Der Schleier
Stau vor der Kasse im Supermarkt.
Gelegenheit zu träumen, die Leute zu beobachten und sich zu
entspannen.
Etwa drei Personen vor mir steht eine
junge Klosterfrau. Ihre Tracht verrät mir, dass sie aus einem
andern Land kommen muss, vielleicht aus Italien. Der schwarze
Schleier fällt anmutig leicht über die Schultern, das Gesicht ist
mit weissem Stoff eingerahmt. Ich erinnere mich an meine
ehemaligen Lehrerinnen mit ihren steifen Hauben und den
Stecknadeln im Kopf, die mich immer leicht erschauern liessen.
Ich freue mich, dass es allem Anschein
nach wieder junge Nonnen gibt und beobachte, wie sie sich mit der
Kassierin mit einigen Worten, vor allem aber mit Händen und Mimik
verständigt. Meine Gedanken und Blicke schweifen ab, bis sie
einige Momente später wieder auf der Ordensfrau haften bleiben.
Meine Augen öffnen sich weit; ich bin mir plötzlich nicht mehr
sicher. „Ist das eine junge Nonne oder eine gut verhüllte Muslimin?!“
Nun beobachte ich jede ihrer Bewegungen, bis sie das Geschäft
verlässt. Doch bis heute nicht bin ich mir nicht schlüssig, ob ich
an jenem Tag hinter einer Katholikin oder einer Mohammedanerin an
der Kasse gestanden habe.
Das Erlebnis ist tief gegangen.
Einerseits erinnere ich mich an meine Schulzeit und den grossen
Respekt, den wir vor den Frauen hatten, die ihr Leben ganz Gott
schenkten und das im Verhüllen ihrer Haare offen deklarierten. Es
waren emanzipierte, meist überdurchschnittlich gut ausgebildete
Frauen, die sich ganz einem Ziel verschrieben hatten, der
Krankenpflege, der Sozialarbeit oder der Bildung junger Menschen.
Eine Frau, die „den Schleier nahm“, war eine Frau, die bewundert
wurde.
Auf der andern Seite muss ich an die
vielen abschätzigen Bemerkungen denken, die über das Kopftuch der
Türkinnen und ihrer mohammedanischen Kolleginnen gemacht werden.
Es wird oft als Zeichen von unfreien, altmodischen Frauen
betrachtet und an gewissen Arbeitsplätzen in Westeuropa nicht
geduldet. Nach dem 11.September wurden in der USA Frauen
islamischer Gemeinschaften von der Kopftuchpflicht entbunden, weil
sie durch dieses äussere Zeichen ins Schussfeld ihrer
„christlichen“ Mitmenschen kamen und Repressalien befürchten
mussten. Muslimin = potenzielle Terroristin. So einfach ist das!
Doch wo liegt der Unterschied zwischen
dem Schleier einer Nonne und dem einer Frau islamischer Herkunft?
So lange sich die beiden Frauen freiwillig zum Tragen dieser
Kopfbedeckung entschliessen, kann ich die beiden nur respektieren.
Sie schämen sich nicht, offen zu ihrer Religion zu stehen. Das
braucht heutzutage Mut.
Noch mehr Mut braucht es momentan für
die Juden, auf der Strasse zu ihrem Bekenntnis zu stehen. Nur
allzu oft werden sie mit ihrem „Käppli“ als Vertreter jener
menschenrechtsverachtender Gruppe betrachtet, die in Palästina
Zivilisten samt ihren Häusern niederwalzt. Wenn Sharon ein
Kriegsverbrecher ist, dann ist er das als Staatsmann und nicht als
Jude, denn, da bin ich mir sicher, der jüdische Glaube würde
solche Verbrechen nie tolerieren.
Das Erlebnis im Supermarkt hat mich
gelehrt, meine religiöse Toleranz regelmässig zu überprüfen.
Betrachte ich alle Menschen durch dieselbe Brille? Sind sie
wirklich so verschieden?
14. April 2002