„Mit der Lupe das menschliche Universum erfassen“

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Ein Gespräch mit Michelangelo Antonioni (1993)

Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie einmal behauptet, dass der Dokumentarfilm ungeahnte Geheimnisse enthüllt und die Realität in ihrer intimsten Gestalt vermitteln kann?

Mich hat es immer interessiert, die Wirklichkeit über die Menschen und die Umwelt genauer zu betrachten. Ein psychisches Bild der Personen zu zeichnen. Es war eigentlich für mich, damals, wie heute, das Wichtigste.

Womit Sie einer der wichtigsten Vertreter des italienischen Neorealismus geworden sind. Zugleich haben Sie sich oft gegen eine intellektuelle Auslegung, etwa der Theorie Gramscis, wonach der Künstler sich politisch-gesellschaftlich verpflichtet sei, gewendet?

Da hat sich natürlich auch einiges verändert seitdem ich anfing Filme zu machen. Früher hatten wir diesen Willen, besonders nach dem Krieg, schnelle Resultate im Bewusstsein der Menschen zu erreichen.

Für mich ist die Filmkamera eine Lupe, mit der ich das menschliche Universum erfassen kann. Gelingt mir das, schaue ich mir genau die Szenen an, ordne sie, hinterfrage meine Absichten und wähle aus. In diesem Moment treffen mein Blick auf die äußere und innere Welt zusammen.

Können Sie das erläutern?

Für mich stehen die Protagonisten nicht uneingeschränkt im Vordergrund. Es ist immer die Art des Dialogs mit der Umwelt, die hier darüber entscheidet, wie es weitergeht. Die Landschaft und ein Ort ist für mich oftmals die erzählerische und konzeptionelle Mitte des Films. Die Landschaft schaut gewissermaßen zu, wie der Mensch sich in ihr zu Recht findet. Sie bringt die Krise zum Ausdruck. Außerhalb der menschlichen Wirkens ist Stille. Sehen Sie, mich interessiert es, die Probleme und seelische Befindlichkeit einer Zeit genau zu betrachten. Dabei sehe ich das Milieu als geographischen bzw. historischen Ort, der katalytisch wirkt.

Und entwickeln eine Metaphysik der Geographie?

Nicht nur das! Natürlich wissen Sie, dass die Wahrheit unsichtbar ist (Pause)... aber, in den konzentrierten Momenten des Schaffens, kann ich mir ihr nähern. Es ist ein wenig so mit dem Nebel in meiner Heimat, in Ferrara. Wenn er gelegentlich bis zur Unendlichkeit ausharrt und sich dann auflöst, findet sich immer eine Überraschung. Das Licht trifft manchmal ganz plötzlich auf verborgene Momente zwischen den Menschen.

Ihre Bewunderer behaupten Sie erzählen Filme wie ein Romancier?

Das freut mich, trifft aber dennoch nicht ganz zu. Sinneseindrücke in Bilder zu transportieren und umgekehrt Sinneseindrücke aus Bildern herauszufiltern ist ein grundsätzlich anderer Weg. Er ist komplexer und technisch anspruchsvoller. Einen narrativen Minimalismus im Film zu beherrschen, erfordert viel Übung. In einer Erzählung wüsste ich das nicht umzusetzen.

Sie bevorzugen die Set-Technik?

Sie ist eine technische Hilfe, lange Aufnahmen ohne Schnitte zu vollziehen. Es geht darum, den Szenen eine innere Dynamik zu gewähren. Das ist nur so möglich. Zugleich hilft es, den Rhythmus zu verlangsamen. Auf diese Weise entsteht erzählerische Dichte und eine Spannung zwischen den Protagonisten und dem Bildfeld.

Womit Sie die den Typus des Road Movie schon in den 60er Jahren antizipierten?

Konzeptionell kam ich auf diese Arbeit mit „Il Grido“ 1957. Einem Film, der mit einer Reise durch die Poebene Stück für Stück die seelische Verfassung der beiden Hauptdarsteller Aldo und Rosina beschreibt. Die Reise über das Land ist insofern eine Analogie zu der Reise nach Innen. In „Zabriskie Point“ greife 1969 diesen, mich faszinierende Ansatz, wieder auf. Es sind auch in beiden Fällen monotone Landschaften die Quelle und Spiegel im Bewusstsein der Darsteller bilden. Ich mag es nicht, Filmen dramaturgische Zwänge aufzubinden.

