Interview mit Ervin
Laszlo
Wie lange wird der blaue Planet uns
unterstützen? Werden wir sein fragiles Gleichgewicht zerstören, oder
wird es uns gelingen, die Schäden zu beheben, die wir bereits angerichtet
haben? Werden wir uns als eine mit sozialem und kulturellem Bewusstsein
ausgestattete Spezies weiterentwickeln – oder werden wir wie die
Dinosaurier aussterben? Die Systemforschung, so Ervin Laszlo, bietet hier
Hilfestellung und führt zu einem erweiterten Verständnis der aktuellen
Krise. Komplexe Systeme entwickeln sich nicht langsam, Stück für Stück:
sie sind in starkem Maß nicht-linear. Sie entwickeln sich Schritt für
Schritt nur bis zu einem gewissen Punkt, erreichen eine gewisse
Stabilität um dann zu zerbrechen oder sich weiter zu spalten. Das trifft
sowohl auf die Evolution der Sterne – an einem bestimmten Punkt
explodieren sie zu einer neuen Gestalt und entwickeln das Material einer
neuen Menge von Sternen, oder sie verbrennen in einem schwarzen Loch –
als auch auf lebende Arten zu. Letztere sind, wie ganze Zivilisationen,
früher oder später mit der Auflösung konfrontiert: sie entwickeln sich
weiter oder gehen unter. Diese kritischen „Kipp-Punkte“, so der
Systemphilosoph, kennzeichnen Macroshifts.
Lutz Redecker: Sie behaupten, die
gegenwärtige Zivilisation befindet sich an einem kritischen „Kipp-Punkt“?
Ervin Laszlo: Obwohl wir über das größte Wissen in der
menschlichen Evolution verfügen, stehen wir, systemisch betracht, kurz
vor einem entscheidenden Kipp-Punkt. Ein linearer Prozess, wie etwa die
Entwicklungen am Kapitalmarkt, kann ausbrechen und sich zu einem
nicht-linearen Prozess in allen Lebensbereichen entwickeln. Die Geschichte
der großen Kulturen zeigt, dass an kritischen Punkten eine Wahl zwischen
Quantensprung und Untergang stets bestanden habe.
Welche Wege führen uns in eine
friedvollere Welt?
Internationale Vertrauenskonflikte, ethnische Konflikte,
Unterdrückung und wirtschaftliche sowie geschlechtsspezifische
Ungleichheit können nur auf höheren Vertrauensebenen gelöst werden. Wir
brauchen ein auf Konsens basierendes und global koordiniertes
öko-soziales Marktsystem, in dem für alle Teile der Weltgemeinschaft
dringend benötigte natürliche Ressourcen für Gesundheit und
Wohlbefinden erhältlich sind.
Wie sieht denn ein auf Konsens
basierendes und global koordiniertes öko-soziales Marktsystem aus?
Es führt weg von einer ego- oder Nationen-zentrierten Ausrichtung zu
einer breiteren Kultur- und Planeten- zentrierten Ausrichtung bzw. einer
Heterarchie.
Lokale, nationale und globale
ökonomische Entscheidungsträger entscheiden sich nun, Strategien
einzusetzen, die Wachstum und Profitorientierung zugunsten kooperativer,
sozialer und ökologischer Verantwortung stellen.Wir können heute
überall beobachten, dass immer mehr Menschen aus unterschiedlichen
Kulturen und mit andersartigen Lebensstilen zusammenkommen, um Aufgaben
gemeinsam zu lösen. Die Vorstellung, dass Individuen und kleine Gruppen
entscheidende Vermittler einer Transformation hin zu einer mehr
friedvollen und nachhaltigen Welt sein können, bewegt immer mehr
Menschen.
Sie behaupten, dass unzureichende
Kommunikation das Grundübel unserer Zeit ist?
Das vollkommene Potenzial unserer menschlichen Kommunikation entfaltet
sich erst, wenn die Beteiligten die extrem subtilen Verbindungsstränge
erkennen, die uns miteinander und mit der Natur verknüpfen. Diese sind
ein wichtiger Faktor in unserer Evolution; sie führen uns zu der
erwähnten Heterarchie, d.h. einer vielschichtigen globalen Koordination,
die lokale, regionale und nationale Belange integriert. Bereits im alten
Testament erfahren wir, dass Menschen ohne eine Vision zugrunde gehen.
Heute ist eine Vision notwendig, die über die wirtschaftliche
Globalisierung hinaus den Weg zu einer friedlichen und nachhaltigen
globalen Zivilisation ebnet.
Seit einigen Jahren fordern Sie
eine unbedingte Richtungsänderung. Was läuft falsch?
