tourism & cultural anthropology

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Interview mit F.T. Gottwald, Tiefenökologe und Leiter der Schweisfurth Stiftung in München und Mitarbeiter beim „Denkwerk Zukunft“.  

L.R.: Gelingt es ihnen im Leben, Dinge die Sie für selbstverständlich halten, zu überdenken?
F.T.G.: Angesichts der vielen Bedrohungsszenarien, wie auch angesichts der vielfältigen Vorschläge, die anstehenden Zukunftsprobleme zu lösen, gibt es für mich nichts, das aus sich selbst heraus verständlich wäre. Alles ist von der Wurzel her zu befragen. Es kommt geradezu auf das tiefe Fragen in allen alltagsrelevanten Entscheidungen – Konsum, Verkehr, Mitarbeit, Freizeit, etc. – an.

Wie würden Sie einen Bewusstseinswandel beschreiben - welche Werte stellt die tiefe Ökologie dem materialistischen Weltbild gegenüber?
Ich arbeite beim „Denkwerk Zukunft“ in Bonn mit. Dieser Think Tank geht davon aus, dass die notwendigen Verhaltensänderungen einen nachhaltigen Bewusstseinswandel breiter Bevölkerungsschichten voraussetzen. Die Menschen müssen wieder erkennen, dass eine weitgehend auf materielle Wohlstandsmehrung fokussierte Kultur eine arme Kultur ist. Die Elemente jeder Kultur, wie Kunst, Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft oder bestimmte moralische Sicht- und Verhaltensweisen, befinden sich nicht mehr in dynamischer Balance. Diese Balance muss wieder hergestellt werden. Eine tiefe Ökologie legt Wert auf neues gesellschaftliches Miteinander (Generationenvertrag), gegenseitige Hilfe, Verantwortung und Zuneigung. Insgesamt muss unsere westliche Kultur wieder in ihrem ganzen Reichtum und ihrer großen Tiefe, Vielfalt und Schönheit erstehen. Das aber heißt: sie muss grundlegend erneuert werden. Nur dann wird sie wieder zukunftsfähig.

Wie lange können wir es uns noch leisten, einer destruktiven Industriekultur anzuhängen?
Wie mit zahlreichen Dokumenten belegt, sind die Grenzen des Wachstums erreicht. Wir leben weltweit an einer Reihe von Kipp-Punkten. Wir erkennen, dass die Inputkosten, Bestehendes einfach so weiter führen zu können und die Emissionen aller Lebensvollzüge im reichen Norden deutlich zu hoch sind.

Konstruktiv an der Industriekultur waren für lange Zeit die zivilisatorischen Errungenschaften der technischen Entwicklung. Etwa die weltweit erreichten Wohlstandseffekte, Bildung, Gesundheit etc. Jetzt aber überwiegen die destruktiven Anteile.

Womit Sie auf den Maßstab kommen…
Von dem Missstände aus erkannt werden können und gute Entwicklungen benannt werden können; z.B. gibt es eine Weiterentwicklung konstruktiver Industriekultur im Sinne ökonomischer Ethik bzw. die Verantwortung, die Unternehmen in Richtung verbesserter ökologischer und sozialer Standards heute nehmen (CSR), wächst. Das Bestreben der Wirtschaft, sich neu aufzustellen, ist so lebendig wie noch nie. Es gibt eine breite Einsicht, dass schnelles Lernen erfolgen muss, dass neue kulturelle Wertorientierungen auch ökonomisch weiterzuführen sind.

Was bedeutet das für die armen Länder?
Es geht hier ganz klar um einigermaßen erträgliche Lebendbedingungen für die größtmögliche Anzahl an Menschen jetzt und in Zukunft, die auch mit den Mitteln von Wissenschaft, Forschung, Bildung, Armutsbekämpfung, etc. zu schaffen sind.

Und die entwickelten Länder?
Diese müssen radikal umsteuern, was ihre Industrieprozesse betrifft. Umsteuern hin zu einer radikalen Ressourceneffizienz und zu einer radikalen Minderung des CO2-Anteils in Produktion und Konsum. Die Erwärmung von ca. 2 Grad, die wir uns tendenziell leisten können, ist bald erreicht.  Der Pro-Kopf-Output von 11 Tonnen CO2 in Deutschland ist deutlich zu hoch. Der Preis der Lebensmittel im reichen Norden, den der Rest der Menschheit bezahlt, ist sehr hoch. 3 – 4 Milliarden bezahlen dafür, dass einige hundert Millionen in besseren Lebensbedingungen existieren können.

