Macht

In Thalwil steht der Zug still. Ich habe mit meinem Mann um viertel nach sechs in Zürich abgemacht, von wo aus wir zu einem gemeinsamen Termin um sieben fahren wollen. Eine Fahrleitungsstörung, ca. 10 Minuten Verspätung, wird uns mitgeteilt. Aber der Zug macht  auch viel später keine Anstalten, weiter zu fahren. Das grosse Telefonieren beginnt. Ich habe mein Handy zu Hause gelassen. Zwei junge Männer sitzen mir gegenüber und teilen jemandem mit, dass sie später ankommen werden. Ich muss meinem Mann sagen, dass er nicht auf mich warte solle, und dass ich nachkommen würde. Nach 35 Minuten spreche ich einen der Männer im Abteil an und frage, ob ich kurz sein Natel borgen könne. Wohin und wozu ich telefonieren wolle? Ich hätte dasselbe Problem wie er, erkläre ich, jemand warte auf mich. „Nein“, antwortet er kurz und bündig.
Ich bin perplex. Der Mann ist der stärkere, er hat das Handy, er hat die Macht. Er spielt sie aus und ich bleibe „ohnmächtig“. (Eine Frau in einem andern Abteil hat das Gespräch überhört und bietet mir  ihr Telefon an. Auch sie hat Macht.)

In Oberwil steht ein Altersheim. Es gehört der Bürgergemeinde der Stadt Zug. Vor über zwanzig Jahren wird ein neues Heimleiterpaar eingestellt. Scheinbar hat es seine Arbeit von Anfang an gut gemacht, denn sonst müsste ein besonnener Arbeitgeber sie schon bald im Interesse der Pensionäre wieder weggeschickt haben. Die beiden führen das Heim wie eine Familie und nie hört man ein schlechtes Wort über sie. Doch dann kommt alles anders. Mit einer neuen Verantwortlichen für das Heim im Bürgerrat wird alles auf den Kopf gestellt. Der Frau wird z.B. die Kompetenz abgesprochen, Personal zu führen, wegen fehlender „Papiere“. Aus dem motivierten Heimleiter wird ein kranker Heimleiter, dem der Bürgerrat den Abgang nahe legt. Es herrscht Trauer und Zukunftsangst. Ein gutes Dutzend Leserbriefschreiber, unter ihnen die Pfarrherren beider Konfessionen, setzen sich für das Paar ein.  Über 300 Unterschriften werden gesammelt.
Die Solidaritätskampagne sei Lug und Trug und komme von  „links“, sagt der Bürgerrat und reagiert nicht darauf. Er kann das. Er hat die Macht.

Die israelischen Siedlungen im Palästinensergebiet werden rasant ausgebaut, der Boden dafür den Bauern weggenommen. Das Gesetz erlaubt es. Die ohnmächtigen Einheimischen wehren sich mit Protesten und Steinen. Jeder Zwischenfall wird vom mächtigen Israel brutal vergolten. Der Konflikt eskaliert. Unterdessen werden Panzer, Kampfhelikopter und -jets gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt. Die Kritik in Israel und in der ganzen Welt ist nicht zu überhören.  Doch Premierminister Ariel Sharon macht unbeirrt weiter. Er hat die Macht. Er kann einen Krieg anzetteln.

Macht ist überall. Es gibt die winzig kleine und die grosse mit vielen Konsequenzen verbundene. Auch wir haben Macht, viel Macht. Wie gehen wir damit um? Wie begegnen wir unsern Partnern, Kindern, Nachbarn, Mitarbeitern, unsern Haustieren, der Umwelt?
Macht ist neutral. Es liegt an uns, ob wir sie positiv nutzen und mit unserer Macht Lösungen, die allen etwas bringen, anstreben, oder ob wir auf ihr beharren und damit andere beherrschen. Jeder Tag gibt uns neue Gelegenheit, unsere Macht sinnvoll zu nutzen.

21. Mai 2001

 

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