Wir sind auf einem falschen Weg. Wir müssen ihn ändern. Wir befinden
uns, wenn wir so weiter machen, in einer unhaltbaren Situation. Wir sind
seit neolithischer Zeit auf einem Weg, der insbesondere in den letzten 20
Jahren gefährlich geworden ist. Wir nehmen die Natur nicht als einen
Rahmen in dem Existenz geschrieben wird, sondern versuchen die Natur
unseren Bedürfnissen anzupassen. Früher war das eine lokale Umgebung,
heute ist es eine globale Umgebung.
Führt der
Laissez-faire-Kapitalismus ins Chaos?
Die marktgerechte Anwendung des Laissez-faire-Kapitalismus setzt eine
Gleichheit voraus, die wir nie erreicht haben und nicht erreichen werden.
Das Spielfeld ist eben nicht gleichmäßig, sondern besteht aus riesigen
Unterschieden zwischen Völkern und Individuen, zwischen Arm und Reich,
Peripherie und Machtzentren. Heute konsumieren die zwanzig Prozent der
Industrienationen neunzig Mal so viel wie die zwanzig Prozent der ärmsten
Nationen. Es werden jene an den Rand gedrückt, die auf dem Markt nicht
konkurrieren können. Würde fortan mit diesem Maß gemessen, wäre die
Kapazität des Planeten, für die Bedürfnisse aller zu sorgen,
überschritten. Außerdem arbeitet der Markt zu sehr auf unmittelbare und
nicht langfristige Ergebnisse. Ein Problem ist auch die Kurzsichtigkeit
der Politik. Wer gewählt wird, muss Maßnahmen ergreifen, die der
kurzfristigen Beliebtheit dienen. Das ist meistens nicht die
kulturkreative Richtung, d.h. der Weg in eine friedfertige und nachhaltige
Zukunft.
Wie können die
Entscheidungsträger dazu bewegt werden, mittel- und langfristig
nachhaltige Entscheidungen zu treffen?
Es hängt nicht nur von den Entscheidungsträgern ab. Es soll nicht
von oben geleitet werden. Das wäre Dirigismus. Das muss mehr von unten
kommen. Neue Wertvorstellungen, neue Verantwortung und die Einsicht, dass
wir nur diese Welt haben und hier partnerschaftlich auskommen müssen.
Also so zu handeln, dass anderen Spielraum zum Handeln gegeben ist. Es
zeigt sich immer mehr, dass die Menschen sich dieser Verantwortung bewusst
werden und fragen, was sie tun können, um nicht weiter die Richtung von
Gewalt, Krieg und Ausbeutung gehen zu müssen. Gemeint ist ein Wandel von
äußerer zu innerer Autorität – einem Übergang von äußeren Quellen
der Autorität zu inneren Quellen des Wissens. … und Frieden erhalten
können? Dauerhafter Frieden verlangt nach Mitgefühl und Achtung vor der
Natur.
Worauf setzen Sie Hoffnung?
Etwa in einen verantwortungsvollen Konsum und die Einsicht, dass ein
„gutes Leben“ nicht die Anhäufung der größtmöglichen Menge
materieller Güter bedeutet, sondern bedeutungsvolle Beziehungen,
Zuwendung zu anderen und zur Natur. Freuden und Leistungen bemessen sich
nun an der Qualität des Vergnügens. Die Frage ist, wie wir Geld
einsetzen?
Lebensqualität und Lebensstandard
sind zwei unterschiedliche Dinge. Heute scheint es immer mehr vermögenden
Menschen darauf anzukommen, mit ihrem Kapital auch gesellschaftliche
Veränderungen zu unterstützen. Etwa wenn es um „noetische“
Technologien geht, also Technologien, die zur Kreativität anreizen und
Gemeinschaftsbildung anregen. Als ich bei der UNO in New York Ende der
70er Jahre gearbeitet habe, wurde bereits erstmals ein Wasserproblem im
neuen Jahrtausend prognostisiert. Inzwischen wissen wir, dass ab 2025,
wenn keine entsprechenden Maßnahmen getroffen werden, bereits 5
Milliarden Menschen davon betroffen sein werden. Hier sind differenzierte
Problemlösungswege gefragt.
Sie sprechen vom Mythos des Darwinismus?
Richtig. Es gibt einen marktwirtschaftlichen und politischen
Darwinismus, der überwunden werden muss. Wird der gnadenlose Kampf von
schwachen und stärkeren Konkurrenten immer weitergeführt, wird eine
immer breitere Schere zwischen Arm und konzentriertem Reichtum geschaffen.
Für viele geht es um einen Überlebenskampf, während andere gegen den
Markt verstoßen, indem sie mit diesen Teilen nicht nachhaltig
kommunizieren. Nun entstehen Krebsgeschwüre, die nach innen und nach
außen schädlich wirken und das ganze System polarisieren.