Wie wollen Sie diese Exzesse überwinden?
Es geht um die schnelle Veränderung mentaler Muster der Menschen in den Industrieländern, die wirtschaftlich wie politisch und kulturell an einer nicht mehr tragfähigen Lebensweise hängen und anhaften. Ihr Weltbild ist dabei immer noch mechanistisch geprägt. Zum Beispiel glauben sie an ein „geo-engineering“, das mit Wetterbeeinflussung und anderen technischen Tricks arbeitet, um Klimafolgen auszubügeln. Man bringe einen Stoff in die Biosphäre ein und erzeuge damit Veränderungen. Dazu ist die Welt des Lebendigen jedoch viel zu komplex. Selbstorganisations- und Überlagerungsprozesse sind um vieles komplizierter und reagieren unvorhersehbar. 

Beim Bild des Menschen ist das genauso. Der „Mensch als Gipfel der Schöpfung“ ist ein höchst fragwürdiges Bild. Leben ist nicht allein auf den Menschen hin ausgerichtet, sondern auf „Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“, so Albert Schweitzer.

Vom anthropozentrischen Verständnis müsste es weg gehen über ein biozentrisches zu einem ökozentrischen Verstehen von In-Beziehung-Sein. Ein Verständnis des Menschen vom Eingebundensein in das Leben als Ganzes und in die Vielfalt der Wechselwirkungen im Oikos, dem gemeinsam zu bewirtschaftenden Haus, müsste vermittelt werden.

Und auf das wirtschaftliche Paradigma bezogen?
Was das Wirtschaftbild angeht, so ist dieses immer noch von dem Bild der unsichtbaren Hand geprägt, die reguliert, hilft und stützt, wenn man die Marktkräfte nur frei spielen lässt. Heute wissen wir, dass es klare Rahmenbedingungen und einen politisch verfassten Willen braucht zur Sicherung der Produktivität und der sozialen und ökologischen Standards. Also braucht es neue Bilder für ein Wirtschaften miteinander. Die Nobelpreisträgerin für Wirtschaft 2009, Elena Olstrom, setzt auf solche neuen Bilder, wenn es um Kooperation und ein Miteinander-Bewirtschaften der knappen Ressourcen geht. Ein neuer Blick auf die sogenannten Gemeingüter würde auch erlauben, Wirtschaften stärker im Paradigma der Kooperation und nicht der Konkurrenz zu sehen.

Es geht also um neue Bilder von Fortschritt?
Was wir bisher unter Fortschritt verstanden haben, sind kurzfristige und wenig nachhaltige Bilder von immer und immer mehr. Wenn Sie fragen, wie Exzesse überwunden werden, könnte man leicht zynisch antworten, das wird die Natur oder dieser Planet schon von sich aus regeln. Besser wäre jedoch ein pragmatischer und humaner Ansatz, der die eingangs genannten ökologischen und klimatischen Veränderungen ernst nimmt. Wir verfügen über alles notwendige Wissen, unseren Lebensstil zu ändern.

Es passt nicht in mein Wirtschaftsbild, davon auszugehen, dass die Global Player unbedingt mit der Logik des immer größer weiterlaufen müssen und dass das nicht geändert werden kann. Menschen und Unternehmen haben eine enorme Adaptionsfähigkeit.

Vertrauen Sie dabei auf das individuelle Bewusstsein der Menschen oder denken Sie, dass der Staat hier gefordert ist, einzugreifen?
Ich vertraue zum einen darauf, dass eine große Anzahl von Individuen bereits ein neues Bild vom Fortschritt lebt. Menschen, die das bisher dominante Glücksversprechen von materiellem Wohlstand in Frage stellen. Es sind neue Märkte am Entstehen, die zeigen, dass nachhaltige Bedürfnisbefriedigung und tragfähiger Konsum in der Ernährung, beim Bauen und der Energiesicherung wichtiger werden.

Interessant sind auch sich vernetzende Gemeinschaften mit neuen Visionen von Gesundheitsvorsorge, wie z.B. Artebana. Oder die vielen Wirtschaftsgenossenschaften und Gemeinschaften, die in der Land- und Ernährungswirtschaft mit dem Leitbild von Ernährungsgerechtigkeit, von Nähe und Souveränität arbeiten. Schnelles Lernen entsteht dort durch Gemeinschaftsbildung.

An nachfolgender Stelle stehen dann politische Bemühungen, die Agenden der UNO, die Millenniumsziele in der Bekämpfung von Armut und Hunger, für die Biodiversität und für ökologische Nachhaltigkeit.

Werden sie sich gegenüber der Wirtschaft durchsetzen?
Seit der Finanzkrise können wir beobachten, dass die Politik wieder mehr Kraft fasst und die Phase eines radikalisierenden Marktliberalismus überwunden ist. Jetzt haben also politische Kräfte wieder mehr Oberhand. Ich sehe hier ein Pendel, das zur Zeit in diese Richtung schlägt.

