Ein Kollege erzählte mir einmal, dass
er einen gemeinsamen Bekannten telefonisch gesucht hätte. Da
dieser nicht im Büro anzutreffen war, wählte er seine Natelnummer.
Der Gesuchte antwortete vom Spitalzimmer, in dem nur fünf Minuten
vorher seine Frau gestorben war. Wir waren schockiert. Ist das die
totale Erreichbarkeit?
Bereits ist es für uns Alltag
geworden: Im Zug, im Bus oder im Restaurant klingelt es rund um
uns herum und, als ob es ein Gesetz wäre, erheben die Angerufenen
ihre Stimme und wir werden zum Mithörer oder sogar zum Mitwisser.
Einmal, als ich im Zug von Zürich nach
Bern sass, telefonierte mein amerikanischer Nachbar
ununterbrochen. Wie ich aus den Gesprächen vernahm, war er auf
einer Ferienreise mit seiner Frau. Die aber hatte nichts von ihm,
sass stumm da und las. Kurz vor Bern konnte ich mich nicht mehr
zurückhalten und fragte, ob er es nicht für riskant halte, vor mir
ein geschäftliches Gespräch nach dem andern zu führen. Der Mann
schaute mich mit erstaunten Augen an und sagte, dass er keine
Geheimnisse verplaudert hätte. Er verstand meine Bedenken nicht.
Erreichbarkeit ist zu einer Art Kult
geworden. Wer etwas auf sich hält, trägt ein Handy in der Tasche
oder lässt es von seinem Gürtel baumeln. Diese können von grossem
Nutzen sein, und ich möchte sie keinesfalls verdammen. Aber müssen
diese Kommunikationsmaschinen wirklich immer eingeschaltet sein?
Oft fühle ich mich als eine Art „Voyeur“. Ich höre Gesprächen zu,
die mich wirklich nichts angehen, die intim und nicht für meine
Ohren bestimmt sind. Es ist, wie wenn ich bei diesen Personen
ungeniert zum Fenster hereingucken würde. Eine gewisse Distanz und
auch der Respekt vor der Privatsphäre des andern gehen verloren.
Wann sind wir aber wirklich
erreichbar? Genügt dazu ein Handy? Als meine Tochter zur Schule
ging, erzählte sie mir immer bis ins kleinste Detail, was wann und
wie passiert war. Doch ab und zu hielt sie inne, schaute mich an
und sagte vorwurfsvoll: “ Du hörst mir ja gar nicht zu!“ Ich war
für sie nicht erreichbar, obwohl ich neben ihr stand. Das
beschämte mich, denn sie hatte jedesmal recht. Ich war zwar da,
aber meine Gedanken waren irgendwo anders.
Wäre es nicht besser für uns, weniger
oft, dafür ganz erreichbar zu sein, erreichbar mit allen Gefühlen
und unserm ganzen Wesen? Wie erreichbar war mein Bekannter für
seine Frau kurz vor ihrem Tod? Wie erreichbar werden unsere neu
gewählten Parlamentarier für uns sein? Werden sie auf unsere
Gespräche und Bitten eingehen oder werden sie an anderem
herumstudieren, währenddem wir mit ihnen sprechen?
Die dunkle, stille Jahreszeit steht
vor der Tür. Nehmen wir uns wieder mehr Zeit für unser Gegenüber,
um ganz da zu sein, ihm nicht nur zuzuhören sondern auch
mitzudenken und mitzufühlen. Bleiben wir erreichbar!
19. Oktober 1999