E-Mail-Therapie für Schweizer Neonazis

 
 
              
 
     
   

E-Mail-Therapie für Schweizer Neonazis
QU: Sonntagszeitung, 22. April 2001

Internet-Streetworker diskutieren via E-Mail mit Rechtsradikalen - und haben Erfolg

Zürich – Sie zeigen Betreiber von rechtsradikalen Webseiten bei der Polizei an und versuchen, Neonazis aus dem braunen Sumpf herauszuziehen: Seit acht Monaten sind auf dem Internet-Highway Streetworker unterwegs, die mit jugendlichen Rechtsextremen den Dialog suchen. Die Schweizer Organisation, die hinter diesem Projekt steckt, macht sich die Anonymität des Mediums zunutze und will auch gegenüber der Öffentlichkeit anonym bleiben. «Ohne Anonymität wären das Projekt und unsere Mitglieder gefährdet», sagt der Sprecher der Organisation.
Die virtuellen Sozialarbeiter überprüfen Internetseiten auf rassistische Inhalte. Lassen sich die Betreiber dieser rechtsradikalen Webseiten identifizieren, schalten die Streetworker die entsprechende Behörde in der Schweiz oder in Deutschland ein. Doch mit der Strafanzeige allein begnügen sich die Streetworker nicht. «Wir verwenden den Druck, der durch eine Strafanzeige entsteht, um mit den Jugendlichen in einen Dialog zu treten. Die Eltern werden dabei immer mit einbezogen», sagt der Sprecher der Organisation.
Vor acht Monaten kontaktierte ein Mitglied der Organisation unter dem Namen Ibrahim-Jonas über ein anonymes E-Mail-Konto einen 17-jährigen Schüler. Dieser hatte auf seiner Webseite rassistische Sprüche veröffentlicht: «Ein Jugo liegt auf der Kegelbahn, ich ziel genau, visier ihn an. Ich treff ihn mitten in die Fresse rein, so schön kann Schweizer Volkssport sein.» Ibrahim forderte den Jugendlichen auf, solche verschlüsselten Mordaufrufe sofort von der Webseite zu entfernen. Der Schüler kam der Aufforderung nach. Während der nächsten sechs Monate trat Ibrahim, der sich als politisch und rassistisch Verfolgter ausgab, mit dem 17-Jährigen in einen regen E-Mail-Verkehr - insgesamt tauschten die beiden 50 Mails aus. Die Auseinandersetzung weckte beim Jugendlichen das Bewusstsein für seine rassistischen Aussagen: Er distanzierte sich davon und schaltete auf seiner Homepage eine Entschuldigung auf. Der inzwischen verurteilte Schüler ist nach Aussagen der Organisation heute «clean».

Nicht notorische Rassisten, unsichere Jugendliche werden angesprochen

«Wir hatten das Internet Streetworking erfunden», sagt der Sprecher. Auf dieselbe Weise gelang es ihnen, mit drei Schweizern und drei deutschen Neonazis ins Gespräch zu kommen. Die Organisation bringe die Jugendlichen dazu, sich mit den eigenen rassistischen Aussagen auseinander zu setzen. «Wir wollen keine Neonazis umdrehen, sodass sie alle Ausländer lieben. Wir wollen, dass sie ihre Probleme und ihre Lebensart auf eine demokratische Art und Weise artikulieren.» Bei programmatischen Rassisten wie Jürgen Graf ein sinnloses Unterfangen. Die Organisation sucht daher auf Webseiten nach Anzeichen von Unsicherheit. «Die Jugendlichen verraten sich oft im technischen Aufbau der Site, aber auch durch ihre Sprache.» Bei diesen Jugendlichen bestehe eine Chance.
Auf der Homepage der Organisation sind drei exemplarische Fälle mit dem gesamten E-Mail-Verkehr dokumentiert, zwei davon sind aktuell. Die Webadresse ist in keiner Suchmaschine zu finden - «um das Projekt zu schützen, soll sie anonym bleiben», so der Sprecher der Internet-Streetworker. Gegen einen 17-jährigen Lehrling und einen 16-jährigen Oberschüler, Anführer einer rechtsextremen Gruppierung, laufen derzeit Strafverfahren. Die Organisation ist mit beiden in Kontakt und will für den Oberschüler eine Lehrstelle organisieren, falls dieser sich für seine rassistischen Aussagen entschuldigt.
Die Streetworker helfen den Jugendlichen inhaltlich und technisch beim Aufbau neuer Homepages, wo sie auch Foren einrichten, in denen sie über ihre Ängste und Probleme mit anderen diskutieren können - beispielsweise über Jugendkriminalität.
Daniela Palumbo

So treten die Internet-Gassenarbeiter mit den Neonazis in Kontakt
Die Streetworker agieren mit anonymen E-Mail- Accounts oder anonymen Telefonnummern. Daher konfrontieren die Jugendlichen sie oft mit der Frage: «Wer bist du?» Damit die rechtsextremen Jugendlichen sich wenigstens ein fiktives Gegenüber vorstellen können, haben die Streetworker Figuren und Legenden mit eigenem Lebenslauf und Vorlieben erfunden, die nur im Internet auf einer Homepage existieren.
Eine solche Figur ist beispielsweise Chäser Michi. Er ist auf www.steamhammer.ch.vu zu Hause. Fotos zeigen, wie Chäser Michi mit seiner Kuh Olga und seinem Dackel Yazzi auf dem Bauernhof lebt. Die Site enthält Links zur «Schweizerischen Stiftung zur Erhaltung des genetischen und kulturgeschichtlichen Erbes von Tieren und Pflanzen», Bauernregeln, ein Kochrezept für Käseauflauf sowie Käser Michis Lieblingssong («Kiosk» von Polo Hofer).
Die Streetworker, die sich hinter der fiktiven Identität verbergen, treten vorwiegend bei swisstalk.ch auf, wo sich eine rege Neonaziszene beim Chatten trifft. Sie versuchen dort, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen.

 
   
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