"Ich möchte Euch dorthin bringen, woran Ihr gewöhnlich nicht denkt.“ |
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Die
Welt des Poeten und Drehbuchautoren Tonino Guerra (1993) Der
weit über die Marken hinaus in Italien vor allem als Drehbuchautor von
Fellini bekannte Künstler hat mit Freunden im Tal der Marecchia
„poetische Orte“ geschaffen. Dieses sind Kunstwerke im Oratorium in
der Via dei Fossi, sowie im öffentlichen Raum seiner Heimatstadt
Pennabili; etwa der frei zugängliche „Garten der vergessenen Früchte“
und weitere Kunst-Orte im Marecchia-Tal. Was
verstehen Sie unter den „Pfaden in die Vergangenheit“? T.G.:
Wer künstlerisch tätig ist, gräbt mit den Händen in der Vergangenheit.
Er trägt die Kindheit neben sich. Ich denke an das Meer. Die ersten
Begegnungen mit der Natur. Es waren für mich Momente, in denen ich die
Geburt der Welt erlebt habe – Momente von Ursprünglichkeit. Wir fuhren
gelegentlich ans Meer nach Rimini; von meinem Geburtsort Sant’Arcangelo
sind das 10 km. Es waren die größten Entfernungen, die ich mir
vorstellen konnte. Die Zeit der sicheren Horizonte. Heute zählen sich
Kilometer wie Zentimeter. Ein Gefüge der Übersichtlichkeit und
Menschlichkeit umgab uns Kinder. Ein
Gefüge, dessen Verbindung das Erwachsensein abbricht? T.G.:
Wir trennen uns allzu heftig von unseren Wurzeln. Im gleichen Moment
leugnen wir unsere Ideale, die eigentlich aus unseren Wurzeln entstehen.
Wir kennen nicht mehr unsere Träume – können sie somit nicht einmal
mehr gewahr werden lassen. Dort, wo wir ihnen vertrauen sollen, haben wir
sie verjagt und wo sie hervortreten, werden sie nicht beachtet. Wir
bewegen uns ein wenig auf brüchigem Grund. Sie
haben das Marecchia-Tal als Ort Ihrer „menschlichen Ökologie“ gewählt? T.G.:
Es geht nicht um das Marecchia-Tal allein. Vielmehr um einen Ort, an dem
ich und meine Freunde eine exemplarische Situation für einen neuen Dialog
zwischen Mensch und Natur schaffen wollen. Der Mensch soll sich begegnen,
seiner selbst bewusst werden, wie der Fragilität und Einzigartigkeit
unserer Natur. Die menschliche Unachtsamkeit enthebt uns vieler nützlicher
Erfahrungen. Stattdessen glaubt der Mensch mit seinem bereits
verschmutzten Gewissen, Herr allen Geschehens zu sein. Er ist sich nicht
bewusst, eine uralte Welt zu zerstören. Er verletzt zunehmend das
Gleichgewicht der Natur. Flüsse und Wälder sterben. Hundertjährige Bäume
werden gefällt, Berge zerfressen. Der industrielle Fortschritt zerstört
das Gleichgewicht unseres Planeten. Das Opfer ist der Mensch selbst. Was
erfahren die Besucher des Marecchia-Tals und der vielen alten Orte der
Region, wo Sie arbeiten? T.G.:
Es finden sich ganz verschiedene Vorstellungsbilder an den poetischen
Orten. Bilder, die dem Betrachter erlauben, aus den alltäglichen
Erfahrungen, aus den Momenten begrenzter Aufmerksamkeit und Gleichgültigkeit
auszusteigen. Man wandert – erlebt die Schönheit der Natur mit einem
Gefühl der Verbundenheit. Unsere Bilder beziehen sich auf Potenziale der
Landschaft. Auf alles, was heute Gelassenheit zum Nachdenken eröffnet. Stehen
für Sie das Wort und das Bild als Vehikel des künstlerischen Ausdrucks
auf gleicher Ebene? T.G.:
Mich begleiten die Worte bis zu dem Moment, in dem das Bild die Oberhand
gewinnt. Aber auch anders herum … wesentlich ist die assoziative Ebene.
Und die Phantasie des Betrachters. Ich kann die Schafe nur an die Tränke
führen, den Blick auf etwas aufmerksam machen. Das
erinnert an ein Stück Prosa, das Sie geschrieben haben: Das Drama der
Fliege. Wir sehen riesige Sachen, aber das Kleine, Nächstliegende? T.G.:
In einer von technischen Erfindungen und von heftigen Eindrücken geprägten
Zeit finden unsere Augen und Gedanken keine Aufmerksamkeit mehr für die
kleinen und unbedeutenden Dinge. Die großen Eindrücke, die uns überall
begegnen, auf der Straße, auf dem Land, in Zeitung und Fernsehen, sind
zum Maß unseres Denkens geworden. Das Kreatürliche findet keine
funktionale Berechtigung und somit keine Aufmerksamkeit mehr. Unsere
Gehirne werden mit blinden Objekten des Konsumismus gefüllt. Wir haben
aufgehört zu staunen. Die
Poesie des Augenblicks verbindet Sie besonders mit Frederico Fellini –
wie war Ihr Verhältnis? T.G.:
Wir haben viele Filme zusammengemacht. In „Amarcord“, „E la Nave va“
und „Ginger e Fred“ führte er mich als Mitautor an und machte damit
unsere wechselseitige Wertschätzung und Zusammenarbeit öffentlich
deutlich. „Amarcord“ ist ein Film unserer gemeinsamen Erinnerung.
Fellini wurde 1920 geboren, im gleichen Jahr wie ich. Er in Rimini, und
ich im 12 km entfernten Sant’Arcangelo. Die Kindheit spielt eine große
Rolle in diesem Film. Eine Zeit der Sehnsucht und Träume offenbarte sich
hier. Unser Impuls: Gewisse Erinnerungen sind verschüttet, aber nicht
begraben. Wir können sie aus der Tiefe unserer Seele befreien. Ein
Verzeichnis der Kunstwerke und Orte liegt in Pennabili aus, siehe auch www.museialtavalmarecchia.it.
Siehe auch L. Redecker, Dumont „Mittelitalien“ (2008)
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updated: octobre 2011 | contact me |