Susan Sontag: In Amerika
In Amerika, der vierte
Roman der in New York lebenden Autorin Susan Sontag, wurde mit dem
renommierten National Book Award ausgezeichnet. Es ist die
Geschichte einer berühmten polnischen Schauspielerin die 1875 in die
Vereinigten Staaten emigriert, um dort zusammen mit ihrem Mann,
ihrem Sohn und einer Gruppe von Freunden ein neues Leben zu beginnen,
fernab der Zwänge und Einschränkungen der Alten Welt. Sie erwerben
in der Nähe von Anaheim, Kalifornien eine Farm, die sie nach den
Prinzipen von George Fourier kommunal zu bewirtschaften gedenken.
Bald stellt sich heraus, dass die Gemeinschaft, bestehend aus
Künstlern, Autoren, Schauspielern und Aristokraten dem Leben als
Farmer im trockenen Klima Südkaliforniens nicht gewachsen ist. Die
Kommune scheitert und die Freunde zerstreuen sich; einige kehren
nach Polen zurück, andere wollen ihr Glück in Amerika versuchen.
Durch das gescheiterte Experiment in monetäre Bedrängnis geraten,
entschliesst sich Maryna Lezowska (die Romanfigur wurde inspiriert
von der polnischen Schauspielerin Helena Modrzejewska) auf die Bühne
zurückzukehren. Unter dem Namen Marina Zalenska (Helena Modjeska)
wird sie zum Star, vergleichbar mit Sarah Bernhardt, und tourt durch
Amerika mit einem beeindruckenden Repertoire an verschiedenen Rollen.
Die zentrale Figur ist Maryna Lezowska; dennoch weist der Roman eine
Zäsur auf: im ersten Teil verfolgen wir das Leben von Maryna und
ihren Freunden als Teil einer privilegierten Oberschicht. Maryna ist
eine Art Nationalheldin der polnischen Theaterwelt, was sie
einerseits schmeichelt, andererseits fühlt sie sich von ihrer
Berühmtheit und den Zwängen der polnischen Gesellschaft auch
eingeengt. Deshalb plant sie, nach Amerika zu emigrieren um dort mit
ein paar Freunden eine Farm nach dem Vorbild der Transzendentalisten
zu bewirtschaften. Das Prinzip beruht auf Freiheit und
Selbstverantwortlichkeit. Jedes Mitglied hat Zeit, sich dem
Schreiben, Malen, Lesen, etc. zu widmen, verpflichtet sich aber auch,
seinen Teil zu Bewirtschaftung der Farm beizutragen. Letztendlich
scheitert das Projekt an der Unerfahrenheit der Mitglieder.
In diesem ersten Teil ist der Roman sehr polyphon, die Autorin lässt
uns die Ereignisse durch die Augen der verschiedenen Charaktere
sehen. Besonders eindrücklich ist die Überfahrt geschildert,
beobachtet durch die kritischen Augen des Autoren (und Marynas
Verehrer) Ryszard, der die Zustände in der zweiten Klasse des
Dampfers kritisiert. Auch in Kalifornien angekommen, wird das Leben
auf der Farm von den Mitgliedern der Gruppe unterschiedlich
wahrgenommen. Nachdem sich die Mitglieder zerstreut haben
konzentriert sich die Erzählung jedoch ganz auf Maryna und ihre
Sicht.
Der zweite Teil beschreibt im Detail ihren Schauspiel-Alltag, von
ihren Mühen, die englische (Aus-)Sprache zu meistern, über ihren
Durchbruch, bis zu den anstrengenden Tourneen, die sie unternimmt.
Die andern Charaktere werden ganz ausgeblendet oder erscheinen nur
noch am Rande.
