Poesie erfreut sich an zweiter Stelle die Kurzgeschichte an
Beliebtheit. Diese Texte nehmen auch aktuellen Bezug auf die
Degradierung der Lebenswelt in den Städten, die Auflösung
der Familienstrukturen und die Verelendung der Bevölkerung.
Die Geschichten werden manchmal in Zeitungen veröffentlicht,
aber kaum in Sammelbänden vereint und nur sehr selten in
Anthologien aufgenommen. Und kaum im Ausland veröffentlicht.
Einer der wenigen in Frankreich und in Deutschland erschienenen
Romane der jüngeren Zeit ist 'dadabe', eher eine längere
Kurzgeschichte, 1984 von Michèle Rakotoson geschrieben, zu dem
sich 1988 'le bain des reliques' gesellte.
Die
heutige madagassische Literatur wird mehrheitlich von Frauen
dominiert, insbesonders von Michèle Rakotoson, Esther Nirina
und Charlotte Rafenomanjato, die alle auf französisch
schreiben. Während die ersten beiden in Frankreich leben, hält
sich die Autorin des 'oiseau de proie', Charlotte Rafenomanjato,
in Madagaskar auf.
Viele
der bekannteren heutigen Autoren schreiben zweisprachig: auf
französisch auch, um auf der internationalen Szene mitreden
zu können. Etliche der Autoren leben oder lebten im
Ausland, so Michèle Rakotoson, die 1983 nach Frankreich ging,
Journalistin wurde und ein internationales Publikum erworben
hat. Ihr Stück 'la maison morte' wurde auch in
Kontinentalafrika (Gabon, Benin) und in Frankreich aufgeführt,
'un jour, ma mémoire' in New York.
In
den frühen 1990er Jahren öffnete sich die Literaturszene
etwas, so fand unter anderem im März 1991 ein Kolloquium
der madagassischen Literatur statt. Anwesend waren nebst Michèle
Rakotoson und Charlotte Rafenomanjato auch der grosse alte Mann
der madagassischen Literatur: Flavien Ranaivo.
Doch
die Schwierigkeiten der 1970er und 80er Jahre warfen lähmende
Schatten auf die Produktivität der madagassischen
Schriftsteller. Zudem wurde durch die malgachisation des
Schulunterrichts die Beherrschung der französischen Sprache
für eine ganze Generation verschüttet. Die madagassisch
schreibenden Schriftsteller sind oft ohne Hoffnung auf einen
Verlag, ein Publikum und internationale Anerkennung. Nur ganz
wenige Texte sind auf deutsch übersetzt.
Die
moderne madagassische Literatur muss zum grossen Teil ohne Bücher
und ohne Leser leben. Kaum ein Autor kann von seiner Arbeit
leben. Viele schreiben schnelle Geschichten, die als Hörspiele
am Radio aufgeführt werden und sehr populär sind. Eine
Untersuchung ergab, dass das breite Publikum schlichtweg nicht
liest. Dies hängt mit der schwachen Schulbildung zusammen,
aber auch mit dem schweren Zugang zu Lesestoff, insbesonders in
den ruralen Gebieten. Und wenn gelesen wird, dann Comics und
Krimis.
Zwar
gibt es auch heute noch um die 50 Druckereien, etliche davon
unter konfessioneller Leitung. Fianarantsoa galt früher als
Hauptstadt der Literatur, unter anderem auch, weil dort Verlage
beheimatet sind. Trotzdem kann man die literarischen Werke, die
pro Jahr neu auf dem Markt erscheinen, an einer Hand abzählen,
denn auch die einheimische Produktion von Büchern ist teuer:
der Leser kann es sich schlicht nicht leisten, ein Buch zu
kaufen. Autorenförderung und Druckkostenzuschüsse sind so
gut wie unbekannt.
Importierte
Taschenbücher kosten schnell mal einen Fünftel eines
durchschnittlichen Monatslohns. So gehen die wenigen Bücher
durch viele Hände, werden auf der Strasse wieder verkauft
und gekauft. Bibliotheken werden stark besucht, insbesonders von
Schülern und Studenten. Doch ihr Angebot ist vergleichsweise
bescheiden: die Bibliothèque Nationale hat weniger als
200’000 Bücher und im ganzen Land gibt es nur 65 staatliche Büchereien.
Dazu kommen noch Bibliotheken unter kirchlicher Leitung oder geführt
von ausländischen Kulturinstituten wie dem Goethe Institut,
dem Centre Albert Camus und dem American Cultural Centre. Von
diesen nur in der Hauptstadt aktiven Instituten unterscheidet
sich die Alliance Française, die in etlichen Städten des
Landes Zweigstellen und kleine Bibliotheken unterhält.
Diese Zentren spielen eine eminente Rolle im Kulturleben: als
Wissensvermittler, Kulturveranstalter und gelegentliche
Buchproduzenten. Und als Sprachinstitute: in Antananarivo lernen
um die 7000 Leute die deutsche Sprache.
Eine
Zwitterform der Literatur bilden die Comics, die in Madagaskar
sehr verbreitet sind. Die oft gehaltlosen Geschichten werden von
Hand zu Hand gereicht und begierig gelesen. Zuweilen aber
erheben sich Autoren oder auch die Zeichner über das tiefe
Mittelmass hinaus und schaffen Produkte von ergreifender Qualität.
