Partei ergreifen
Luzern, neues Kultur- und Kongresszentrum:
"Europa Forum".
Die Vertreter der Bundesratsparteien
diskutieren zusammen mit dem österreichischen Aussenminister die Vor- und
Nachteile eines EU Beitritts der Schweiz. Der "grosse B." bringt unsere
Neutralität ins Gespräch und betont, dass bei einer Zugehörigkeit zur
europäischen Staatengemeinschaft diese nicht mehr gewährleistet wäre, man
sähe die Probleme mit der NATO im Balkankrieg etc.
Einige Stunden später beim Nachtessen.
Der österreichische Aussenminister Wolfgang Schüssel kommt in seiner
Tischrede wieder auf die Neutralität zu sprechen: "Wem gegenüber wollen
wir neutral sein, meine Damen und Herren, dem Herrn Milosevic oder den
vergewaltigten Frauen?" Das hat eingeschlagen! Das hat mich tief
betroffen! Selten noch hat ein einfacher Satz mir so bildhaft gezeigt, wie
weit die Realität von sogenannten Prinzipien entfernt sein kann.
Kann man überhaupt in irgend einer Frage
neutral sein? Oder heisst neutral sein viel mehr, sich nicht entscheiden
zu können oder müssen, kein Risiko einzugehen, keine Stellung zu beziehen?
"Mischt euch nicht in fremde Händel", hat
Bruder Klaus schon vor über 500 Jahren verkündet. Das mag richtig sein,
wenn beide Parteien in diesem Händel etwa gleich stark sind und es um eine
faire Auseinandersetzung geht. Doch was ist zu tun, wenn ein Starker sich
an einem Schwachen misst? Haben wir nicht da die Pflicht uns einzumischen,
Partei zu ergreifen?
Das wurde mir in den Siebziger Jahren in
England klipp und klar gesagt. Als junge Schweizerin sprach ich stolz von
unserer Neutralität. Ein älterer Bekannter fragte:" Wie glaubst du, würde
Europa heute aussehen, wenn alle sich Hitler gegenüber als neutral erklärt
hätten? Wozu sind unsere Soldaten gefallen, unsere Städte zerstört
worden?"
Das gab mir zu denken.
Und jetzt der Satz von Wolfgang Schüssel:
"Wem gegenüber wollen wir neutral sein?"
Will ich, für mich persönlich, überhaupt neutral sein?
Ist meine eigene Meinung so unwichtig, dass für mich behalte und nicht
darnach handle?
Es beginnt im Bus oder Zug. Wenn meine
Mitreisenden über Ausländer oder andere Personengruppen herziehen, sie
alle in denselben Topf werfen und verunglimpfen und ich dabei still
bleibe, bin ich zwar neutral, oder einfach ein bisschen feige? Wenn ich
bei Auseinandersetzungen vielleicht am Arbeitsplatz oder in der
Nachbarschaft keine Stellung beziehe bin ich zwar neutral, verweigere
vielleicht aber gleichzeitig einem Schwächeren Unterstützung und Hilfe.
Neutralität hat auch etwas mit Distanz zu
tun. Wenn ich mich nicht einmische, mache ich mir die Hände nicht
schmutzig, ich werde nicht unbeliebt. Ich bin ja nicht involviert.
Manchmal kommen mir solche Gedanken, wenn ich zwar Geld für die
Kosovoflüchtlinge spende, aber sonst meinem gewohnten Alltag nachgehe.
Auch wenn ich noch wollte, habe ich kein Recht, Vertriebene bei mir zu
Hause aufnehmen. Wie kann ich also Partei für sie ergreifen? Viele Kosovo
Albaner, die in unserm Land wohnen, nehmen in ihre meistens schon
bescheidenen Wohnungen geflohene Familienmitglieder auf. Sie bräuchten
dringend mehr Platz. Wie wäre es, wenn wir ihnen helfen würden, mehr
Wohnraum zu finden? Wahrscheinlich müssten wir unter unsern Freunden auch
sammeln, um eine Zinsdifferenz berappen zu können.
Vielleicht bin ich ein Phantast. Doch
möchte auch ich ein klein wenig dazu beitragen, dass die Welt besser wird.
Darum möchte ich nicht neutral sein.
29. April 1999