Eine der Stärken des Romans ist die ungemeine Fülle an Techniken,
derer sich die Autorin bedient und die sie geschickt ineinander
fliessen zu lassen weiss. Beeindruckend etwa der Einstieg, das
Kapitel Null, welches als auktoriale Ich-Erzählung angelegt ist,
wobei die Ich-Erzählerin durch Raum und Zeit reist, um uneingeladen
und ungesehen in eine Gesellschaft einzudringen. Die Ich-Erzählerin
beschreibt ihre Eindrücke von den Figuren, die sie dort antrifft und
die in einer ihr fremden Sprache miteinander sprechen. Nach und noch
gelingt es ihr, die Personen zu benennen und ihre Konversation mit
Bedeutung zu füllen. Die Ich-Erzählerin beschreibt die Figuren, die
sie gleichzeitig als Autorin erfindet. Durch diese Offenlegung des
Erzählprozesses thematisiert Sontag somit gewollt die Beziehung
zwischen Autorin, Erzählerin und Romanfiguren. Ab dem ersten Kapitel
zieht sich dann die auktoriale Ich-Erzählerin zurück und die
Erzählperspektive wechselt zwischen den verschiedenen Protagonisten.
Aber auch hier bedient sich Sontag unterschiedlicher Erzähltechniken:
mal in Form von Briefen, mal in Form eines Tagebuchs, als neutrale
Erzählsituation oder als Ich-Erzählung, wobei die jeweilige Technik
nie forciert scheint, sondern als der Situation und der Figur
angebracht. Besonders bemerkenswert in dieser Hinsicht ist das
letzte Kapitel, welches in der Technik des "stream-of-consciousness"
verfasst ist.
Der berühmte Schauspieler Edwin Booth geht angetrunken in die Kabine
von Maryna und berichtet ihr in einem ununterbrochenen Monolog sein
Leben bis sie ihn bittet aufzuhören. An dieser Stelle endet der
Roman abrupt. Zurück bleibt ein Gefühl der Unabgeschlossenheit,
wobei der Leser sich unweigerlich fragt, ob dies von der Autorin so
gewollt ist oder ob dieser unbefriedigende Abschluss nicht eine
Schwäche der Erzählung darstellt. "In Amerika" ist ein
anspruchsvolles und schwieriges Buch. Nach einem spannenden Einstieg
verlangsamt sich die Geschichte und es bedarf einiges an
Durchhaltevermögen um weiterzulesen. Dies wird jedoch belohnt durch
ein tiefgründiges Porträt der Gesellschaft gegen Ende des 19.
Jahrhunderts und die Gegenüberstellung alter europäischer Strukturen
und Ideen (am Beispiel Polens) und der vermeintlich unbegrenzten
Möglichkeiten in Amerika, die sich jedoch teilweise aus Trugschluss
erweisen.
"In Amerika" ist auch das Porträt einer Frau die einerseits charmant
und willensstark und andererseits egoistisch und oberflächlich ist,
wodurch sie auch ihren Erfolg als Schauspielerin erklärt. Ihre
Fähigkeit in jede Rolle zu schlüpfen, scheint absolut, die Kehrseite
davon jedoch ist, dass das eigene Ich oft in der Persona der Diva
aufzugehen scheint.
Es ist auch ein Buch über Selbstfindung; Bogdan (Marynas Mann)
gesteht sich endlich seine homosexuellen Wünsche ein und Ryszard,
Marynas Verehrer und Geliebter, mag sich von ihr zu lösen und seinen
eigenen Weg zu gehen. Andere scheitern; Wanda zum Beispiel kann
ihren Ehemann nicht verlassen, obwohl er sie immer kritisiert und
verspottet, ihr einziger Ausweg ist der Selbstmord.
In Amerika ist ein Gefüge von historischen Gegebenheiten und
fiktiven Charakteren, von detailgetreuen Beschreibungen und
farbenreichen Impressionen, von philosophischen Ideen und
Alltagsbeschreibungen. Dies bedeutet jedoch auch, dass der Roman
teilweise ein bisschen zerfahren wirkt; Themen und Ideen werden
angetönt aber nicht weiterverfolgt, interessante Charaktere werden
eingeführt, verschwinden dann aber spurlos. Trotzdem interessant und
facettenreich.