Wie der Spissmarti
um sein Löhnlein kam

Eine Erzählung von Blasius Imhof
(1872–1946)


 
 
Er war nur ein Geissbub, der Spissmarti, ein kleines, schüchternes Bürschchen von zwölf Jahren, als er eines Morgens im Frühling mit seinem Vater vom Spiss herunter- gestiegen kam. Ernst und schweigsam waren beide, als sie unter dem Geklapper ihrer Holzschuhe talab wanderten; beide ärmlich gekleidet, beide schmalen Gesichts und schmächtigen Körpers.
Der Marti zog heute zum ersten Male aus seinem Heim. Drunten in Altdorf hatte ihn der Vater verdingt zu einem kleinen Bäuerlein; bei dem sollte der Marti den Sommer über das Vieh hüten.
Hart war ihm der Abschied geworden von der stillen Mutter und von den lieben Geschwistern. Der Marti war der Älteste, und alle hingen mit grosser Liebe anein- ander. Manches mal schaute er verstohlen zurück nach dem alten, braunen Holz- häuschen mit dem steinbeschwerten Schindeldach und den grünlichen Butzen- scheiben. Oben stunden die Zurückgebliebenen und schauten den Scheidenden nach; sie mochten wohl ein Tränlein aus den Augen wischen, denn der Marti war ein lieber Bub, und alle hatten ihn gern.
Er selber schluckte und schluckte, wenn es ihm heiss heraufquoll aus der schweren Brust. Es ist ja immer ein  schmerzlich Ding um das erste Scheiden aus dem Eltern- haus, und der Marti war noch so jung. Nicht dass er am guten Leben zu reuen gehabt hätte, das nicht. Droben im Spiss, in des Hofer Kaspis Häuschen, war der Hunger öfters zu Gast als das Sattsein. Die Alten schafften und schafften wohl, was sie mochten, aber es wollte doch nirgends langen, es sassen zu viele Gülten auf dem Gütli, und die frassen fast alles auf; dann waren da auch noch fünf kleine Mäuler, denen die Bergluft mehr Appetit machte, als die Eltern oft stillen konnten. — Da tat’s schon Not, dass der Marti auch verdienen half.
Als die Zwei an Ort und Stelle waren, machte der Vater dem Buben das Kreuz, und nach einem  kurzen «B’hüet di Gott und bis brav!» schied der Kaspi wieder. Er war kein Freund von vielen Worten.
Am andern Morgen nahm der Marti seine Arbeit auf. Schlecht hatte er geschlafen auf dem fremden Laubsack, und sein Kopfkissen war von Tränen nass. Aber mochte ihm auch das Herz schier zerspringen, er biss die Zähne zusammen und schwieg. Er musste ja verdienen, musste den Seinen helfen; dieser Gedanke war stärker als das Heimweh. Der Marti war auch ein tapferer Bub.
Da zog er denn aus mit seinen Rindern auf die Allmend, wo sie eine spärliche Weide fanden. Da draussen sass der Bub gern. Da konnte er hinaufschauen zur Bürgler  Kirche, die weiss hinausleuchtete ins Land; er sah auch hinauf in den Spiss und sah das väterliche Dach, das aus dem Baumgrün hervorlugte. Lang, lang konnte der Marti so dasitzen und hinaufschauen, bis es ihm schwamm vor den Augen. Dann wischte er sich mit der Hand übers Gesicht, eine Träne lief ihm hinab über die schmale, braune Wange, ein Seufzer entstieg der heimwehkranken Brust, und er  wandte sich ab.

*

So verging Tag um Tag. Früh morgens, nach einem schmalen Frühstück, wenn die Sonne die Wände des Gitschens anfing zu vergolden, zog der Marti mit seinen Rindern aus, und am Abend zog er heim, wenn der Bristen allein noch erglühte im letzten Sonnenkuss. In einem Zwilchsäckli trug der Hüterbub sein Essen für den ganzen Tag mit sich, und er hatte nicht schwer daran zu tragen: ein Stück Käs war’s und ein Schluck Milch in einem Krüglein; dazu gab ihm der Bauer jeden Morgen einen Schillig, damit er sich daraus Brot kaufe.  Das war frugale Kost für einen allzeit hungrigen  Bubenmagen. Aber der Marti brauchte nicht einmal das; er ass seinen Käs’, wenn ihn der Hunger plagte, und trank seine Milch. Brot kaufte er keines, den Schillig band er in seinen Lumplizopf  und  trug ihn Tag für Tag wieder heim. Er wusste nur zu gut, so jung er war, dass daheim das Geld rar war und dass er verdie- nen musste. Er wollte auch denen  daheim  eine Extra-Freude  machen, darum sparte er sich  Schillig um Schillig vom Munde ab, der brave Bub.
Nach und nach wurde es Herbst. Das Laub fiel, und raschelnd trieb es der Herbstwind durch die engen mauerbesäumten Gassen. Es wurde kühl und kühler, endlich kam der Gallustag, der Marti bekam seinen Lohn und konnte heim.