Die
Literaturform der Comics - auf madagassisch tantara an-tsary
(Bilderzählung) genannt - hat sich zur Literatur des armen
Mannes entwickelt. Als eine Urform der madagassischen Comics können
die Grabstelen der Mahafaly angesehen werden, die in
geschnitzter Form das Leben des Verstorbenen erzählen. Die
erste Comics-Geschichte erschien 1961 und hatte einen
historischen Inhalt. Heute existieren über zwei Dutzend
Kleinverlage, die unzählige Titel in Reihen herausgeben,
und die auch Krimis und Western einschliessen. Die etwa 60
schwarz-weiss Seiten umfassenden und mit einem farbigen Umschlag
versehenen Hefte werden in durchschnittlich 3000 Exemplaren von
der Grösse eines Taschenbuches gedruckt.
Nebst
diesen eher seichten Bildergeschichten gibt es Comics mit pädagogischem
Ziel, so die Geschwister Tefy und Tiana, die 1984 entstanden und
sich um Probleme im familiären Bereich drehen. Die
Geschichte von Rabezizo und Rabetsara entstand als
Demonstrationsbeispiel für Erosionsschutz: Rabezizo holzt ab,
pflegt sein Land nicht und verarmt, Rabetsara hingegen handelt,
wie die Entwicklungshelfer es ihn lehren und prosperiert. WWF
ging den gleichen Weg mit einer Ausgabe der Zeitschrift Panda,
erstellt von vier madagassischen Zeichnern, die Bildgeschichten
über Biodiversität und Naturschutz erzählen.
Seit
Jahren publizierten die Zeitungen Strichzeichnungen, oft mit
satirischem Inhalt. Fast jede Zeitung hat ihren Karikaturisten,
so der herausstechende Aimé Razafy in der Madagascar TRIBUNE,
dessen triefende Striche während den Problemjahren 1991/92
oft mehr aussagten, als ellenlange Texte. In der Tageszeitung
MIDI zeichnet Alban Ratsivalaka die Lage der Nation mit
treffenden Strichen.
In
der Zwischenkriegszeit wurden die ersten Theatervorführungen
produziert, die heute als das klassische madagassische Theater
bezeichnet werden. (Theatervorführungen hatte es zwar schon
unter den Merina-Monarchie gegeben, doch waren diese elitären
Spiele ausschliesslich der Aristokratie vorbehalten. Ebenso wie
das erste Stadttheater, das am 14. September 1899 seine Pforten
öffnete.)
Diese
ab 1922 kreierten Theaterstücke beinhalten immer rund 20 Gesänge,
somit lässt sich das madagassische Theater am ehesten mit
einer Operette vergleichen. Diese Lieder sind die eigentliche
Attraktion des Theaters, die dramatische Handlung in meist drei
Akten, oft mit einem belehrenden moralischen Unterton, ist
eigentlich sekundär.
Denn
in der madagassischen Sprache 'geht man nicht ins Theater',
sondern 'betrachtet das Theater' (mijery teatra): was sich
bewegt an Formen und Farben, an Bewegungen und Tanz ist wichtig,
der Inhalt ist von zweitrangiger Bedeutung.
Heute
noch leben die zwei Arten von Theater fort: das spontane
Volkstheater, das sich auf die hain-teny stützt und
Sprechgesang, Tanz und Dramaturgie vereint. Und das 'europäische
Theater', das allerdings noch einen sehr kolonialen Anstrich
beibehalten hat, wenn auch oft Stücke mit historischem
Hintergrund aufgeführt werden und darin die Helden von früher
wieder aufleben.
Diese
Art von Theater ist jedoch eher intellektuell, wie auch die
Werktheater und Improvisationstheater nur einem kleinen Kreis
bekannt sind. Viele Theaterstücke haben einen erzieherischen
Zweck, wie das Umweltstück der Gruppe Johary, die 1990 mit
diesem surrealistisch inszenierten Stück über geplagte Bäumen
einen beachtlichen Erfolg erzielte. Solche Erfolge mit
nachfolgenden Aufführungen in den Städten der Provinzen
sind allerdings selten. Die Stückeschreiber beklagten sich darüber
an der Literaturtagung im März 1991. Die aktiven
Theaterautoren Charlotte Rafenomanjato, Josette Rakotondradany
und Suzanne Ravoaja pflegen einen klassischen Stil. David
Jaomanoro und Michèle Rakotoson hingegen schreiben eher
provokativ. Die Autoren Jaomanoro, Raharimanana, Rakotoson und
Randrianierenana beschreiben in ihren Werken die Misstände
der heutigen Gesellschaft.
Als
neue Form des Sprechtheaters können die Hörspiele
gerechnet werden, die im madagassischen Radio regelmässig
gesendet werden.
Der
Film spielt eine geringe Rolle im madagassischen Kulturleben.
Zwar entstand schon 1956 ein erster Langspielfilm (Itoerambolafotsy),
doch erst Benoît Ramampy schuf 1972 mit 'accident' den ersten
qualitativ akzeptablen Film. Von internationalem Standard ist
der Film 'dabadaba' von Raymond Rajaonarivelo und Robert Archer,
der die Ereignisse von 1947 sehr feinfühlig filmpoetisch
umsetzt, ohne in einen kategorischen Antikolonialismus
abzudriften.
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