Dennoch sind es in den frühen Filmen physische Gewalt und später psychische Konflikte in Beziehungen die durchaus dramatisch wirken...

Im Laufe der Jahre hat mich das menschliche Drama, wie wir es überall in den Beziehungen zwischen den Menschen und besonders zwischen Mann und Frau beobachten können immer mehr in den Bann genommen. Kaum habe ich eine neue Geschichte im Kopf, fallen mir Varianten ein, die dann schließlich Material für einen ganz anderen Film mir bieten. Und schließlich – und das kann bereits beim Abdrehen sein – erscheinen mir die inneren Komponenten immer klarer. Mir ist schon klar, dass dabei kausale Verbindungen zerfallen, eine Erzählhierarchie durcheinander kommt. Aber ich will eigentlich gar nicht abbilden. Ich möchte vielmehr dem Zwang entfliehen, etwas darstellen zu müssen.

...was an den Skandal erinnert, den Sie mit Fellini in Cannes 1959 provozierten, als „L’avventura“ aufgeführt wurde?

Ja, hier geht es um Spielregeln zwischen den Menschen, die sich langsam verdichten. Ich habe mich eigentlich nie für konventionelle Erzählungen interessiert. Das Leben besteht schließlich auch aus Fragmenten – die uns intensiv in Erinnerung bleiben – und genauso aus großen Lücken. Eine Geschichte kann sich nur nach außen hin verlängern, wenn sie nicht abgeschlossen ist. Nur dann erhält sie eine Dimension außerhalb der narrativen Langeweile. Jetzt gerät sie in die Welt des Zuschauers.

Die Unsicherheit der Identität Ihrer Protagonisten in diesem Film haben Sie später in „Professione: Reporter“ mit einem Trick noch ein Stück weitergeführt...

Ja, dort ist der Bruch mit der Identität die Flucht in eine neue physische Identität.
Die Flucht ist ein durch und durch markantes Element menschlichen Repertoires. Sie kann zu einer neuen Existenz in einem veränderten Milieu führen. Oder – wenn der psychische Druck in der Auseinandersetzung mit dem Vergangenen überwiegt – zum Scheitern. Dann wirken die äußeren Ereignisse ebenfalls als Katalysator.

Einige Ihrer „folie à deux-Fluchten“ sind tiefsinnige Beschreibungen, die im Voranschreiten die Vergangenheit erkennen lassen. Dabei zeigt sich die Liebe gelegentlich als Träger eines erweiterten Bewusstseins, vor allem bei den Frauen?

Nun, die Nachkriegsjahre, besonders noch die 70er Jahre waren durch eine ungemein materialistische Lebenshaltung gekennzeichnet. Zugleich ist es die männliche Macht, die dabei immer stärker gewachsen ist. Starke Frauenpersönlichkeiten standen unter einem enormen Leidensdruck, einer derartigen Haltung gegenüber zu treten. Die Hässlichkeit der Fremdbestimmung steht im Gegensatz zu einer gelebten Wahrheit vieler Frauen. Die nach Geld und Prestige jagenden Männer  werden gelegentlich mit der Absurdität ihres Selbstbildes konfrontiert.

Wie sie wissen, vollzog sich in Italien die Entwicklung zur Industrienation recht langsam. Ein Druck sich zu emanzipieren ist gering und so bewegen sich die Frauen in jener Zeit zwischen der Anerkennung, die das alte Bild Ihnen entgegen brachte – das gewiss auch korrumpierte – und dem Verlangen nach Anerkennung.

... und nach Leidenschaft?

Leidenschaft ist wie ein Regenbogen. Sie entsteht aus dem Dunkeln, dem nicht Fassbaren, dem Atmosphärischen und leuchtet ganz plötzlich in allen Farben des Lebens auf. Auf ihrem Höhepunkt existiert keine andere Wirklichkeit. Aber sie dauert nicht an. Sie ist tragisch, absurd und zeitlich nicht greifbar – sie verblasst und verschwindet dort, von wo sie gekommen ist.

...wie bei einer Sonnenfinsternis?

(lacht)...Tonino Guerra bestand als Drehbuchautor auf den Titel des Films „L’eclisse“. Mir gefiel er nicht so sehr. Aber die Liebe läuft dem Licht nicht nur nach. Sie ist das Licht, das aus der Dunkelheit hervortritt.

Originalfassung komplett/ Autorisiert

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updated: octobre 2011 contact me