Chügeli
Den „Unfall“ hatte ich nicht gesehen,
doch das Herz zerbrechende Weinen sagte mir, dass das kleine
Mädchen sich weh getan oder erschrocken hatte. Hinter den Kassen
des Supermarktes beobachteten wir die junge Mutter, wie sie ihr
weinendes Kind streichelte und tröstete.
Da löste sich die Frau vor mir aus der
Reihe, lief zu Mutter und Kind und steckte der Kleinen etwas in
den Mund. „Ich habe dem armen Schätzeli die Chügeli gegeben, die
dir helfen, wenn dir etwas weh tut“, erklärte sie nachher ihrem
wartenden Kind.
In unserer anonymen Welt ist es nicht
selbstverständlich, dass sich „Leute auf der Strasse“ helfen. So
hat mir die Frau sehr gefallen.
Doch dann begann ich über „Chügeli“
nachzudenken. Jeder weiss, dass sie medizinisch ungefährlich und
natürlich sind, in gewissen Augen nur einen Placeboeffekt haben.
Unbedenklich sind sie in meinen Augen nicht.
Es ist modern, sie dabei zu haben und
bei jeder Unpässlichkeit davon zu nehmen, oder, wie in der
Geschichte, den Kindern zu verabreichen. Damit vermitteln wir eine
fatale Botschaft: „Was immer mit dir passiert, da ist ein
Mittelchen, das dir helfen wird.“
Das ist Trug. Unser Leben ist voll von
Stolpersteinen, körperlichen und seelischen. Es gilt, immer wieder
aufzustehen und Gelassenheit zu üben, lebenslang. Diese innere
Haltung kann weder mit Homöopathie noch mit andern Mittelchen
erreicht werden. Wir müssen uns täglich bemühen, unsere
Frustrationsschwelle zu heben. So verhindern wir, dass uns die
Stolpersteine in die Tiefe reissen und lernen, das Leben zu
akzeptieren wie es ist. Die Anteilnahme unserer Mitwelt hilft
dabei sehr.
Die Mutter im Supermarkt hat ihr
weinendes Kind getröstet, vielleicht sogar „Heile heile säge..“
gesungen. Das war mehr wert als alle Chügeli der Welt.
Auch uns Grossen tut es gut, wenn wir
uns nicht allein gelassen fühlen und jemand zuhört, wenn wir
wieder einmal „gestolpert“ sind.
10. Dezember 2004