Traditionen

„Billy und Kevin, wir so stolz auf euch“, stand im letzten Juni in grossen Lettern auf der Rückseite des für die Brautmesse ihrer Schwester Kathy aufgelegten Programms. Was hatten sie getan, wofür lobte sie die Brautfamilie öffentlich am Fest ihrer Schwester? Zur Verteidigung des Vaterlandes und zur Abwehr des Bösen hatten die beiden sich kurz zuvor in der US Armee eingeschrieben.

Wir trauten unsern Augen kaum. Seit dreissig Jahren kennen wir diese Familie, unsere ältesten gemeinsamen Freunde. Sie ist streng katholisch, der Vater eine Person, die sich nie um sich aber immer um das Wohlergehen anderer kümmert. Als er zum Beispiel vom Zuger Attentat hörte, suchte er mich über alle Umwege zu erreichen und informierte darauf alte Freunde auf buchstäblich der ganzen Welt, dass es mir gut gehe. Auch kann man die Familie nicht als typisch amerikanisch, ohne Blick aufs Ausland bezeichnen. Mit ihren sechs Kindern haben sie in Rom, Teheran, Warschau, Moskau, Frankfurt und Basel gelebt und sind stolz, europäische Kultur ihr Eigen zu nennen. Und nun das. Als mir dann auch noch die schwerkranke Mutter strahlend vom Entschluss ihrer Söhne erzählte, war mir klar, dass wir in diesem Punkt einander nie verstehen würden. Und so haben wir auch vor einigen Wochen, als uns unsere Freunde am Tag der weltweiten Antikriegsdemonstrationen besuchten, das Thema Irak geflissentlich vermieden. Auch sie wussten instinktiv, dass wir keinen gemeinsamen Nenner finden würden.

Nur zwei Flugstunden südlich der USA liegt Costa Rica. Im Pulverfass Mittelamerikas gelegen, Nicaragua, San Salvador und Panama sind seine Nachbarn, wurde dort 1949 die Armee abgeschafft. Das Geld würde viel gewinnbringender in Bildung und medizinischer Betreuung der Bevölkerung angelegt. Und man sieht das Resultat! Ich habe das Land, das ungefähr die Grösse der Schweiz hat, schon einige Male bereist. In diesem Jahr wollte ich von den Einheimischen vor allem wissen, wie sie sich zu einem Krieg und zur Gewalt allgemein stellten. Eine Antwort erstaunte mich immer wieder. „Waffengewalt ist uns fremd. Bereits unsere Grossväter waren keine Soldaten mehr. Wir Ticos versuchen unsere Konflikte anders zu lösen. Raubüberfälle werden vor allem von Angehörigen der Nachbarländer gemacht.“

Tradition als Friedenspolitik? Was ich nicht kenne, befürworte ich auch nicht? Es könnte etwas dran sein. Da kommen mir wieder unsere amerikanischen Freunde in den Sinn. Der Vater, so erzählte er uns, wurde just an dem Tag nach Vietnam eingeschifft, als seine erste Tochter geboren wurde. Krieg und Elend ist keine unüberbrückbare Barriere für ihn. Was er erlebt und überlebt hat, wird auch für seine Söhne gut ausgehen.

Doch spinnen wir den Faden der Costa Ricanischen Philosophie weiter. Die Abwesenheit der Armee ist zu einer Art guten Beispiels für die ganze Nation geworden. Das können wir in unsern Alltag übertragen. Wie leben wir, wie begegnen wir unserm vielleicht nicht allzu sympathischen Nachbarn, wie gehen wir mit Agressionen um? Wenn einmal unsere Grosskinder sich gegen Krieg und Gewalt wehren, weil sie von uns Alten nichts anderes gekannt haben, hat sich jeder Gang auf die Strasse und jedes Wort gegen den Krieg gelohnt, auch wenn ich befürchte, dass sich diesmal die USA nicht mehr umstimmen lässt.

 10.März 2003

 

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