Sich Zeit nehmen

Am ersten Tag grüsse ich die Nachbarn vor dem Haus kurz und höflich, gehe schnellen Schrittes zum Dorfladen und kehre mit der gekauften Milch auf dem kürzesten Weg zurück. Am zweiten rufe ich den Bekannten auf der Strasse eine Bemerkung übers herrliche Wetter zu und geniesse die wärmende Sonne auf dem Weg zu Joey’s Laden. Am dritten Tag bleibe ich schon vor der Haustüre stehen, erkundige ich mich bei den Nachbarn nach ihrer Familie, höre dass Sandra geheiratet hat und Mary zum drittenmal Grossmutter geworden ist. Das Milch Holen wird zu einem Dialog mit einem Teil des Dorfes. Meine Familie muss sich gedulden.

Ja ich bin in den Ferien in einem kleinen Dorf auf einer Mittelmeerinsel. Jedes Jahr braucht es einige Tage bis ich mich der gemächlichen Gangart meiner Umgebung angepasst habe. Jedes Jahr wird mir nach einiger Zeit bewusst, wie absurd es ist, alles auf dem schnellsten Weg zu erledigen und dabei die Umwelt kaum wahrzunehmen. Ich lerne wieder neu, die Farben und Formen, denen ich begegne, zu bestaunen und alles auf mich einwirken zu lassen. Ich höre dem Wind zu, der durch die Palmen streift, vertiefe mich in die Eleganz der feuerroten Hibiskusblüten oder folge einer Eidechse auf der Ameisenjagd.

Eine heile Welt? Sicher nicht. Die Leute hier haben dieselben Sorgen wie wir: Reicht das Geld bis zum Monatsende, wie soll ich die Steuern bezahlen und warum können meine 15 jährige Tochter und ich kein normales Wort mehr miteinander sprechen? Der Verkehr ist ein gottsträfliches Chaos, Umweltschutz noch fast ein Fremdwort und die Terminangaben eines Handwerkers oder Lieferanten müssen grosszügig ausgelegt werden. Trotzdem habe ich im „Feriendorf“ einen viel intensiveren Kontakt zu meinen Nachbarn als in der Schweiz. Ich wage es, an irgendeiner Türglocke zu läuten, weil ich Lust auf einen Schwatz habe. Der Kaffee steht schnell auf dem Küchentisch und ein Gespräch kann auch einmal bis in die frühen Morgenstunden dauern. Dabei können wir die Welt nicht verändern, werden aber unsere Freuden und Sorgen los. Wir verstehen uns über die Kultur-und Sprachgrenzen hinaus. Die gegenseitige Anteilnahme ist gross.

Und da kommt mir eine Studie irgendeines Amerikaners in den Sinn. Er hat gemessen, wie schnell sich die Leute in den Grossstädten der Welt fortbewegen und damit Schlüsse über Stress und Lebensqualität gezogen. Zürich hat gewonnen! Sind Sie überrascht? In unserer „Grossstadt“ wird die Strasse am schnellsten überquert, werden Geschäfte und Tramhaltestellen am zielstrebigsten angepeilt, kurz, es eilt. In einem Land, in dem die Termine und Fahrpläne eingehalten werden, wird von uns auch Pünktlichkeit und ein effizientes Zeitmanagement erwartet. (Fast) alles klappt. Wir sind stolz darauf.

Unser messbare Lebenstandart ist merklich höher als der auf der Mittelmeerinsel. Und die menschliche Wärme, die Zeit für Nebensächlichkeiten? Ich werde auch dieses Jahr versuchen, etwas davon in unser effizientes Land zu retten.

27. Juli 2001

 

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