Dennoch wird auf den „Trickle-down-Effekt“
gesetzt, mit dem technologische Innovationen verbreitet werden?
Die steigende globale Armut deutet darauf hin, dass die Wirklichkeit
anders aussieht und hier Abhilfe geschaffen werden muss.
Sie messen einer wachsenden
Spiritualität auf Graswurzelebene eine große Bedeutung zu?
Ja. Sie ist Teil einer – ich nenne sie - intensiven Evolution, die
sich durch Verbindung, Kommunikation und Bewusstsein auszeichnet, während
das überlebte Modell der extensiven Evolution auf Eroberung,
Kolonisierung und Konsum basierte und dafür seine Technologien einsetzte.
Hier entstand der Mythos des Industriezeitalters, dass Individuen
untereinander und von der Natur getrennt seien. Das Grundziel dieser
überlebten Auffassung ist die Ausbreitung menschlicher Macht über immer
größere Gebiete durch Eroberungen; durch Eroberung von Natur und die
Eroberung von anderen Völkern. Im zwanzigsten Jahrhundert gelang dies
besonders mit wirtschaftlichen Mitteln. Globale Konzerne und reiche
Staaten diktierten dabei Werte, ohne jedoch Rücksicht auf ökologische
und soziale Folgewirkungen zu nehmen. … und die Menschen dem Markt
anpassen? Die heutige Wissenschaft – insbesondere die Physik –
widerlegt die Annahme der Isolation des Individuums. Jedes Quantum ist auf
unterschwellige Weise mit jedem anderen Quantum im Universum verbunden,
jeder Organismus in der Biosphäre mit anderen Organismen. Intensive
Evolution fördert die Kommunikation zwischen den Menschen, weil sie
verbindend wirkt und genau diese Verbundenheit fühlen lässt. Nun dienen
ausgefeilte Technologien den übergeordneten Zielen der Verbindung,
Kommunikation und Bewusstwerdung, d.h. sie werden konkret den
langfristigen Bedürfnissen angepasst. Wie können die Wunden der Völker,
die in einer Schmerz- und Gewaltgeschichte miteinander verstrickt sind und
sich in immer wiederkehrenden Opferszenarien Verletzungen beibringen,
heilen?
Letzten Endes hängt das von den
einzelnen Individuen ab. Wenn man unter Umständen lebt, die sehr
ungerecht und hoffnungslos sind, ist das natürlich nicht einfach, sich
weiterzuentwickeln und zu vergessen und zersetzende Gefühle zu
überwinden. Dennoch muss Heilung von innen kommen.
Was heißt das im Kontext des
Konflikts mit der islamischen Kultur?
Wenn man jemanden tötet um Erfolg zu haben, wird man keinen Erfolg
haben, da es auch einen Rückschlag geben wird. Man muss andere Wege
gehen. Man muss sich fragen, warum sind Leute dazu gebracht, dass sie
Selbstmordattentäter sind. Diese Annahme, dass die Leute einfach
verrückt sind, ist lächerlich. Man muss hören und die Frage stellen,
warum jemand bereit ist sein eigenes Leben zu opfern. Dialog schaffen.
Verstehen, was im Fremden vorgeht. Wir können diese Menschen heute in
einer globalisierten Welt nicht mehr so betrachten, als hätten sie nicht
mehr mit uns zu tun.
Also ein Problem der
Kommunikation?
Ja. Wir sind, systemisch betrachtet, in ständiger Kommunikation. Wenn
nun ein Teil von einem System die Kommunikation abbricht, dann bedeutet
das in einem Organismus Krebs. Krebs entsteht, wenn in einem Organismus
eine Gruppe von Zellen mit den restlichen nicht mehr kommuniziert. Sie
vermehrt sich selbst und geht nicht mehr auf die anderen ein. Auf
völkerrechtlicher Ebene passiert das, wenn Nationen nur noch im eigenen
Interesse handeln und man sich fragen muss, ob sie fortwährend nur noch
sich selbst zuhören oder auch anderen zuhören. Sozialisieren sie
sich nicht, werden sie langsam das ganze System, in dem sie leben,
vernichten.
… was die anderen Teile des
Systems zu verhindern suchen?
Das bedeutet, dass die anderen Teilnehmer nun besonderes auf die Kohärenz
der Kommunikation mit allen Teilen des Systems achten müssen. Mit
Kohärenz ist nicht ein technischer Mechanismus gemeint. Ein organisch
kohärentes System ist anders als ein mechanisch kohärenter Mechanismus
nicht in seine Bestandteile zerlegbar. Nach der Theorie der Biophysikerin
Mae-Wan Ho ist das organisch kohärente System dynamisch und fließend.
