Was
kostet die Ignoranz?
Vor einigen Jahren fiel
mir ein Kleber an einem englischen Auto auf. Ich fuhr dem Wagen so
lange nach, bis wir beide vor einem Rotlicht warten mussten, ich
Agenda und Schreibzeug zur Hand hatte und die Worte abschreiben
konnte.
Seither hängt dieser
Spruch über meinem Schreibtisch."If you think education is too
expensive, try ignorance", was frei übersetzt etwa so tönt: "Wenn
du denkst, dass Bildung zu teuer sei, finde heraus, was uns
Unwissenheit kostet."
Ja, die Bildung hat
ihren Preis. Auch in schwierigen Zeiten sind die meisten von uns
bereit, in die Zukunft, in die Ausbildung unserer Jugend zu
investieren. Unsere Schulen geniessen auch international einen
vorzüglichen Ruf und wir zahlen trotz verschiedenen Sparübungen
unsern Lehrern und Lehrerinnen ein gutes Salär, was wiederum auf
den hohen Stellenwert der Bildung in unserer Gesellschaft
schliessen lässt.
Was nützt uns aber die (Aus)bildung,
wenn wir nicht mehr sicher sind, ob wir sie je in einem Beruf,
einer Erwerbsarbeit einsetzen können? Durchschnittliche Bildung
genügt nicht mehr. Wir müssen nicht nur den Nachbarländern,
sondern wenn möglich allen andern Ländern um eine Nasenlänge
voraus sein; wir müssen konkurrenzfähig sein oder werden. Das
sagen uns wenigstens die Auguren, die die ganze Welt wie ein Dorf
betrachten, in dem jeder und jede um einen Platz an der Sonne
kämpft.
Letzte Woche, als ich
mit einem jungen Jurastudenten im ersten Semester diskutierte,
sind mir aber plötzlich Zweifel an dieser Theorie gekommen. Seine
Argumentation war gewandt, er konnte sich gut ausdrücken und
machte einen sehr intelligenten Eindruck.
Der junge Mann sagte,
dass man alle Steuern abschaffen sollte. Auf meinen Hinweis, dass
sein Studium nur durch Steuergelder finanziert werden könnte,
forderte er, dass die "Steuerdiktatur" durch freiwillige Abgaben
ersetzt werden müssten und dass es eine Ungeheuerlichkeit sei,
dass wohlhabende Leute so viel mehr abgeben müssten als andere.
Als ich dann von Solidarität zwischen den Mehr- und den
Wenigerhabenden sprach, von der Gesellschft als einer grossen
Gruppe, war ich total falsch am Platz. Die Gesellschaft sei "Scheisse"
und er wolle nicht dazu gehören, er selber sei sich genug.
Dieser junge Mensch
wird, sofern er sein Studium beendet, einmal zur "Elite unseres
Landes" gehören. Und seine Bildung? Er wird sie schwarz auf weiss
vor seinem Namen plazieren: lic.iur. oder Dr. iur. Diese Titel
werden die Gesellschaft, die er kategorisch verneint, viel
gekostet haben. Ob es das alles wert war?
Es gibt eben auch noch
eine andere Bildung, die des Herzens. Sie kostet nichts und es
braucht keine Uni, um sie sich anzueignen. Es braucht Offenheit,
die Fähigkeit sich in andere hineinzufühlen, eine gewisse
Betroffenheit. Ohne diese Bildung werden wir blind jedem
Fortschritt glauben und nicht bemerken, dass die soziale Kluft in
unserm Land immer tiefer zu werden droht. Was nützen uns
brilliante Plädoyers von Anwälten und Politikern, wenn Ethik und
Moral fehlen, wenn die Solidarität nicht gross geschrieben wird?
Auch dies ist eine "Ignoranz", die uns sehr viel kosten kann.
Dem jungen Studenten
aber wünsche ich, dass er den Weg zur Gesellschaft doch noch
einmal finden wird.
2. November 1997