Schlägt das Pendel auch in Sachen Konsum nun in eine andere Richtung?
Hier fällt mir erneut das „Denkwerk Zukunft“ ein, das sich der Frage stellt, wie langfristige Lebensqualität erreicht wird. Oder der Frage, ob überhaupt ein konventionelles Wachstum in Zukunft noch möglich ist, zumal gewisse Umweltkosten internalisiert werden müssten. In unserem Stiftungsnetzwerk beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der Frage, wie ernährungskulturelle Impulse gegeben werden können, um mehr Zufriedenheit beim Essen und Trinken zu erreichen, anstatt immer mehr funktionalisierte industrielle Nahrung zu kaufen.

Das Betriebssystem des Kapitalismus ist also nicht am Ende?
Rückwärts geschaut hat dieses System eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit gehabt. Vorwärts geschaut, zeigt sich uns – als etwas idealisiertes Bild – ein Lernen mit- und voneinander, angesichts der weder durch Einzelakteure individuell, noch durch Global Player zu bewältigenden Probleme. Wir sitzen alle im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot, das an verschiedenen Stellen leck geschlagen ist, wo es nun angezeigt ist, dass alle ihren Beitrag leisten, klein wie groß, damit die größtmögliche Zahl von Passagieren dort ankommt, wo für die meisten auch Neuland sein wird.

Sie sprechen in einer Schrift davon, dass ein großes Lernen mit und voneinander ansteht?
Ja, ich nutze gern Konzepte kollektiven Lernens und von einer Kultur der Kooperation. Dabei sind wir als Menschheit in einem Phasenübergang auf einen neuen, noch nicht bekannten Lebensstil hin. Die Lebensbedingungen haben sich radikal verändert und es ist gut, einfach zu akzeptieren, dass wir längst mit einem Fuß in diesem neuen Lebensstil sind. Wenn wir uns also kollektiv darum kümmern, neue Werte zu generieren, finden wir eine befriedigende Antwort. Die Alternative, also Lernverweigerung, wäre kollektiver Selbstmord.

Das Raumschiff Erde verfügt über alle denkbaren technischen Lösungen, aber auch über ausreichend kulturelles Rüstzeug?
Viele technische Lösung sind verfügbar, soziales Wissen zu Erfolgsfaktoren dese Kooperierens ist auch zur Hand – wir sind, kollektiv betrachtet, recht gut ausgestattet, um die nachhaltige Bewirtschaftung des gemeinsamen Hauses Erde gut umzusetzen. Auch die globalen Partnerschaften, also eines der Millenniumsziele, gehören dazu und helfen, Bedingungen zu schaffen, so dass Städte und ländlicher Raum lebenswerter werden. Wo Werte also gelebt werden und langfristig Bestand haben, wie Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Lebensstile.

Werden diese Vielfalt und das daraus kommende Wissen wirklich ausreichend genutzt?
Ja! Werte, die z.B. in Kreislaufwirtschaften stecken, werden überall auf der Welt nach vorne geschoben, Regionalität spielt eine neue Rolle, eine neue Innerlichkeit oder ein neues Verständnis des Selbst und der Entwicklung des Menschen. Da ist in den letzten fünfzig Jahren viel entstanden.

Was bedeutet das für die Individuen?
Es gibt das intensive Bemühen von immer mehr Menschen, nach Sinn und Sinnhaftigkeit zu fragen. Etwa durch „psychonautische Aktivitäten“, d.h. das Selbst als Experimentierraum zu entdecken und der Frage zu folgen, wie man sich individuell oder in Gemeinschaft entwickeln kann. So führt uns die transpersonale Psychologie zu völlig neuen Landkarten der menschlichen Psyche und eröffnet einen tragfähigen Lebensstil.

Oder zu neuen ethischen Auffassungen?
Ja, im Sinne höherer Integrität und höherer Authentizität, die erstrebenswert wären. Eine neue Sensibilität entsteht für ein Ethos der Achtsamkeit, des Mitgefühls und des Gebens, die besonders von der tiefen Ökologie her gepflegt und kommuniziert wird.

Und somit eine stärkere Identifikation mit dem Schicksal des Planeten erreichen hilft?
Auch das. Es ist klar, dass das Schicksal des Planeten auch das Schicksal jedes einzelnen ist. Es braucht neue Maßstäbe für Sinn und Glück, einen Global Happiness Index z.B. Denn gerade wenn einem schicksalhaft etwas widerfährt – sollte es im Sinne eines guten Geschicks und nicht eines Missgeschicks gedeutet werden können. Dann entstehen neue Spielräume für einen besseren Umgang mit dem Planeten Erde, die motivational positiv besetzt sind.

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updated: octobre 2011 contact me