Ihre Myriaden sind selbstmotivierend, selbstorganisierend und spontan. Sie
umfassen alle Ebenen gleichzeitig. Und so gibt es keine kontrollierenden
und kontrollierten Teile. Eine kontinuierliche Kommunikation sorgt für
alle Anpassungen und Veränderungen und erhält so das ganze System. Wir
sprechen heute davon, dass Kohärenz das ganze Reich des Lebendigen
kennzeichnet vom kleinsten Element bis zur Biosphäre.
Und daher die Vernachlässigung
gewisser Ebenen oder Regionen dem System als Ganzen schadet?
Soziale und wirtschaftliche Mängel in weiten Teilen der Welt,
fehlende Bildung und Information erzeugen Enttäuschung und Unmut. In der
Art und Weise wie junge Menschen in vielen Teilen der Welt den Kampf um
das materielle Überleben erfahren, erleben sie Enttäuschung und Unmut.
Dies führt wiederum zu Fehlverhalten, Frustration und blockiert
Entwicklung. Eine Evolution des Geistes und des Bewusstseins bedeutet,
dass diejenigen, die die Wahl haben diesen Teufelskreis zu durchbrechen,
und somit den Versuch unternehmen und über ihre eigenen Bedürfnisse
hinaus handeln.
Womit sie das Problem auf die
Ebene des Bewusstseins rücken?
Wenn wir überleben wollen, müssen wir von einem rein mechanistischen
und reduktionistischen Weltethos auf einen ganzheitlich Ethos übergehen.
Hier wird dann nicht isoliert, sondern kontinuierlich integriert.
Kulturen, Menschen und Natur arbeiten hier nicht gegeneinander, sondern
miteinander. Als Mitglieder der Menschengemeinschaft sollten wir uns zu
einer Kultur der Gewaltlosigkeit, der Solidarität und des gegenseitigen
Verständnisses unter den Menschen und Völkern bekennen.
Was auch einen unterschiedlichen
wissenschaftlichen Austausch erfordert?
Ich sehe nicht, wieso man zwischen den Natur- und Humanwissenschaften
so eine absolute Grenze ziehen soll. In der Systemtheorie bezeichnen wir
unterschiedliche Stufen von Komplexität und Kontinuität. Der Planet ist
ein integriertes System, das eine integrierende Sichtweise erfordert. Die
Dinge bedingen sich, ohne dass es unmittelbar sichtbar wäre.
Wie Sie auch durch zahlreiche
Initiativen zu vermitteln suchen?
Mit dem Worldshiftnetwork und dem Global Marshallplan verbindet sich
die Forderung, den Menschen als kostbarste Ressource des Planeten zu
erkennen. Wir fordern eine planetarische Ethik mit einem neuen Grundsatz:
„Lebe in einer Weise, die es allen Anderen ermöglicht, ebenfalls zu
leben“. Wir wollen daher eine „Kultur der Kommunikation“ vermitteln,
die den Menschen besser mit sich selbst und den Mechanismen seiner
Wahrnehmung verbindet. Biographie
Ervin Laszlo,
Mitbegründer des Club of Rome, Begründer des Club of Budapest, wurde mit
sieben Jahren unter der Obhut des Dirigenten Ernst von Dohnányi in die
Franz List Akademie aufgenommen. Nach einer frühen Karriere als
Konzertpianist – mit 15 erhielt er den großen Preis des Internationalen
Musikwettbewerbs von Genf – widmete er sich der Philosophie und
Zukunftsforschung. Er dozierte in Yale und Princeton und ereichte
internationale Anerkennung in der Systemphilosophie. 1977 publizierte er
„Ziele für die Menschheit“, der dritte Bericht des Club of Rome und
führte dann als Programmdirektor für sieben Jahre bei den Vereinten
Nationen in New York Forschungen zur internationalen Wirtschaftsordnung
und Kooperation durch. Ende der 90er Jahre war er an der Gründung der
Global Marshall Plan-Initiative beteiligt. Seit Mitte der neunziger Jahre
sind zahlreiche Publikationen im Bereich der Systemphilosophie und
Zukunftsforschung erschienen u.a. „The Creative Cosmos“ (1993), „The
Interconnected Universe“ (1995), „The Whispering Pond“(1996), „Third
Millenium: The Challenge and the Vision“ (1998). Zuletzt erschienen sind
„Coherence in Cosmos and Consciousness“, „The Connectivity
Hypothesis“ und „Quantum Shift in the global brain“ (2008) . Auf
Deutsch erschien zuletzt „Macroshift – Die globale Herausforderung“
bei Insel-Suhrkamp. „Der Quantensprung im globalen Gedächtnis“ (Via
Nova 2010)