*

Hei, wie er es da eilig hatte! Zwei ganze Kronentaler hatte er verdient und dazu eine ganze Menge Schillige erspart. Als Trinkgeld hatte ihm der Bauer noch einen guten Tschoopen geschenkt; zwar schlotterte ihm derselbe ziemlich um den schmächtigen Körper, aber das genierte den Buben nicht. So zog er denn heimzu; er hätte jauchzen mögen, denn er dünkte sich reich, und als er gegen Bürglen kam, glaubte er fast, er dürfte fragen: «Was kostet das Dorf?»  — Wieder und wieder schüttelte er das Hand- brentli, das seinen Schatz barg, und freute sich, wie  da drinnen die Münzen klap- perten.

Schon war er am Fusse des Berges angelangt, wo der Weg zum Spiss ansteigt; er nahm sich aber in seinem Eifer nicht die Zeit, demselben zu folgen, sondern schwenkte in den Wald ein und stieg schnurgerade bergan. Bald hatte er den Wald hinter sich und klomm nun das steile Port hinan. Noch ein paar Minuten, und er war wieder daheim.

*
Wie er sich freute! So oft hatte er seiner Lieben gedacht! Fast keine Stunde war vergangen, dass er sich nicht gefragt hätte: «Was machen sie wohl jetzt?» Und er kam ja heim mit vollen Händen, mit Selbstverdientem und Selbsterspartem. Wenn er ums Eck war, würden sie ihn sehen und ihm entgegenspringen. Schon sah er sich, wie er in der verräucherten Stube in der Herrgottsschrote sass und seinen Schatz auf der alten Tischplatte hinzählte. Wie sie staunen und sich freuen werden! —
Da auf einmal, mitten in seinem seligen Sinnen, glitt der Marti aus auf der steilen Grashalde und kollerte den Hang hinunter, ein ganzes Stück weit. Im Fallen war das hölzerne Gefäss, das in Ermangelung eines Geldbeutels seinen Schatz barg, seiner Hand entglitten, und nun rollte auch es in weiten Sätzen bergab, schlug weiter unten an eine Tanne und zerschellte. Der Deckel war schon bei den ersten Sprüngen auf eigene Faust davon und das Geldli, das mühsam verdiente und mit Hungern zusammengesparte Geldli flog bei den tollen Sätzen hinaus nach allen Winden, Schillige, Kreuzer, Angster —, und auch die beiden schönen Kronentaler nahmen Reissaus. Mit weit offenen Augen schaute der Bub, der bald wieder auf die Beine gekommen war, dem Brentli nach. Er hatte, selbst im Rollen, darnach gehascht, allein er konnte es nicht mehr fassen. Halb aufgerichtet stund er nun da, wie zum Sprunge nach dem Flüchtling ansetzend, und doch konnte er nicht vom Fleck, so war ihm der Schreck in die Glieder gefahren. Dann löste sich ein Schluchzen aus des Buben Brust, und er stürzte sich auf den Weg, den das Brentli genommen. Mit zitternden Händen und starren Auges  durchwühlte er das kurze gelbe Gras; wie Nebel schwamm es ihm vor den Augen, manch’ bitteres Tränlein fiel auf den Rasen. Lang, lang suchte der Marti, aber er fand nichts mehr; er suchte bis hinunter zum Wald, aber er fand keinen Angster mehr von seinem Schatz.  Und als er sah, dass alles Suchen vergebens war, da setzte er sich hin ins Gebüsch und fing an zu weinen, bitter, herzzerbrechend zu weinen. Eben noch hatte er den Himmel voller Sonnenschein gesehen, nun war alles wieder weg, umsonst die Arbeit eines ganzen Sommers, umsonst all’ das Darben und Hungern. Das war hart. So schön er sich die Freude des Wiedersehens ausgemalt — jetzt war all’  die Freude  fort, und tiefstes Leid hatte ihn gepackt. Er weinte, bis ihm die Augen brannten, und als es Abend wurde, da schlich der Marti langsam heim. 

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Heute ist der Spissmarti ein alter, eisgrauer Mann. Er hat viel von der Welt gesehen, und sie hat ihn mit rauher Hand getroffen in seinem langen Leben. Doch kaum eines sei ihm herber gewesen, so erzählte er, als jenes, da ihm am Gallustag nach seinem ersten Dienstsommer sein kleiner, mühsam errungener Schatz übers Port hinab  verschwand — auf Nimmerwiedersehen!
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Der Spissmarti ist mein Urgrossvater, der Verfasser dieser Geschichte – Blasius Imhof – ist der Sohn vom Spissmarti, demzufolge mein Grossvater väterlicherseits. Im Jahre 1913 stand in einer Urner Zeitung folgender Artikel: «Der älteste Briefträger: Hr. Martin Imhof in Altdorf ist der älteste aktive Briefträger der Schweiz. Er ist geboren am 3. März 1830, steht also heute im 83. Altersjahr. Seit 36 Jahren steht er im eidgenössischen Postdienst als Briefträger. Noch heute macht Herr Imhof täglich seine viermalige Landtour, die ihn bis an die Reuss hinaus, durch die Gehöfte des Altdorfer Bodens führt. Sein Alter trägt er mit seltener Rüstigkeit und Geistesfrische. Gebürtig von Bürglen, musste er schon mit 12 Jahren ins Leben hinaus, das ihn oft genug rauh anfasste, seinen Mut und seine Kräfte aber nur stählte. Dem wackern Pöstler, dem Nestor des Postpersonals, wünschen wir einen frohen Lebensabend.» – 
Einige Monate nach dieser Zeitungsmeldung starb Martin Imhof nach kurzer schwerer Krankheit in seinem 84. Altersjahr.
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