Betroffen
„Irgend jemand muss sich doch wehren
gegen diese Kriegshetze, dieses Akzeptieren, dass zu Terror
Gegenterror gehört“, diskutierten kurz nach dem 11. September eine
Kollegin und ich beim Einkaufen. Wir fühlten uns in unserer
Überzeugung verletzt. So malten wir noch am selben Tag ein drei
Meter langes Transparent mit der Inschrift: KRIEG KANN KEINE
LÖSUNG SEIN. Jeden Abend standen wir damit für zwei Stunden auf
dem Zuger Bundesplatz und ermunterten die Passanten, für den
Frieden eine Kerze zu entzünden. Die Reaktionen waren
mannigfaltig. Auffallend viele Ausländer blieben stehen und
erzählten uns von ihrer Kriegsangst. Die ehemaligen Balkanbewohner
wussten, wovon sie sprachen. Sie waren betroffen.
Doch dann holten uns die Ereignisse
selber ein. Nach der schrecklichen Gewalttat im Zuger Parlament
wurde unsere Mahnwache obsolet. Nun waren plötzlich alle
betroffen. Ein Gemetzel, bei dem wir beim Fernsehen schnell zur
Seite schauen würden, ereignete sich in unserer so ruhigen
Kleinstadt. Wir konnten es nicht glauben, wir hatten keine Worte.
Ich plünderte meinen Garten und legte die Blumen auf die Treppe
zum Rathaus. Von unseren Friedenskerzen entzündeten wir je eine
für jeden Verstorbenen, von den wir erst die Zahl kannten. Wir
fühlten uns mehrfach betroffen: Die Angst um unsere Kollegen, der
Schock, als wir die Namen der Toten erfuhren, die Gesichter und
Geschichten der Überlebenden, die Gewissheit, dass der Kantonsrat
an meinem Pult (Gemeinde- und Kantonsrat tagen im selben Saal) zu
den Opfern gehörte, lähmte uns. Und mit uns einen ganzen Kanton.
Jeder hatte Bekannte oder Freunde verloren. Die ganze Stadt rückte
enger zusammen und schwieg. Dieses Schweigen wurde zu einer Kraft.
Tausende standen still mit Kerzen und Fackeln auf dem
Landsgemeindeplatz, säumten die Strassen nach der Trauerfeier,
legten Blumen und Kerzen nieder oder warteten wortlos über eine
Stunde, bis sie sich ins Kondolenzbuch eintragen konnten. Aus der
bodenlosen Trauer wuchs Solidarität und Nähe, eben Betroffenheit.
Eine ganz andere Betroffenheit
erlebten wir letzte Woche, als das Aus der Swissair verkündet
wurde. 70'000 Angestellte und deren Familien werden in irgendeiner
Form direkt betroffen sein. Es geht um Existenz und Zukunft. Doch
die Kaltschnäuzigkeit der Banken, die Politik der verbrannten Erde
von Sutter und Ospel machten auch uns „Unbeteiligten“ betroffen.
Wo stehen Ethik und Verantwortung im Vokabular der
Wirtschaftsbosse? Die hässlichste Seite einer
Deregulierungseuphorie grinst uns entgegen. So lange Gewinne da
sind, werden sie privatisiert. Was nachher kommt, kann der Staat
übernehmen. Wenn unsere Betroffenheit hilft, die
Privatisierungswelle etwas kritischer zu betrachten und den
Glauben an den allmächtigen Shareholdervalue vom Podest zu stossen,
hat auch diese Betroffenheit einen Sinn.
Gestern hat Amerika Afghanistan
angegriffen. Es ist passiert. Unsere Mahnwache für den Frieden
hat, wie leider erwartet, nichts gebracht. Diesmal sind nicht
Zuger oder Schweizer, nein, diesmal ist die ganze Welt betroffen.
Gewalt erzeugt Gegengewalt und Gegengewalt und wieder Gewalt ....,
die beste Brutstätte für neue Terroristen. Das muss unterbrochen
werden. Ich fühle mich ohnmächtig und betroffen.
8.September 2001